Samstag, 13. Juni 2020

Gespaltener Abszess

30.5.
Huch, ich bin auf einer Demo! Bzw.: Wir sind zufällig am Rotkreuzplatz, als die Kundgebung der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend startet, unter anderem „gegen Verschwörungstheorien“. 
Einer alten Dame ist der inhaltliche Ansatz völlig egal. „Ja derfen die denn des?“ fragt sie ungehalten eine Polizistin. „Ist angemeldet, sonst würden wir dazwischen gehen!“ Kopfschüttelnd und „mei o mei“ stöhnend wackelt die Seniorin davon. 
Noch zwei weitere Vertreterinnen der Denkrichtung „Best-Agers gegen das Demonstrationsrecht“  beschweren sich, auch darüber, dass die Aktivisten zu eng beieinander stünden. 
Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Minneapolis widmet sich ein Redner aus Afrika dem Problem rassistisch motivierter Polizeigewalt. Er spricht Englisch mit starkem Akzent, so dass ich zunächst rätsele, ob ihm überhaupt einer der Anwesenden folgen kann. Was ich schließlich verstehe, ist der Satz: „Policemen are bastards, idiots, motherfuckers“. Ich stehe direkt neben einem Polizisten, der interessiert zuzuhören scheint, und über dessen Mundschutz rollende Augen erkennbar sind, und als er sieht, dass ich ihn beim Zuhören beobachte, muss er schmunzeln. Glaube ich.
Die Kundgebung hat knapp dreißig Teilnehmer und wird von kaum weniger Polizisten „eingekesselt“, wie ein anderer Redner rügt. 
Vielleicht hätte ich die alten Damen beruhigen können, indem ich ihnen von der neuesten Ausgabe des Drosten-Podcasts erzählt hätte: Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass der übergroße Anteil aller Ansteckungen drinnen stattfindet. Das heißt: Jetzt im Sommer sollte das Leben nach draußen verlagert werden, und über Mindestabstand kann an der frischen Luft getrost neu nachgedacht werden. Vielleicht sind 1,50 m übertrieben, meint Drosten, vielleicht reicht sogar der ganz normale Abstand, in dem man sich zum prä-pandemischen Dinner im Gartenlokal traf, früher, als noch alles aus Holz war. 
Es ist ja nicht so, dass erst die Corona-Krise Politiker zu radikalen Maßnahmen zwingt: In einer Churchill-Biografie lese ich abends über die Niederlage Frankreichs 1940. Ein Teil der französischen Flotte liegt im Hafen von Mers-el-Kébir in Algerien. Um zu verhindern, dass Deutschland sich der Schiffe bemächtigt, lässt Churchill sie beschießen. Die Kriegsschiffe sind auf den Angriff des Bündnispartners nicht vorbereitet und sinken mit 1297 Mann Besatzung. „Die unnatürlichste und qualvollste Entscheidung, die ich je zu treffen hatte“, wie Churchill in seinen Kriegsmemoiren schrieb.
Warum schreibe ich mir das alles auf? Ich weiß es nicht. Aber aus den Sozialwissenschaften kommt die „Grounded Theory“, Chicago, 60er Jahre. Ganz verkürzt: Man beginnt einfach mal mit der Forschung, ohne zu wissen, was man da eigentlich erforschen will. Mein ganzes Leben ist „Grounded Theory“. Schau ma amoi, dann seng ma scho.
Ach ja, bevor ich’s vergesse: Ich habe einen Auftritt, am 13.6. in der Theaterklause in Brandenburg an der Havel. 17 Uhr draußen vorm Gebäude. Mit Jürgilein vom „Institut für Putzpoesie“. Wir dürfen 50 Karten verkaufen. Oder doch 100? (Man kommt ja nicht hinterher). Egal. Ich bin wieder im Business und freue mich wie ein Haselnusscremtortenesel!

31.5.
Gleich vier Studien sollen in Baden-Württemberg klären, ob es vertretbar ist, Kinder wieder in Bildungseinrichtungen zu schicken. Ministerpräsident Kretschmann hat sich zwar schon festgelegt, aber die Ergebnisse dieser Forschungen sind bis auf weiteres nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. 
Was passiert eigentlich, wenn sich am Ende herausstellt, dass Kinder doch ein größeres Infektionsrisiko darstellen als erhofft? Belässt man es dann bis zur Impfstoffeinführung beim Not- bzw. Online-Unterricht? 
Mittlerweile ist Deutschland daran gewöhnt, dass nichts gegen den Rat der Epidemiologen entschieden wird. 
Auch, um den verschreckten Lehrern ihre Angst vor Traditionsunterricht mit Schülerkontakt zu nehmen, wird es notwendig sein, mindestens eine Studie zu präsentieren, die im Titel das Wort „Entwarnung“ trägt. 
Ich hätte vorsichtshalber noch ein paar weitere Studien in Auftrag gegeben - sicher ist sicher. 
Wir verbringen den Nachmittag in Herrsching. Am Ammersee liegen Sonnenanbeter; sie haben sich teilweise entkleidet, tragen aber Mundschutz. Wenn denn am Ende des Sommers alles gebräunt ist, außer Bikinipartie und das Trapez im Gesicht, ist ein neues Schönheitsideal kreiert. „Geule blanche“, „A whiter shade of pale“, „Corona-Strandbart“ - mal sehen, welcher Name sich für diese Mode durchsetzen wird. 
In einem Kloster in der Nähe hat die Leitung versucht, für die Mönche Kurzarbeit zu beantragen. Wurde zwar abgelehnt, aber meine Freude über diesen Vorgang will und will nicht weichen. Ein Mönch in Kurzarbeit: Betet der seltener? Nur einmal statt fünfmal täglich? Und was macht er mit dem plötzlichen Freizeit-Überhang? Wandern, wundern, Weißbier trinken? Köstlich! 
Teresa und ich sind schon einen Schritt weiter und treiben unsere Rückkehr ins Berufsleben voran. Am 19. Juni treten Bernhard Hoëcker und ich mit „Gute Frage“ auf dem Car Watch Festival in Viernheim auf. Autokino ist ja für Humoristen, was der Strandbart für die Sonnenanbeter ist: Le dernier cri. Muss ich mal gemacht haben, alleine schon um zum Publikum sagen zu können: „Du guckst wie ein Auto!“
Heute ist erstmal Pfingsten, das Fest der Ekstase. Teresa darf singen, morgens in St. Achaz (Sendling), abends nochmal in der großen Kirche in Solln. Allzu gerne würde ich dabei sein, auch, um zu gucken, wie so‘ne Messe in diesen Tagen abläuft - aber einerseits hätte ich mich dafür wahrscheinlich schon vor Tagen anmelden müssen, und andererseits ist es eh mein Job, die Kinder während der Eucharistie um den Pudding zu schieben. Merke: Für Väter (und Mönche) jibbet keine Kurzarbeit.
Frohe Pfingsten allerseits!

1.6.
Ich schaue mir auf YouTube „America the Beautiful“ an, gesungen von Ray Charles im Oktober 2001 bei den World Series. Volles Stadion, glühende Liebe. Der elfte September liegt damals kaum einen Monat zurück, und in den stechenden Schmerz mischt sich eine diffuse Hoffnung, dass Amerika, dieser Quell der Kraft und der Neugier, seine inneren Konflikte überwinden kann. Als der Film vorbei ist, habe ich feuchte Augen.
Die Hoffnung trog, all seine Kraft hat Amerika nunmehr gegen sich selbst gerichtet. In Trump bündeln sich die schlechtesten Eigenschaften: Überheblichkeit, Maßlosigkeit... ach, muss ich nicht aufzählen, weiß ja jeder. Vor allem ist er auch völlig unfähig zum Brückenbau. Nein, er WILL gar keine Brücken bauen; lieber lässt er sein Land im Bürgerkrieg versinken und gewinnt die Wahl als umgekehrt. 
Aber: Den Unwillen, miteinander zu reden, gibt es auch bei uns, und er nimmt zu. Hängt vielleicht mit den Filterblasen zusammen, dass Soziotope sich immer mehr voneinander entfernen, immer abschätziger übereinander herziehen. Andere Meinungen werden geblockt, Fall erledigt. 
Und dann ist da der Rassismus. Auch den gibt es bei uns, er ist alltäglich; buchstäblich jedes Kind mit schwarzer Hautfarbe erlebt auch bei uns Hänseleien; Türken in meinem Freundeskreis berichten vom Problem, mit ihrem Namen Immobilienmakler von ihrer Solvenz zu überzeugen usw. 
Ja, wir sind bisher mit weniger Tod und Turbulenz durch die Krise gekommen als andere, aber es wird uns nichts nützen, wenn die Welt von einem Strudel der Gewalt erfasst wird. Auf das Geschehen in USA werden wir kaum Einfluss nehmen können, was wir allerdings tun müssen, ist: die EU zu verteidigen, zu stabilisieren, alle notwendigen Schritte zu gehen, um gewappnet zu sein, wenn Trump zB sein Heil darin suchen sollte, China zu zeigen, wo der Hammer hängt. 
Am Nachmittag überlege ich, wann ein Mitglied der Familie Boning erstmals einem Schwarzen begegnet ist. Verbürgt ist folgende Geschichte: Frühjahr 1945. Soldaten der 7. britischen Panzerdivision erobern die Stadt Wildeshausen und durchkämmen die Häuser auf der Suche nach versprengten Wehrmachtsangehörigen. Meine Uroma sitzt im Keller und wartet auf Frieden. Die Tür öffnet sich, ein dunkelhäutiger Brite stürmt mit vorgehaltenem Gewehr herein. Meine geschockte Uroma hat Todesangst und bettelt um ihr Leben. Der Brite lässt die Waffe sinken. Er nestelt einen Schokoriegel aus seiner Brusttasche, steckt ihn der alten Frau in den Mund und geht wieder. Ende der Geschichte.

2.6.
Erst spät zu Hause. Grund: Der Kugelschreiber, mit dem das Honorar für den Auftritt als Kirchenmusiker per Unterschrift quittiert werden soll, muss laut kirchlicher Hygiene-Verordnung jedesmal desinfiziert werden, bevor er die Hand wechselt. 
Blöd nur, wenn das Desinfektionsmittel nicht da ist, wo es hingehört. Ich schiebe den Kinderwagen vor der Kirche auf und ab. Wo bleibt sie denn, meine Frau? Schubladen, Einbauschränke und Hauswirtschaftsräume werden durchsucht. Schließlich, endlich, gefunden! Der Stift wird von allen Seiten eingesprüht, dann fasst der Schriftführer den Kuli an der Mienenspitze und überreicht ihn meiner Gattin. An der Messe am Morgen hatten 20 Personen teilgenommen, abends immerhin 57 - mehr erlaubten die Bestimmungen nicht. 
Dem heiligen Geist, der Pfingsten in die Gläubigen fährt, ist die Teilnehmerzahl allerdings schnurz; der Atem Gottes schert sich nicht um Aerosol-Risiken.
Die USA haben derweil Brasilien zwei Millionen Dosen Hydroxychloroquin geschickt, jenes Malariamittel, das Donald Trump vorbeugend einnimmt, dessen Wirkungslosigkeit allerdings belegt ist. Aber hängt nicht der therapeutische Wert eines Präparats von jener Intensität ab, mit der der Patient an dessen Wirkung glaubt - hierin dem heiligen Geist verwandt, der die Aposteln zur freien Zungenrede animierte? 
Spötter mag die Praxis allerdings auch an jene Geburtstagsgeschenke erinnern, die auf das Großreinemachen folgen: Da wird etwa der hässliche Fliesentisch, der jahrelang im Keller stand, schamlos Tante Elfriede zum 60. überreicht. Hier in unserem Viertel in München jedenfalls stehen allerlei Pappkartons an der Straße, „zu verschenken“. Ich habe auch schon zugegriffen, einen Sammelband Graham-Greene-Romane, um anschließend daheim in nahezu paranoider Gründlichkeit Buchdeckel und Flunken zu schrubben. 
Nicht nur die Früchte des Ausmistens verzieren unser Stadtviertel, auch wird reichlich wild plakatiert: A0, weiße Schrift auf rotem Grund. „Geisterspiele sind unerträglich und nicht länger hinzunehmen“, dazu das Bild irgendeines DFB-Funktionärs (kenne mich nicht richtig aus). Auf einem anderen Plakat steht: „Die Kröte Saison-Abbruch muss der Fußball-Millionär jetzt schlucken“, und daneben beißt Ulli Hoeneß in eine ihm in die Hand montierte Erdkröte. Kombiniere: Da sind offenbar Fußball-Fans verärgert, weil sie nicht ins Stadion dürfen. Aber würde ein Saison-Abbruch nicht dazu führen, dass die Fans nicht nur nicht ins Stadion dürfen, sondern dass es gar keinen Fußball mehr zu sehen gibt? Oder verstehe ich das Anliegen völlig falsch, und es geht gar nicht um Fußball, sondern um Krötenwanderung? Abbruch der Paarungssaison? Aber was hat Hoeneß mit dem Ablaichen der schwanzlosen Amphibien zu tun? 
Ich fühle mich überfordert und pfeife mit Bob Dylan „The answer my friend is blowing in the wind“- wenn denn dies aerosolistisch vertretbar ist.

3.6.
Ein Geheimtipp für alle Flugreiselustigen: Luftzug hilft. Man könnte die Tür des Verkehrsfliegers einen kleinen Spalt breit offen lassen. Ich habe das mal bei Augsburg Airways erlebt, an Bord einer Fokker 50 auf dem Weg von Köln nach Augsburg: Kurz vor Beginn des Landeanfluges entriegelt sich die vordere Tür. Eine geistesgegenwärtige Stewardess springt zur aeronautischen Türklinke, ergreift sie und bleibt so bis zur Landung stehen. Ihre Blick ist auf uns Fluggäste gerichtet, und sie lächelt unsicher. Die Passagiere, das typische männliche Manager-Klientel, blicken bleich und ehrfürchtig auf die Türsteherin. Nach alpakaweicher Landung brandet donnernder Applaus auf. 
Gut, angelehnte Türen mögen nicht die sicherste Lösung sein, alternativ böte sich eine Perforation der Flugzeughülle an. Ein Loch vorne, eins hinten müsste reichen, um alle Aerosole abzuführen, schneller als man sich mit ihnen infizieren kann. 
In die Diskussion werfen möchte ich auch den Zeppelin. In ihm kann man die Fenster kippen, kurbeln, die Mähne in den Fahrtwind werfen. Aus meiner Sicht sind Zeppeline auch deshalb zukunftsträchtig, weil ihre Hüllen reichlich Platz für Solarmodule bieten, so dass der Ballermann-Törn nicht nur virensicher, sondern auch klimaneutral durchgeführt werden kann. Ich bin mal mitgeflogen, in der „König Pilsener“, ein Rundflug über Nürnberg. Glaubt mir, Zeppelin ist besser als Düse, Turboprop, sogar cooler als Hubschrappschrapp. Man sieht detailreicher und sitzt bequemer.
Vor Kurzem noch schien die Frage nach der post-pandemischen Sommerfrische kapital, aber inzwischen ist der Tiger Corona in den Schatten gestellt von einem noch größeren Raubtier, nämlich Tyrannotrumpus Rex. Während der Saurier auffallend kurze Arme hatte, ist es bei Trump der Verstand, der... oh nein, ich werde auch heute nicht Trumps Defizite thematisieren, es lohnt einfach nicht, sich mit Nullen zu beschäftigen. Gebt mir einen Churchill, gebt mir Mao, gebt mir Karl den Großen, von denen kann man was lernen, aber die Beschäftigung mit Nullen hebt niemanden auf ein höheres Level. Karl der Grosse zB war ein begeisterter Schwimmer, darum zog er samt Hof nach Aachen, wegen des ganzjährig warmen Wassers. Mao schwamm im Jangtsekiang und Churchill besaß immerhin einen schnieken Außenpool - alle drei waren begeisterte Schwimmer. Trump schwimmt auch, aber in einem Meer aus Wut und Verzweiflung. Es stürmt, und die Wellen brechen über seinem Schopf zusammen. Trump omabrüstelt, versucht den Kopf über Wasser zu halten und reckt eine Bibel in die Höhe. Das Meer ist nicht sein Element. Besser kann er Golf spielen, aber auch das kann er nicht so gut wie er weismachen möchte. Kann man bei „Commander in Cheat“ nachlesen, dem besten Buch, das über Trump geschrieben wurde. Trump fährt mit dem Caddy zum Green voraus, um dort die Bälle neu zu arrangieren, auf dass er gewinnt. Sein wesentliches Talent ist das Schummeln, ist der Bluff. Und so hoffe ich, dass auch seine Drohung, das Militär gegen Demonstranten einzusetzen, nur einer dieser Bluffs ist.

4.6.
Seit sechs Jahren trage ich am Rücken einen Knubbel mit mir herum, von dem ich meinte, es handelte sich um ein Lipom. Eine Ärztin riet mir einst, das Ding wie einen lieben Untermieter zu behandeln, der zwar niemals Miete zahlt, aber auch nicht weiter stört. Rauswurf unnötig, es sei denn „sie wollen noch mal in den Pirelli-Kalender“. So richtig angefreundet habe ich mich mit dem Untermieter allerdings nie, kaum je mit ihm ein Wort gewechselt (er wohnt nach hinten raus). Letzte Woche jedoch fuhr ich 300km in etwas enger Radhose ohne Träger, nur mit Scheuerbund, und das Ding hat sich entzündet. Wuchs über Pfingsten auf Baseball-Format, und ich fühlte mich belästigt. Der kranke Typ pochte, von früh bis spät an meine hintere Wand, wie mit einem Besenstiel. Raus mit ihm! 
Entschlossen fuhr ich zum Krankenhaus, füllte ein gelbes Formular aus, in dem ich versicherte, dass ich keinen Husten hätte, meine vom Pförtner gemessene Temperatur betrug 35,7, dann zog ich eine Nummer und wartete. Zwei Stunden später: Im kleinen Behandlungszimmer begrüßte mich die Ärztin mit den Worten: „Wegen mir müssen sie hier keine Maske tragen“. Ihr Freund sei Mathematiker und habe errechnet, dass die Ansteckungsgefahr momentan extrem gering sei, dass aber, wenn ich denn infiziert sei, ich alle in diesem engen Zimmerchen unweigerlich anstecken würde, Maske hin oder her. 
Sodann wurde meine Hausärztin berichtigt: Mein Untermieter sei mitnichten ein liebes Lipom, sondern eine zickige Zyste, bei der ich immer wieder mit Fisimatenten rechnen müsse. Ein Räumkommando sei angezeigt. Erst müsse aber die Entzündung abklingen. Drei Handlanger in Gummischürzen traten hinzu, und mit einem stählernen Rammbock wurde die Wand der Einliegerwohnung geknackt. Die Mietnomadin wehrte sich, in dem sie kübelweise heiße, weiße Soße auf das Räumkommando spritzte, goß, während ich bäuchlings auf der Liege staunenden Ahs, Ohs, „Mein Gott, ist das viel!“, „Hol nochmal einer zwei Handtücher“ und ähnlichen Kommentaren lauschte. Anschließend inspizierte eine Fachkraft für Umzüge und Entrümpelungen das verwohnte Souterrain, wischte feucht durch und hinterließ eine Europalette voller Tamponaden im Loch, ehe sie mich verband und für meine Tapferkeit lobte.
Nun futtere ich artig einen Hafersack voller Antibiotika, darf regelmäßig zur Kontrolle in die Klinik pilgern, ehe dann, in frühestens vier Wochen, Frau Zyste endgültig auf die Strasse gesetzt wird. Ja, ich weiß, die Situation am Wohnungsmarkt in München ist dramatisch. Mir egal, ich klage auf Eigenbedarf. 
Mit Sport ist jetzt erstmal Essig. Stattdessen wird gelesen. „Die Pest in London“ von Daniel Defoe und irgendwas von Jürgen Ploog. 
Und jetzt: Guten Appetit!
Ach ja: Wo, bittschön, kann man sich hier für den Pirelli-Kalender bewerben?

5.6.
Mein Lieblingscafé ist schwer gebeutelt, wie so viele, wahrscheinlich alle Gaststätten weit und breit. Bisheriges I-Tüpfelchen war die Weigerung der Versicherung, die bei Betriebsschliessung wegen Pandemie vereinbarte Summe zu zahlen. 
Im Gegenzug gab es auch eine gute Nachricht: Die Stadt München gab vor Kurzem die Parkflächen vor den Straßencafés zur Bestuhlung frei. Die nette Wirtin hatte jedoch Hemmungen, das Angebot anzunehmen, weil sie die Anwohner nicht um ihre Parkfläche bringen möchte. „Das sind ja auch alles meine Kunden - jedenfalls theoretisch“. Um etwaige Konflikte mit der Nachbarschaft zu vermeiden, beließ sie es also bei wenigen Tischen auf dem Gehweg, just so wie in der „alten“ Normalität. 
Vor einigen Tagen wollte sie morgens ihren Laden aufschließen und traute ihren Augen kaum: Im Zuge der Tramschienen-Sanierung hatte man die Parkfläche vor dem Café aufgerissen und eine Baugrube gegraben. Da sie die Stellplätze nicht für sich deklariert hatte, sprach, so meinte der Bauleiter, nichts gegen die staubige, ohrenbetäubende Maßnahme. Nun agieren Planierraupen und Muldenkipper dicht neben den verbliebenen Tischchen, und eines ist klar: Wer hier einkehrt, ist entweder taub oder treuester Stammkunde oder steht auf Baufahrzeug-Spotting. Auf uns treffen (bisher) die letzten beiden Attribute zu. 
Mein kleines Söhnchen ist, wie die meisten Jungs in seinem Alter, ein Baustellenfan. Stundenlang kann er dem Treiben beiwohnen, und ich fürchte, dass ein täglicher ausgedehnter Besuch in diesem lautesten Straßencafé der Welt auch meinem Gehör gehörig zusetzen wird. Aber wir haben ja Beethoven-Jahr, da muss das so.
Bevor es sich so richtig einregnet, war ich heute morgen noch mal ein Ründchen radeln, schwitzfrei und auf glattem Asphalt, damit der Verband nicht verrutscht. Die Ärztin meint zwar, Sport sei momentan nichts für mich, aber: Bewegungslosigkeit treibt mich zuverlässig in schlechte Laune, ungefähr so wie Diät. Um mopsfidel und puppenlustig zu bleiben, nehme ich ärztlichen Rat nicht als Dogma, sondern lediglich als wertvollen Diskussionsbeitrag, der eben mit allen anderen Lebensaspekten in eine Balance gebracht werden will. 
So sehe ich mich auch außerstande, meine Kinder nicht zu tragen oder mit ihnen nicht zu turnen. So weit kommt’s noch. Kinder gehen vor, und zwar in jeder Lebenslage (diesbezüglich ticke ich anders als die Ministerpräsidentenkonferenz; in Sachen Schul- und Kindergartenöffnungen würde ich die Wissenschaft gar nicht erst konsultieren. Schulbetrieb geht weiter, basta).
Nun gut, vielleicht ist diese Haltung auch Kappes, und ich trage, turne & radle gut gelaunt ins Erdmöbel, wir werden sehen. 
Meine Gattin gab unlängst zu bedenken, dass mein Tagebuch gar zu coronäisch und darum arg eintönig sei. Ja, ich fürchte, da hat sie recht. Und so hatte ich mir gerade vorgenommen, ab sofort kein Wort mehr über die Krise zu verlieren, doch wenige Minuten später flattert die Nachricht herein, dass die Novemberkonzerte meiner Gattin abgesagt worden sind, weil man bis auf weiteres keine Proben durchführen könne. Und so endet das Beethoven-Jahr für sie ohne Beethoven. 
Zum Trost lade ich meine Frau jetzt zum Frühstück ein. Ich kenn da ein tolles Café...

6.6.
Wieder im Krankenhaus zum Tamponadenwechsel. „Ihr Metier hat‘s ja auch ins Fernsehen gebracht“ sage ich zum Arzt, „Dr. Pimplepopper. Kennen Sie die?“ - „Na klar - kenne ich. Allerdings ist das eher unorthodox, was die Frau da macht.“ - „Im Sinne von: unakademisch?“ - „Naja; sie sticht da rein, wo ich eher ausschaben würde. Macht eben optisch mehr her“. 
Diesen Dialog wollte ich den erstaunlich vielen Lesern von vorgestern nicht vorenthalten, die mir Pimplepopper empfahlen. Eine spannende Facette des Eitertainments. 
Keine Frage, dass die Grenzbereiche des Seins zukünftig noch schonungsloser zur Performance gemacht werden. Und während ich mich in der Horizontale pimplepoppern lasse, male ich mir einige Fernsehvorhaben aus, erdacht in unschuldigen Zeiten, bis zu deren Realisierung wohl noch eine Weile vergehen wird: „Das große Promi-Koma“ - Ein Anästhesist versetzt 12 Prominente in tiefen Schlaf, und nur, wer ausreichend Fans dazu veranlasst, die Hotline anzurufen, darf wieder erwachen. Wortwitzmöglichkeiten sind reichlich vorhanden: „Ohne Punkt und Koma“, „Wir schalten jetzt live rüber zum Koma See“ etc. Im Erfolgsfall lässt sich die Show auch auf Tour umsetzen: Die schlafenden Promis werden in den Merchandising-Abteilungen der Handelspartner (Drogeriemärkte/Non-Food-Bereich der Discounter) hinter Glas ausgestellt.
Einen Schritt weiter geht „Jetzt wird eingesargt“, eine lustige Showidee, die ich mir neulich mit Hugo Balder einfallen ließ und die uns in angenehme Albernheit versetzte (vor Wuhan wohlgemerkt). Neckische Spiele auf einem stilisierten Friedhof im Studio, etwa „Anbaggern“, Kommandos wie „Alle an die Urnen!“, und Karl Dall ist in jeder Show dabei, als Untoter. 
Völlig klar, dass derlei Kaspereien momentan von keinem Fernsehsender umgesetzt werden können, schon alleine wegen der Gefahr, sich im Corona-Kontext dem Vorwurf mangelnder Pietät auszusetzen.
Neulich noch wurde über die Zukunft von „Genial Daneben - das Quiz“ gesprochen, eine Show mit einem Saalpublikum, das in der alten Normalität aus 99 Personen bestand. Wie zukünftig verfahren? Mein Vorschlag: Wir gründen eine WG in Köln mit 99 Bewohnern, die, polizeilich gemeldet, zu einem Hausstand gehören und legal ins Studio dürfen, sogar ohne Sicherheitsabstand. Ihr könnt Euch kaum vorstellen, wie schnell ich „Ist nur ein Scherz!“ hinterherschickte, um nicht zum moralischen Bruder Leichtfuß erklärt zu werden. Gelacht hat aber niemand, vielleicht zu recht.
Keine 99, dafür sogar 150 Karten verkaufen dürfen Jürgilein und ich, das „Institut für Putzpoesie“ für unsere Dichterlesung in Brandenburg an der Havel. Nach Rücksprache mit der Stadtverwaltung können wir uns auf der Freilichtbühne auf dem Marienberg austoben. Es gibt Beschallung, Food-Truck, gutes Wetter ist bestellt, Freunde, DAS wird ein Fest! 13.6., 17 Uhr. Tickets über Theaterklause. 
Mein Highlight des Tages: „Alfie“ von Burt Bacharach, vierhändig mit Mathilda aufgenommen und in der Insta-Story hochgeladen. Ja, ich feuere aus allen Rohren, ob beim Hautarzt oder im Netz.

7.6.
„In aller Freundschaft“ wird wieder gedreht. In der „WELT“ las ich, dass die Produktionsfirma den Drehbuchautoren vorab mitteilte, wie man die Krankenhausserie fit für die Neue Normalität machen sollte: Körperkontakte (Küssen, Berührungen, Auffangen bei Ohnmacht), und „Schauspieler über 60 bitte sehr reduziert einsetzen bzw. eliminieren“. 
Risikogruppen, so stellt sich jedenfalls die „Saxonia Media“ die Zukunft vor, gehören nach Hause bzw. ins Heim. Um die Penunzen müssen sich die Betroffenen nicht sorgen, denn es gibt ja diverse Soforthilfen und  „Kraftpakete mit Wumms“ (Olaf Scholz). Oha, schrieb ich soeben Olaf Scholz? Der ist 62 und kann sich, sofern es mit der Kanzlerkandidatur nichts werden sollte, eine Bewerbung bei „In aller Freundschaft“ schon mal sparen. Gleiches gilt auch für Günter Jauch und den Papst. Alle eliminieren. Und wenn die mit der Entwicklung des Impfstoffes nicht ein kleines bisschen Gas geben, bin ich auch bald dran.
Diskussionsthema an der Bushaltestelle : Ob Riesen-Demos, bei denen der Mindestabstand nicht eingehalten wird, weniger verwerflich sind, wenn sie sich gegen Rassismus richten, als wenn sie von Impfgegnern & Verschwörungstheoretikern besucht werden. Spontan konstatierte ich: die Abstandsverordnung gilt für alle, genauso wie das Demonstrationsrecht (es sei denn, Du bist über 60. Dann husch ins Körbchen, bevor dich der Eliminator holt). 
Im weiteren Tagesverlauf wurde ich aber unsicherer; vielleicht gibt es sowas wie „mildernde Umstände“ bei moralisch höher anzusiedelnden Zielen - wenngleich man die Wiederherstellung eingeschränkter Grundrechte womöglich ebenfalls für ein solches Ziel halten konnte.
Apropos Verschwörungstheorie: Beim bevorstehenden Abzug von 10.000 US-Soldaten aus Deutschland dachte ich sogleich an Elvis Presley, der ab 1958 in Deutschland diente und im Film „G.I. Blues“ das Lied „Muss I denn zum Städtele hinaus“ sang. Auch Vico Torriani und Heino nahmen, von ihm infiziert, eigene Versionen auf, so wie Vicky Leandros, Zupfgeigenhansel und Hannes Wader. Die illustre Reihe zeigt die enorme Ansteckungskraft des King, noch bevor er zum Coronavirus transformierte; unabhängig von Alter und Geschlecht ist niemand vor ihm sicher. 
Erstmals wieder mit einem Autokauf geliebäugelt. Allerdings käme nur eine entkernte Corvette in Frage, bzw Opel GT oder ein schöner Wolga oder eine Citroën DS, wohlgemerkt ohne Gekröse, dafür zum Tretauto mit elektrischem Hilfsmotor umgerüstet (letzteres auch, um die Prämie zu kassieren). Weiß jemand, wer solche Erwachsenen-Tretautos herstellt? Gibt es die überhaupt?

8.6.
Neuerdings bin ich als Interviewpartner zum Thema „Wildes Zelten“ gefragt. Scheint, wie mir eine Journalistin am Telefon versicherte, einer der Tourismus-Trends der Saison zu werden. Wenn man „wild“ campieren möchte , so erläutere ich, sei ein Tarp (einfache Plane als Regenschutz) dem Zelt vorzuziehen, da ein „Notbiwak“ zur Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit überall erlaubt ist, allerdings eben nur ohne Zelt. 
Wichtig ist im Grunde nur, dass der Schlafsack trocken bleibt - das geht ja zB auch unter Brücken. Und dann muss ich schmunzeln, weil ich mir ausmale, wie halb Deutschland in dieser Saison nicht zum Ballermann fliegt, sondern das Leben eines Lolli-Bruders führt, und die TUI den neuen Trend entdeckt und professionell vermarktet.
Als ich „Im Zelt“ schrieb, konnte ich die aktuelle Situation nicht erahnen. Eher schon den Klimawandel, auf den ich allerdings damals auch nicht einging. Camping ist ja nicht nur infektionssicher, sondern auch klimaneutral, sofern man zu Fuß bzw. per Rad unterwegs ist. 
Schließlich erzähle ich der Journalistin, dass ich in meiner Walmagen-Zeit erstmal drei Monate brauchte, um draußen genauso gut schlafen zu können wie im heimischen Bett. Und so entsteht ein Gutteil des Camping-Thrills aus jener Nervenschwäche, die mit Schlafmangel einhergeht. Schnell fliegen da die Fetzen. Ehe man sich ehelicht, so empfehle ich jungen Paaren, sollten diese unbedingt zusammen eine Woche zelten gehen - da lernt man den Partner nochmal ganz anders kennen. Teresa und ich haben‘s auch so gemacht. 
An Schlaf mangelt es mir persönlich momentan nicht, aber dennoch ist mein Gemüt nicht in Paradeverfassung. Alle paar Tage muss ich zur Klinik, ausgerechnet jetzt, da man nach den Monaten der Häuslichkeit endlich reisen könnte. Hella von Sinnen kommt mir in den Sinn, von der der Satz überliefert ist: „Wenn die Corona-Kacke vorbei ist, mache ich mir erstmal ein paar schöne Tage daheim.“ 
Apropos Kacke: Die Antibiotika vertrage ich nicht, und Sauna ist mit meinem wuchtigen Verband ebenso unmöglich wie Duschen. Während des Lockdowns habe ich noch gewitzelt: Körpergeruch ist der beste Distanzverstärker, also Finger weg vom Brausebad. Und nachdem ich wochenlang freiwillig geschweißelt habe, hänge ich jetzt ein paar duschfreie Wochen an, völlig unfreiwillig. 
Draußen dauerhaft Dreckswetter, der Milchaufschäumer ist ebenso kaputt wie die Kaffeemühle, und mein Lieblingsverein Werder Bremen gibt meiner Psyche den Rest - es ist zum Heulen.
Spät am Abend erreicht mich die Nachricht vom Tod meines hochverehrten Onkels, 96 Jahre alt, wobei ich ihm doch gerade kürzlich, nach seinem spektakulären Autounfall, das Prädikat „unsterblich“ verliehen hatte.
Teresa war auch schon besser gelaunt: Zu den deprimierenden Auftrittsabsagen kommen reichlich Fernweh sowie ihr ausgeprägtes Bedürfnis nach Geselligkeit. Neulich hat sie einen schicken Mundschutz bei ebay Kleinanzeigen verschenkt, im Grunde nur, um mit der Abnehmerin zu plaudern, und als die Nutznießerin das Ding einfach mitnahm, ohne Smalltalk, war meine Gattin ganz geknickt. 
Ich will nicht dramatisieren, aber wenn wir die Krise zur spannenden Challenge umdeuten, zur Langzeit-Ausdauerprüfung, dann nähern wir uns dem „Mann mit dem Hammer“, wie die Marathonläufer den Gipfel der Kraftlosigkeit bei km 35 zu nennen pflegen. 
Aber wie sang Juliane Werding einst? „Man muss das Leben eben nehmen wie das Leben eben ist“. 
Eine gediegene neue Woche allerseits!

9.6.
Fanfare! Es geht nach Österreich, zu unserer Hütte. Heute ist Almauftrieb, da will meine Frau unbedingt dabeisein. War der rote Faden der zurückliegenden Monate. Mit dem ärztlichen Fachpersonal habe ich vereinbart, dass der nächste Verbandswechsel auch anderswo stattfinden kann, und randvoll mit knisternder Vorfreude packe ich den großen Familienkoffer. Ganz wichtig: Mein Antibiotikum, das ich streng nach Plan dreimal täglich zu schlucken habe. Dann: Ersatzwindeln für fünf Tage, Feuchttücher, Zweit- und Dritthosen für die Kinder, Schlafanzüge, Kinderschlafsäcke, Regenkleidung, das ganze Geraffel, das Eltern in der ersten Welt mit auf die Reise nehmen. Dann, weniger wichtig: Etwas Ersatzkleidung für mich und meine Frau. Natürlich Verpflegung - die Speisekammer dürfte leer sein. Und meine Geldbörse, für alle Fälle.
Die Hütte liegt zweieinhalb Stunden entfernt, in Tirol, auf 1800m, einen ansteckungssichereren Platz wird man in Europa kaum finden. Nachbarn gibt es keine im Umkreis von sieben km. Für Hüttenpächter, so hat sich in Alpinistenkreisen herumgesprochen, sind Ein- und Ausreise unproblematisch. Also packen wir die Kinder ins Auto und fahren zum Grenzübergang Kiefersfelden, wo die Kontrollen eingestellt zu sein scheinen. Wir jauchzen so inbrünstig, wie wir gestern noch niedergeschlagen waren. Es ist, als täte sich mit dem Grenzübertritt ein Tor in eine Parallelrealität auf, in der es keine Viren gibt, kein Trump, keine Zysten, keine Konzertabsagen, dafür immerwährenden Sonnenschein, fliederfarbene Dämmerungen, ein behäbiges Dauerschaukeln in der Hängematte des Lebens mit Blick hinab in die Täler des Seins. Und mit jedem Höhenmeter, den uns Teresas Automobil dem verklärten Ziel entgegen bringt, klopft das Herz schneller, höher, weiter. Und einen kurzen Moment lang denke ich: Hoffentlich wird diese Flucht nicht bestraft, von einer höheren Macht, etwa vom King höchstpersönlich.
Von unten stechen wir in die Wolke ein, dichter, kalter Nebel umfängt ums. Schlagartig ist die Forststrasse kaum noch zu erkennen. Schritttempo. Ein paar Kehren weiter: Prasselnder Regen hämmert aufs Wagendach. Die Sommerreifen kämpfen mit dem Graupel, der sich ins Wasser gemischt hat; wir rutschen Richtung Hangkante. Die Kinder gucken bang, meine Frau räuspert sich. „Ist nur ein lokales Gewitter, das klart gleich wieder auf“ lüge ich, und mir schwant, dass ich mir den Wetterbericht schöngeredet haben könnte. Erst wenige Meter vor dem Ziel gibt ein Vorhang aus Eiswasser die Hütte frei. „Lasst mich die Vorhut machen“ gebe ich gönnerhaft den Patriarchen, dann öffne ich beherzt die Wagentür und renne unters Vordach. Zehn Meter Weg, und doch bin ich völlig durchnässt. Kühe sind keine da, aber in der Ferne hört man ihre Glocken. Den Almauftrieb scheinen wir verpasst zu haben. Schnatternd öffne ich die Tür zur Hütte, drehe die Sicherungen rein, mache Licht. Funktioniert, schonmal gut. Dann renne ich durch den Regen zurück zum Auto, öffne die Kofferraumklappe, um den großen Familienkoffer zu bergen. Nanu, wo ist er denn? Kein Koffer da. Ich wische mir das Sorbet von der Brille, um besser sehen zu können. Nein, da ist kein Koffer. Und wie in Zeitlupe fällt der Groschen, schlägt ins Wasser, so dass es spritzt wie nach einer Arschbombe: Ich habe vergessen, den Koffer einzuladen. Er steht noch zuhause in München, auf dem Gehsteig vor dem Haus. Und jetzt, da ich dies schreibe, steht er - mit etwas Glück - noch immer dort.

10.6.
Daheim haben nette Leute den Koffer schon lange in Sicherheit gebracht. Wäre mir unangenehm gewesen, wenn ein Bombenräumkommando der Polizei angerückt wäre, um das herrenlose Gepäckstück zu entschärfen. 
Knackpunkt: Die Antibiotika sind drin, und ich habe mir den Namen des Präparats nicht eingeprägt. Wer denkt schon an solche Notfälle! 
Es ist wie bei meinem Lieblingsverein: Der Abstieg scheint unausweichlich. 
Kurz versuche ich, die Schuld für die Kofferabsenz auf unser beider Schultern zu verteilen, aber noch bevor meine Gattin reagieren muss, erkenne ich die Sinnlosigkeit des Unterfangens selbst. 
Ein anschließendes Brainstorming stimmt hoffnungsvoll. Wir vereinbaren, uns den neuen Gegebenheiten anzupassen: Anstatt im Schlafsack schlafen die Kinder in zugeknoteten Herrenhemden, zu Verpflegungszwecken wird der Fond des PKWs gründlich nach Krümeln abgesucht. Das Ergebnis dieser Suche bestätigt uns darin, eine Verkürzung des Aufenthalts zu vereinbaren, nämlich auf genau eine Übernachtung. Der Rest des Abends verläuft harmonisch. Gemeinsam lösen wir mit farbschwachen Schreibern schweigend Schwedenrätsel, ehe ich noch eine Viertelstunde mit dem Schürhaken im Kanonenofen rumrühre. 
Um drei Uhr in der Nacht stehle mich aus dem Bett und koche Kaffee. Schlafen kann man auch zuhause, ich habe Urlaub! feuere ich mich an, dann wandere ich im Slalom durch die Altschneefelder rauf zum Schartenjoch. Der Regen hat aufgehört, und hoch über mir vernehme ich das Düsen eines Verkehrsflugzeuges. 
Lange nicht gehört, dieses Geräusch. 
Den Vormittag vergähne ich im Kuhstall, in dem 14 Stück Braunvieh gemütlich vor sich hindösen (erst am Abend kommen die Tiere auf die Bergwiesen, da sie Sommerhitze schlecht vertragen und bereits jetzt an den Rhythmus gewöhnt werden). 
Auf der mittäglichen Rückreise schwärmen wir von der Urlaubsverkürzung. Urlaub - das war gestern (buchstäblich). Corona hat uns nämlich geschult, blitzschnell umzuschalten, von Handschlag auf Winke-Winke, von Lächeln auf Maske, von Geselligkeit zu Social Distancing und zurück zu Demos mit 25.000 Teilnehmern, immer mit vollem Einsatz, meistens gut gelaunt. Ja, unsere geistige Flexibilität ist austrainiert, und da ist es ein Klacks, sich einen banalen Kofferverlust zur Initialzündung für etwas großes, gutes, wichtiges schönzureden: Der Storch hat auch keinen Koffer dabei, wenn er nach Ägypten aufbricht, Koffer sind Ballast, außerdem passen sie schon rein wortklanglich nicht ins Covid-19-Zeitalter, weil sie an „cough“ erinnern.
Vor allem haben wir die Gelegenheit, nächste Woche wieder auf die Hütte zu fahren, besser ausgerüstet, mit Dosenöffner, langer Unterwäsche plus Regenhut - und Vorfreude ist sowieso die schönste Freude.

11.6.
Lese in der Zeitung über den möglichen Abzug der US-Truppen aus Deutschland und denke daran, wie ich als Jugendlicher sehr gerne im „Memories“ tanzen ging, einem Club in Bremen, in dem ansonsten fast ausschließlich schwarze G.I.s verkehrten. Es machte mir Spass, auf der Tanzfläche zu Lionel Ritchie oder James Brown herumzuhampeln, um mich anschließend von den Soldaten loben bzw. auslachen zu lassen. Wenn die Army sich weiter zurückziehen sollte, werde ich eine Kerze entzünden und mich bedanken - für heiße Nächte, aber auch für das eine oder andere Bildungserlebnis. So lernte ich dort eines Nachts einen Sergeant aus Texas kennen, einen breitschultriger Hünen mit gurrendem Barry-White-Bass im schwarzen Nappa-Lederanzug, der einen Gürtel mit original Polizei-Handschellen als Schnallen-Substitut trug. Ich, einen knappen Meter kürzer und eher mittelschultrig gebaut, studierte ihn gründlich und nahm mir vor, eines Tages auch so cool zu werden wie er - und ich arbeite weiter daran.
Samstag habe ich wieder Gelegenheit, eventuelle Entwicklungsschübe vor Publikum zu demonstrieren, in Brandenburg an der Havel. 100 Tickets sind verkauft, 40 dürfen Jürgen Urig und ich vom „Institut für Putzpoesie“ noch feil bieten, und ich freue mich sehr auf meinen ersten Liveauftritt nach gefühlten fünf Jahren. Auf dem Weg zur Bühne werde ich jenen Elvis-Presley-Mundschutz tragen, der heute mit der Post aus den USA geliefert wurde. Vielleicht nehme ich den Lappen auch gar nicht runter; das ist mir in den Tagen mehrfach passiert, dass ich aus dem Supermarkt komme, vergessen habe, dass ich maskiert bin und so noch ein paar hundert Meter weiterlaufe. Soweit haben sie mich also schon gekriegt, Zwinkersmiley. 
Zwecks Schallverstärkung werden wir Headsets tragen. War bisher behördlich untersagt, wegen Ihr-wisst-schon-warum; wir sind die ersten, die wieder dürfen. Ob alle Leute im Publikum auch Mundschutz tragen? Wie in der Straßenbahn? Helge Schneider hat ja bereits angekündigt, nicht vor „Autos und Masken“ aufzutreten, und er hat dafür nicht nur positives Feedback bekommen. Ich will mir den Look dieser Ära zumindest mal von der Bühne aus anschauen, könnte ein imposanter Anblick sein, und wenn‘s mir nicht behagt, kann ich immer noch umschulen, etwa auf Straßenbahnfahrer oder Brotbäcker. 
Roberto Di Gioia und ich, wir haben uns ja mal über längere Zeit ein Duell geliefert, und zwar bezüglich der Frage: Wer backt das bessere Brot? Meistens gewann Roberto, aber auch mir gelangen einige meisterliche Kreationen, zB das Cola-Dinkel-Brot (koffeinhaltig). Auch liebäugelten wir damit, die Brote über unser gemeinsames „Hobby“-Label zu vertreiben. Schon war ein Krustenprägestempel mit unserem Logo besorgt, dann stellte sich jedoch heraus, dass das Gewicht der lebensmittelrechtlichen Auflagen gar zu groß ist und wir unter ihm mit unserer Mittelschultrigkeit ruckzuck einknicken würden. Aus heutiger Sicht natürlich falsch. Die derzeitigen Auflagen für Live-Auftritte stellen jene für Essens-Entrepreneure locker in den Schatten, und Bäcker sind systemrelevant, denn Brot wird immer gegessen. Aber auch Friseuren, Pfarrern und Prostituierten hätte ich totale Krisensicherheit beigemessen. Wer weiß, was das nächste Virus bewirkt? Eine umfassende Cola- bzw. Dinkel-Unverträglichkeit womöglich, und dann stehste da wie ein Weihnachtsbaum auf Bali.

12.6.
Mit Doppelkinderwagen im U-Bahnhof Sendlinger Tor. Aufzug kaputt. Raus, weiter zum nächsten. Auch kaputt. Ab auf die Rolltreppe mit dem Ding samt Lebendfracht.
Im Affekt frage ich mich: Was, wenn man das ganze Corona-Geld in die Infrastruktur gesteckt hätte, statt in den Lockdown? Virologe Streeck sagt neuerdings, man hätte auf ihn getrost verzichten können. 
Naja, antworte ich mir selbst, man wusste ja nicht, wie tödlich die Gefahr wirklich ist, also ging die Politik auf Nummer sicher. Wahrscheinlich die richtige Entscheidung. 
Jetzt jedoch könnte man meinen, Deutschland fühlt sich wie ein Männeken, das in einer schönen, aber verschimmelten Butze haust, die gegen alle denkbaren Elementarschäden versichert ist: Erdbeben, Tsunami, Lavaströme. Und Glasbruchversicherung hat es auch abgeschlossen. Und Hausrat, Fahrrad, sogar der Rechner ist versichert. Aber kein Tsunami rauscht heran, kein Fussball fliegt durchs Küchenfenster, und der Rechner fällt und fällt nicht runter. 
Nein, schüttele ich in der U-Bahn den Kopf, völlig falsches Bild, das ich da notiert habe. Nicht zuletzt der Toten unwürdig. 
Wir haben es bekanntlich mit einer Pandemie zu tun, also weltweit. Schau nach Brasilien: der tumbe Bolsonaro wollte ausscheren, sich die Versicherungen sparen, blökte: „Ein Brasilianer wird mit dem Grippchen problemlos fertig“, und jetzt ist sein Haus verschimmelt, die Dachpfannen fliegen ihm im Sturm um seine Ohren - und niemand zahlt. Um im Bild zu bleiben: Wäre ich Bolsonaro, würde ich Brasilien komplett abreißen und neu bauen; Renovierung lohnt nicht. Oder ich würde gleich zurücktreten - das wäre womöglich sinnvoller.
Neben Brasilien gibt’s gar nicht so viele Länder, die einen ganz eigenen Weg gegangen sind: Nordkorea natürlich, Weißrussland, irgendwo in Mittelasien gibt’s ein Land, wo man „Corona“ nicht mal sagen darf, und natürlich Schweden, aber das ist inzwischen restlos durchgenudelt, darüber will niemand mehr streiten. 
Überhaupt höre ich immer häufiger: „Geh mir weg mit dem Corona-Scheiß! Ich kann‘s nicht mehr hören!“; die Münchener Abendzeitung hat für diesen Überdruss den Begriff „Corona-Grant“ geprägt. 
Die Fernsehsender nehmen hierauf inzwischen Rücksicht und zeigen nicht mehr ausschließlich Viren-Specials, sondern ein diversifiziertes Programm zwischen DFB-Pokal, Andy Borg und Amsterdam-Krimi. Fast wie früher. 
Meine Gattin wiederum wollte gestern wie gewohnt ihre tägliche Info-Dosis zum Thema Covid-19 gucken und war enttäuscht. Nichts! Erst gewöhnen die Sender ihre Seher über Monate an Begriffe wie „asymptomatisch“, „Basisreproduktionszahl“ und „FFP-Maske“ , täuschen vor, Anker der Verlässlichkeit im Meer des Unvorhersehbaren zu sein, und plötzlich wird die Lieferkette unterbrochen. 
RTL plus, 90er Jahre, da kam Columbo, und wenn die Welt unterging, egal, darauf war Verlass. Jetzt jagt ein Thema das andere, und meine Frau rudert haltlos mit der Fernbedienung vor der Glotze herum, wie eine Wünschelrutengängerin auf der Suche nach Wasseradern. 
Wenn es nach ihr geht, sollte jeden Abend ein Corona-Brennpunkt gezeigt werden, bis in alle Ewigkeit - eine Programmgestaltung, mit der auch ich mich anfreunden könnte - sofern anschließend eine alte Columbo-Folge gezeigt wird.

13.6.
Meinen Sohn Cyprian zum Mittagessen getroffen. Wir erzählen uns die besten Denunziationsgeschichten. 
Meine geht so: Highnoon der „Maßnahmen“. Bei uns ums Eck gibt‘s eine Eisdiele, die für einige Wochen auf behördliche Anordnung schließen musste, nachdem Kunden ihr Eis auf dem Gehweg vorm Laden geschleckt hatten. Später bekannte sich eine Anwohnerin im Internet dazu, die Polizei alarmiert zu haben - und erhielt fast einhundert Likes. Nur ein User wandte ein: „Petzen geht ja gar nicht“. 
Cyprians Story: Ein Herr fütterte jeden Morgen die Vögel, knapp außerhalb seines Grundstücks. Seinem Nachbarn passte dies nicht, er ließ Ordnungshüter kommen. Der Fall soll es sogar zu „Antenne Bayern“ geschafft haben. Eigentlich, so meine ich, war sein Verhalten korrekt; im Freistaat war das Verlassen der Wohnung zum Zwecke der Versorgung von Tieren jederzeit erlaubt. 
Mein Sohn hat noch eine auf Lager: Bei Wildsteig im Oberland soll ein Polizeihubschrauber neben zwei Herren gelandet sein, um diese zu kontrollieren, weil sie offenbar wie wandernde Städter aussahen - ein Fall, den ich für höchstens eingeschränkt glaubwürdig halte. Wie will man denn aus der Luft erkennen, was ein Städter ist? Am besonders zünftig aufgesetzten Trachtenhut? 
Verbürgt ist in der Tat, dass die Landrätin des Kreises Ostallgäu dessen Grenzen für Auswärtige (also: Münchener) schließen wollte, um die dort lebende Bevölkerung zu schützen. In einer eilends einberufenen Videokonferenz sollen Granden der CSU jedoch erfolgreich auf ihre Parteifreundin eingewirkt haben, so dass die Schlagbäume am Auerberg geöffnet blieben. 
Wahr ist auch die Geschichte eines hochverehrten Fernseh-Kollegen, der den verordneten Lockdown für „halben Kram“ hielt und in Eigenregie perfektionierte: Acht Wochen lang verließ er überhaupt nicht seine Wohnung, trug rund um die Uhr FFP-3-Maske (wenn nicht gar FFP-4), ließ die Fenster geschlossen, alle Einkäufe und Mahlzeiten ins Haus bringen und beauftragte ein Unternehmen, seinen Müll, den er im Beutel vor die Wohnungstür stellte, abzuholen, um Gänge zu den Mülltonnen im Hinterhof zu vermeiden. 
Fazit des launigen Mittagessens: Da kommt wohl noch einiges an Erzählungen auf uns zu, deren Wahrheitsgehalt mit zunehmender Lockerungsintensität immer weniger verifizierbar ist. Neben Seemansgarn und Anglerlatein wird sich die Infektionsschutz-Schnurre als Flunker-Fach etablieren.
Noch vor dem Kaffee will ich Gscheidhaferl mich in ein Gespräch am Nebentisch einmischen. Es geht um Rassismus, und ich erwähne (wiederholt!) irrtümlich den Slogan „Black matters live“, also „Schwarze Stoffe bzw Sachen leben“, was natürlich völliger Unfug ist. Aus dem Mund eines Modeschöpfers wäre der Satz unter Umständen vielleicht noch einigermaßen sinnig, aber aus meinem? Jedenfalls blicken meine Gesprächspartner alarmiert; plötzlich knirscht der Sand der Peinlichkeit im Getriebe. Will ich mich etwa über den Kampf gegen Rassismus lustig machen? Mitnichten. „Das war jetzt wirklich nur ein Versehen!“ schiebe ich verdattert hinterher, und die Diskussionsteilnehmer nicken gnädig. 
Merke: Die Tauglichkeit zur Teilnahme am politischen Diskurs steht und fällt mit der Konzentrationsfähigkeit. Reicht ja schon, dass ich Koffer auf Gehsteigen vergesse. 
Jetzt erstmal eine gute Tasse Bohnenkaffee!