Sonntag, 29. April 2018

Harzquerung 

51 km im 51. Lebensjahr - das klingt passend. Der Oldschool-DDR-Geländelauf steht schon ewig bei mir auf dem Zettel. Zwei Tage vorher drehe ich noch für „History" an „Deutschland, deine Fußballseele" bei Babelsberg 03 und lasse mich zum fröhlichen Mittrainieren einladen. „Ganz leicht" wird mir versprochen, aber was heißt das schon in der 4. Liga? Ich wetze, grätsche, gebe alles, und so reise ich anschließend einigermaßen mürbe per Bahn nach Wernigerode. Aus München kommt meine Frau per Auto hinzu. Wir flanieren begeistert durch das schmucke Städtchen und holen die Startunterlagen ab. Also: meine Nummer sowie einen rudimentär selbstgebastelten Anhänger für die Gepäcktüte. Keine Werbung, nix Sponsorenquatsch, keine Testtübchen, null West-Kommerz-Klimbim. Dass es das noch gibt! Anschließend: Speicherfüllen. In der Kneipe lernen wir ein kölsches Seniorenpaar kennen, das soeben hierher gezogen ist, weil man „in Köln ja nicht mal mehr mit der S-Bahn fahren kann, von wegen Sicherheit". Wir staunen. Dann lese ich meiner Holden noch ein bisschen aus Heines Harzreise vor, und ab in die Heia.


Am nächsten Morgen mache ich mich lauffein, mit allem Drum und Dran, inklusive Nippelpflaster und Vaseline. Leichtes Frühstück, dann zu Fuß zum Start. Kaiserwetter unter Kastanien. Ich stelle mich für allerlei Selfis zur Verfügung (Immer wieder gut: Jemand fragt einen dritten, ob er ein Selfi von uns machen könne). Start um 8:30. Eine lange Läuferschlange trippelt auf schmalem Pfad bergauf und staut sich sogleich wieder an umgenickten Bäumen. Dies wird ein roter Faden des folgenden Laufgewebes sein: Der umgeknickte Baum, quer überm Weg. Je länger man unterwegs ist, desto ungelenker klettert man drüber. Bzw.: Man? Ich. Wie andere, schnellere Leute mit diesen Hindernissen umgehen, ob sie drüberhopsen oder drunterherkriechen, weiß ich nicht. Bin ja eher im hinteren Drittel unterwegs, als erklärter, eingefleischter, echter Genussläufer. Andere rote Fäden: Wurzelwege, auf denen ich bergauf gehe und bergab besondere Obacht walten lasse, schwarze Schieferschottertrassen, matschige Senken und Wald. Dieser lässt sich einteilen in: Buchig, fichtig, hell und halbhell. Immer wieder begegnet man den kindlichen Schienen der Harzer Schmalspurbahn. Seltener kommt man an Lichtungen vorbei, noch seltener an moorigen Hochebenen, und einmal passiert man sogar einen original Schwermetallrasen - ein ganz besonderes Biotop an ehemaligen Erzabbauplätzen, in dem sich im Grunde nur Galmeipflanzen wohlfühlen, etwa die zinktolerante Galmeilichtnelke. Asphalt ist bei der Harzquerung eine Rarität, über Dörfer darf man sich nur selten freuen. Hier im Harz gibt es ihn noch: Den unverdünnten, dichten Tann, den Märchenwald, wo sich Echse und Hexe gute Nacht sagen. 

Nach einer halben Stunde ist die Läuferschlange zu pointillistisch in die Landschaft geworfenen Läufertupfern geworden.  Ich horche in meine nicht mehr ganz junge Orthopädie hinein. Rechter Knöchel spürbar aber schmerzfrei, dezenter Muskelkater in den Haxen und Armen vom Kicken & Koffertragen. Also nahezu optimale Bedingungen. Nach 10 km die erste Verpflegung. Gefällt mir auch: Kein Mensch muss nach 5 km trinken. 10 reicht. Danach erst wieder nach 20 und nach 30, und anschließend wird die Frequenz erhöht. So ist‘s schlau. Wer mehr trinken will, findet unterwegs sowieso allenthalben Bäche zum Ausschlürfen. Oder nimmt einen Trinkrucksack mit, wie das Gros der Läufer. 

Unterwegs passiert man auch immer wieder Wanderer, mitunter halbwinterlich gekleidet, mit Startnummer. Die „Harzquerung" ist nämlich ausdrücklich auch als Wanderung ausgeschrieben, Start in diesem Fall ab 5 Uhr. Zwischendurch denke ich: Was für ein Unsinn, dass man eine solch verwunschene Gegend nicht alleine durchquert, nur begleitet von den zwitschernden Vögeln und den rauschenden Wassern, aber es gelingt mir, diesen defätistischen Gedanken rechtzeitig beiseite zu wischen. Es lebe der Sport, und auch die Geselligkeit hat ja gewisse Vorzüge. Ich plaudere mit netten Leuten. Eine junge IT-Fachkraft, voll im Futter. Lief im November durch irgendeine Wüste, und das Wetter war wohl ähnlich wie hier. Dann der agile Veteran, dessen linker Knöchel ebenso muckt wie mein rechter, darum lässt er’s nicht mehr gar so krachen wie früher und beschränkt sich auf 30-40 Marathonläufe pro Jahr. Armer Kerl, was macht er jetzt mit der vielen freien Zeit? Bergab laufen sie mir davon, aber bergauf hole ich sie wieder ein, und an den Verpflegungsstationen herrscht fast so etwas ähnliches wie Partystimmung.


Der Höhepunkt des Weges ist denn auch der höchste Punkt, nämlich der Gipfel des Poppenberges, nach ca. 40 km Wegstrecke. Neben den Tapetentischen des Lukullus lockt ein Aussichtsturm. Hm. Durch eine Besteigung wird die Strecke zwar nicht eben kürzer, aber wenn ich schon mal da bin, lasse ich mich nicht lumpen und ersteige die paar Treppen zur Plattform. Was für ein großartiges Panorama! Vom Brocken bis nach Wladiwostok reicht die Sicht, und beseelt bannen wir, also ich und ein paar weitere Umweglustige, das Glück des Moments im Bild. 


Im Süden erspähen wir auch Nordhausen, das Ziel unserer Bemühungen. Ab hier geht es nur noch bergab, gebe ich den Mutmacher, und freue mich auf die letzte Etappe. Mein Knöchel jedoch freut sich weniger. Er mault. Kaum noch hebe ich den rechten Fuß, und ein schlurfendes Geräusch verrät auch meinen Mitläufern, dass da was nicht stimmt. Besorgt fragen sie nach. Ach was; das sei nur die Neigung des Weges, behaupte ich und beiße die Zehen zusammen. „Genussläufer“ - dass ich nicht lache. Ehe es wirklich heikel wird, neigt sich auch schon der Weg seinem Ende entgegen, wenngleich keineswegs beständig bergab. Nein, bis kurz vor Schluss geht es rauf und runter, was mir durchaus gefällt, denn so kann ich ohne schlechtes Gewissen immer wieder vom Trab in den Spazierschritt wechseln. 


Und dann laufe ich auch schon ins Nordhäuser Stadion ein, zum endgültigen Sachsen-Anhalt (das ist die Sorte Witz, über die ich bei km 50 lachen kann), nach knappen 1400 Höhenmetern und 6 Stunden, 3 Minuten, direkt in die Arme meiner Frau. Ich lasse mir einen grafisch erstklassigen Aufnäher als Finisher-Trophäe in die Hand drücken, dann drücke ich wiederum meinen neuen Laufbekanntschaften die Hände und lasse mich von meiner Gattin ins bereitstehende Auto wuchten. Ab nach Hause! 


Frage: Wenn man mit 1 bei passender Förderung einen Kilometer schafft und mit 51 51 - was bedeutet das für meine Zukunft? 

Dienstag, 24. April 2018

Auf Berlins höchsten Berg

Die Reise beginnt in Mitte, am Oranienburger Tor. Recht kompliziert mutet an, was mir die BVG-App empfiehlt, und ich Provinzpossler scheitere zunächst am Ausfindigmachen des passenden Bahnsteigs für die Metrotram 1 zur Schillerstrasse. Zerstreut irre ich Döspaddel zwischen Dönerbuden und Dussmann herum, ehe ich im Tritt bin und ablege. Nach Dreiviertel Stunden Nordfahrt verpasse ich glatt den korrekten Ausstieg und bemerke dies erst an einer Strassenbahnendhalteschleife. Meine freundliche Frage, wo man denn hier umstiege, quittiert der Fahrer mit einem landesüblich geknarzten „Hier jibtet keene Busse". Auf eigene Faust marschiere ich also rückwärts Richtung Pankow, die Straßenbahnschienen entlang, bis zur Haltestelle des Busses 107. Kurzes Warten und ab an den Stadtrand, vorbei an der Nordendendarena, Heimat des FC Concordia Wilhelmsruh, dessen Fußballmannschaft 1950 in der neugegründete DS-Klasse spielte, so‘ner Art DDR-Zweitliga, und von dort erbarmungslos nach unten durchgereicht wurde, weil es an einem potenten Träger-VEB fehlte. 

An der Haltestelle „Blankenfelde Kirche" weicht die Stadt schläfriger Dörflichkeit. Unwillkürlich gähne ich herzhaft und verlasse den Bus, gemeinsam mit einem multinasal gepiercten, vollschultrig tätowierten Best-Ager sowie einem Doppelgänger des dicken Klaus von Klaus & Klaus, allerdings aufgepeppt mit einer besonders großen Messerspitze Obelix - also mit hautengen Leggings und ketchuppigem Henna-Haar. 

Auf der „Hauptstraße", die als solche nicht unbedingt zu erkennen ist, wandere ich bergwärts. Bald folge ich dem „Graben 33 Blankenfelde", die Spannung steigt, und nach weiter Linkskurve zeigt sich in der Ferne mein Ziel: Ein breiter Buckel, ein Ayers Rock in Frühlingsgrün. Aprilfrische. Grüner wird’s nicht. Eine lange Schottergerade führt mich an den Fuß des Berliner Bergmassivs Nr. 1, das Häubchen der Hauptstadt, den K2 der Kapitale. Oder ist‘s nicht eher der Kilimanscharo, an den man denkt? Dessen Gletscher wird seit Jahren immer kleiner, und auch die Arkenberge präsentieren sich heute schneefrei. Keine Lawinengefahr. 

Erschwert wird die Besteigung nicht durch die Launen der Natur, sondern durch einen Zaun, der das gesamte Gelände umschließt. Ob man Alpinisten wie mich vor der Gefahr schützen will? Sind die Arkenberge kontaminiert? Kurz zur Geschichte: Eigentlich bezeichnet der Name einen natürlichen Höhenzug mit bis zu 70 Metern Höhe, die aber im Laufe des 20. Jahrhunderts sukzessive abgebaggert wurden, bis der Bau des Berliner Außenbahnrings dem Minigebirge endgültig den Gar aus machte. Ab 1984 wurde westlich des Ex-Gebirges eine Bauschutt-Deponie eingerichtet, die im Jahr 2015 die 122-Meter-Marke überragte und somit den Teufelsberg als bis dahin höchsten Punkt Berlins entthronte. 

Auch der Teufelsberg ist ein Schutthügel, und man kann natürlich die Frage aufwerfen, ob Menschenwerk überhaupt qualifiziert ist, wenn‘s um den Titel „höchster Berg von Schießmichtot" geht. Als höchste künstliche Erhebung der Welt gilt, dies nur zur Einordnung, die Sophienhöhe in der Nähe von Jülich, eine derzeit etwa 290 Meter hohe Abraumhalde des Braunkohletagebaus Hambach. 

Die höchste natürliche Erhebung Berlins ist jedenfalls der große Müggelberg, 114,7 m hoch. Kann ich ja bei Gelegenheit nachschieben.


Die Komoot-Navigations-App führt mich zur Schlüsselstelle meiner Unternehmung, einer Ausbeulung im Zaun; ich klettere hinüber, balanciere über einen Wall aus Ästen, springe über einen Graben und halte inne. Wie illegal ist, was ich hier tue? Stehe ich mit einem Bein im Gefängnis, gar im Grab? Blicke links und rechts. Die Luft ist rein. Jetzt nichts wie rauf. Eine ausgewaschene Mountainbike-Spur führt mich mit 23 % Steigung den baumlosen Hang hinauf. Sogleich ändert sich meine Seelenlage: Es klingt verrückt, aber augenblicklich wähne ich mich im Hochgebirge, atme freier, fühle mich dem Himmel näher. Der Blick weitet sich, und mit ihm mein Herz. Ich gehe extra langsam, um den kurzen Gipfelsturm maximal auszukosten. Mein Motto: Wandere immer so, als gingest Du zum allerletzten Mal. Aber auch im Schneckentempo ist der höchste Punkt nach wenigen Minuten erreicht. Eine weite Hochebene, in deren Mitte ein Findling ruht. Kein Kreuz, na klar, wir sind im gottlosen Berlin. Im Norden eine Datschenkolonie, im Süden Fernsehturm und Co, im Osten die Blankenfelder Seenplatte. 


Farbige Steinquader fesseln meine Aufmerksamkeit. Das könnten Sie sein, die legendären Ur-Legosteine, nach deren Vorbild das beliebte Spielzeug geformt ist. Ihr Ursprung ist Dänemark; prähistorische Wikinger haben die Steine mit Runen verziert. Während der letzten Eiszeit wird der skandinavische Gletscher die Eratiker nach Pankow geschoben haben; aber wie gelangten sie auf die künstlichen Arkenberge? Oder gehören sie zum hier deponierten Bauschutt? Noch ehe ich dieses geologische Rätsel lösen kann, zwingt mich Proviantmangel zum Abstieg. Es ist 11:03, und mein Magen knurrt. Kein essbares Tier, keine Pflanze bietet sich dem Forschungsreisenden in dieser kargen Wildnis. Also huschhusch westwärts, ins Tal, ans Tegeler Fließ, den Grenzfluss zum Land Brandenburg. Unten ein neues Problem: Der Zaun zur Datschenkolonie ist intakt und auf einer Breite von Hunderten Metern unüberwindbar. Ehe ich einen Fluchttunnel graben kann, werde ich von jenseits des Zauns durch ein Eingeborenenpaar erspäht, beide gekleidet in Ballonseide, einen Schäferhund an der Drosselkette. „Dit is Privatjelände!" herrscht der Mann mich an, und seine Frau droht mit dem Dududu-Finger. Sekunden später erkennen Sie in mir die Fernsehfachkraft, und der Blockwartblick weicht herzensgoldigem Lächeln. Ich erkläre, dass ich die Gipfel der deutschen Bundesländer sammeln würde, und dass mich kein Zaun von diesem Vorhaben abbringen könne. Wozu denn der Zaun überhaupt gut sei? frage ich. „Dit soll vielleicht ma‘n Freiluftkino wer‘n", erklärt der Hundehalter, „aba es fehlt een Investor. Jetz such‘n se 10 Millionen. Wir woh‘n hier und wollen dit aba nich. Denn komm‘ se alle her und machen Rambazamba. Am schlimmsten sind die Drohnenfliejer. Furchtbar, dit Jeknatter, und denn spucken se uns von oben in die Soljanka.  Früher war‘n dit Gartenjrundstücke, und wir ham 400 Pacht pro Jahr bezahlt, jetze ham wa Hausnummern un zahlen 90 pro Monat. Janz schön teuer, wa? Wenn wa so viel Geld zahlen müssen, wollnwa wenigstens unsere Ruhe haben!" Die Frau fragt noch, ob ich tatsächlich ganz bis zum Gipfel gelaufen sei, das sei doch sicher sehr anstrengend. Ich bejahe mit leichtem Schmunzeln, und sie blickt ungläubig. 50 Höhenmeter, naja. Durchaus machbar, auch für diese baffe Dame. Dann verspreche ich, nichts kaputtzumachen, verabschiede mich und umwandere die Arkenberge, um das Gelände durch die bereits erprobte Zaunfurt wieder zu verlassen. 

Als ich mit Kollege Bernhard Hoëcker am nächsten Tag auf der Autobahn Richtung Hamburg die Arkenberge passiere, grüble ich, wie ich sie als Investor gestalten würde. Freiluftkino? Papperlapapp. „Arkadien - Europas kleinstes Hochgebirge" male ich mir aus, mit Almbetrieb, Murmeltierbestand und Steinadler - immerhin Preußens Wappentier. Einmal pro Woche Heimatabend mit der autochthonen Bevölkerung, den Berglinern. Ballonseide statt Lederhose, Schwof statt Schuhplattler. Aber erstmal müsste der Zaun weg. Berg heil! 

Donnerstag, 22. März 2018

Kiez, krank, Krosslauf

Die Saisonplanung steht. Ende April werde ich an der „Harzquerung" teilnehmen - das ist ein 51 km langer Dauerlauf über Wanderwege von Wernigerode nach Nordhausen, und Ende Mai reihe ich mich, wenn alles gut geht, in die Sportlerschlange des Rennsteiglaufes ein. Start ist morgens um sechs in Eisenach, und mit etwas Glück werde ich im Rahmen der Sollzeit nach 72 km in Schmiedefeld eintreffen. Gemeldet bin ich für beide Veranstaltungen, die Startgebühr ist überwiesen, und ich pendele zwischen Vorfreude und Einschüchterung. 

Den Rennsteiglauf habe ich schon lange auf der Agenda, nämlich seit 2001. Er ist ein Klassiker alter Schule, so wie Biel und der Swiss Alpin-Marathon in Davos. Zudem bezauberte mich immer die spezielle DDR-Folklore - dass man dort zB an den Verpflegungsstationen traditionell Haferschleim gereicht bekommt. 

Trainingstechnisch bin ich voll im Zeitplan, zumal sich der offenbar unabwendbare jährliche Winterinfekt just meine Ruhewoche ausgesucht hat. Oder habe ich ihn provoziert? Nach meiner letztwochigen Besteigung des höchsten Hamburger Berges lief ich gleich am nächsten Tag 20 km die Elbe rauf und runter, besuchte abends auf St. Pauli die neue NDR-Show von Michel Abdollahi („Der Deutsche Michel", Bild), und wiederum einen Tag später trabte ich mit schwerem Rucksack vom Münchener Flughafen bis nach Oberföhring. Dort waren das Wasser alle, die Speicher leer, und ich kehrte nassgeschwitzt ein, so hungrig, dass ich auf das Anlegen trockener Kleidung verzichtete. 70 km in 3 Tagen waren wohl zu happig - ich sah den Viren bei der Okkupation meiner Schleimhäute mit resignativem Schulterzucken zu. Derlei Doofheitseruptionen gilt es fürderhin zu vermeiden. 

Wenn ich also nicht nur fleißig, sondern auch umsichtig trainiere, könnte es durchaus klappen mit meiner Teilnahme an „Europas größtem Crosslauf". Sport frei! 

Dienstag, 13. März 2018

Auf Hamburgs höchsten Berg

Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Deutschland unsere, meine Heimat ist. Zeit, dieses süßsaure Heimatland einmal neu kennenzulernen. Wie könnte man sich einen besseren Überblick verschaffen als von oben? Zur ISS schaffe ich’s nicht, Drohnen sind zu gewöhnlich für meinereiner, also besteige ich Deutschlands höchste Berge. Oder, genauergesagt, die höchsten Gipfel der 16 deutschen Bundesländer. Sweet little sixteen summits. So beschloss ich‘s neulich in Oldenburg, auf dem Sofa meiner Eltern, studierte allerlei Erhebungen (!) im Internet, und heute war es soweit. Premiere. Hamburg, meine Perle! Gibts denn da überhaupt Berge? Aber ja doch! Und die sind gar nicht soo ohne. 

Gestern noch ridikülisierten Hugo, Hella und ich in Köln gemeinsam vor der Fernsehkamera. Pilotendreh für SAT1. Heute morgen enterte ich den Zug nach HH, ersetzte im Zugklo meinen Gehrock durch eine Wanderjoppe, stieg in Harburg aus und legte los. Erstmal Harburg: Das ist ja die angeheiratete Nichte der stolzen Hansestadt, irgendwie grauer, gebückter, mit Mittelscheitel, man kennt, draußen, in der Welt, höchstens die TH, Mohammed Atta und womöglich die Phönix-Werke. Ist natürlich superunfair, dieses bestimmt auch nette Städtchen auf Pneus und Terreur zu reduzieren, aber so ist eben das Leben: Ein mieser Halunke, ganz besonders, wenn’s um den Ruf wehrloser Landstädte geht. Gunter Gabriel hat auch in Harburg gewohnt, fällt mir gerade ein; sein Hausboot lag im Harburger Hafen (und da liegt es noch heute, wenn es nicht gesunken ist). Ich habe mir neulich, beim Schaubuden-Jubiläumsdreh, eine Kaufimmobilie in Wilhelmsburg angeschaut, weil ich Europas größte Flussinsel theoretisch toll finde (in der Praxis kaufte ich nichts) - an Wohnen in Harburg habe ich hingegen noch nie gedacht.

Herrje, jetzt rede ich schon wieder nur von mir, dabei soll’s bei meinen Bundesbergbesteigungen gar nicht um mich gehen, sondern um die Klippen, Kuppen, sanften Hügel, je nach dem. Also. Vom Harburger Bahnhof durch die Unterführung am Phönix-Center vorbei zum alten Friedhof, auf dem u.a. Johann Heinrich Blohm begraben liegt, Wasserbaudirektor und Träger des Guelphen-Ordens, einer der höchsten Orden, die das Königreich Hannover zu vergeben hatte. Auf blauem Reif steht in goldenen Lettern die Devise „NEC ASPERA TERRENT"- Widrigkeiten schrecken nicht. Ohne Blohm, der den Harburger Tidehafen plante, wäre Harburg völlig unbedeutend geblieben, ohne Phoenix, TH, auch ohne Atta, und womöglich hielte der ICE heute in Tostedt oder Buchholz, und nicht in Harburg.

Weiter geht’s zur Bremer Straße, einer auf einem Damm dahinstolzierenden Fernstraße alten Schlags, mit Mietskasernen und Reihenhäusern, schnurgerade Richtung, äh, Bremen. Trübes Wetter, 6 Grad, schwer schlackert der Reiserucksack auf meinem Rücken. An den Schuhen trage ich Lunge-Laufschuhe. Hamburg ist ja so‘ne Laufstadt, mit dem bezaubernden, bedeutenden Marathonlauf, und auch wegen Ulf Lunge, der hier seine eigene Laufschuhmarke kreierte. Schöner Markenname. So wie ein Restaurant „Magen" oder „Friseur Friedrich Flaum". Glück muss man haben, gerade wenn’s um Namen geht. 


Bald endet die Grossstadt, und ich überquere auf schmalem Steg die Autobahn. Früher, als ich noch in HH wohnte, bin ich hier des Öfteren mit‘m Auto lang gefahren. Navis gabs damals nicht; man hatte den Falk-Stadtplan auf dem Beifahrersitz und musste, um sich zu orientieren , rechts ranfahren. Die Jüngeren können sich ja kaum vorstellen, wie störrisch so‘n Falkplan sein konnte. Patentgefaltet, haha. War er einmal auseinander gefaltet, kriegte man (also ich) ihn kaum wieder zusammen. Dauerte eine Stunde Minimum. Verlängerte so‘ne Autofahrt von HH nach HB also um eine Stunde. Ja. So war das. 

Ein paar waldige Linksrechts-Kombinationen, dann bin ich in Vahrendorf, beim Freilichtmuseum am Kiekeberg. Dieser ist mit 127 m die zweithöchste Erhebung des Harburger Hügellandes (die höchste ist der „Lange Stein", 129 m hoch, und beide nehme ich auf meiner Expedition als Dreingabe mit). Jetzt mag der feine Bayer höhöhö skandieren, von wegen „Berge", aber, liebe Bajuwaren, das Terrain wirkt hügeliger als man denken könnt’. Nachgerade zerklüftet, wie in Karl Mays Land der Skipetaren. Feuchter Laubwald auf sandigem Boden, niedersächsischem Boden wohlgemerkt. Wir haben nämlich Hamburg verlassen, traversieren ein Stück Nachbarland, und erst der Gipfelsturm spielt sich wieder auf Hamburger Gebiet ab. 12 km misst die Wanderung vom Harburger Bahnhof bis zum höchsten Punkt der Hansestadt; wer es mir nachtun will, denke an eine Trinkflasche und Verpflegung, etwa ein hartgekochtes Ei. Letzteres habe ich heute nicht dabei, der Mittag naht nicht nur, er ist fast durchschritten; mein Magen knurrt, der Waldboden ist satt und sumpfig.

Immerwieder lenkt mich mein Navi auf Reitwege. Hier, in den „Schwarzen Bergen" wird viel geritten, eben wie bei Karl May, nur eben auf Niedersachsenrössern. Kurzes Lauschen - nein, da sind keine Indianer, auch keine Cowboys; ich bin alleine hier, in dieser durchnässten Wildnis vor der großen Stadt. Mit „Tor zur Welt" ist ja immer die weite Welt gemeint, also Shanghai, New York, Manila, nicht jedoch Kiekeberg & Co. Am Durchschnittsdienstag um die Mittagszeit ist die Menschendichte jener im Karakorum ähnlich. Niemand stört, und niemand hülfe, wenn ich am Gipfelanstieg umknicken sollte. Darum gebe ich fein acht, als ich - es ist im Verlauf der letzten halben Stunde immer stiller geworden - zum großen Sprung ansetze. 



Auf dem unteren Bild sieht man, welches das Hauptproblem bei dieser Bergtour ist: Waldarbeiten, Tauwetter und Regen haben den Weg nicht eben leichter passierbar gemacht. Wenn ich denn dem geneigten Wandervogel einen speziellen Tipp für diese Wanderung geben müsste: Gummistiefel können nicht schaden. Aber: NEC ASPERA TERRENT. Das ist Blohms und meine Devise. Also aufauf, matschimatschi, der Burg ruft wie ein Koberer von der Reeperbahn. „Kommse rauf, könnse runterkucken"

Nach scharfer Rechtskurve erkenne ich bereits den Gipfelaufbau des Hasselbracks, der stolze 116 Meter misst. Ein Prachtkerl, der. Hamburg, deiner Berge Perle. 


Das mit dem Stolz meine ich gar nicht ironisch; Größe ist nicht entscheidend, schon gar nicht bei Bergen. Für mich als Oldenburger sind 100 Meter schwindelerregend. Sowas hohes gibt es zwischen Bremen und Amsterdam nirgends. Das erhabene Gipfelgefühl durchdringt mich hier jedenfalls nicht weniger als in den Alpen. Doch nicht nur erhaben sind Moment und Ort, sondern das Wagner-Idyll ist: gebrochen. 

Mund und Braue stehen schräg, als ich den graffitisierten Gipfelstein betrachte. Hand vom Zwerg beschmieren Tisch und Berg, wie man so schön sagt. Asi wie die HSV-Fans, deren Feuerwerk ich neulich beim Derby im Bremer Weser-Stadion beiwohnen durfte. Ein besprühtes Gipfelkreuz habe ich in Bayern noch nie gesehen. Aber lassen wir das. Ich will nicht unken, sondern lernen. 


Nachdem ich die Hochebene am Gipfel ausgiebig fotografiert habe, laufe ich nordwärts, Richtung S-Bahn, und durchquere noch ein landschaftliches Schmankerl, die Heide am Falkenberg. Vorne das karge Kraut, hinten die Wohnblocks von Neugraben: das ist ganz nach meinem in den 80ern geprägten Geschmack. 

Damals trug man schwarz, hörte John Zorn und stand auf jene Ästhetik, welche die Musikzeitung „Spex" mal hellsichtig mit „Wave-Schlampe vor Industriegebiet" umriss. Hier, in der saaleeiszeitlichen Endmoräne, hätte man Anne-Clark-Cover shooten können. Sleeper in Metropolis. Ja. 

Fazit: Harburg ist mehr als man meint. Mag Hamburg das Tor zur Welt sein, so befindet sich hier, in den Harburger Bergen, das dazugehörige Tor zum Himmel. Ob man hier wohnen sollte? Könnte? Dürfte? Reizvoller Gedanke! 

Nach knappen 19 km Weglänge mit 300 Höhenmetern insgesamt beende ich meine Expedition am S-Bahnhof Neuwiedenthal. Ab ins Hotel; die Sauna ist schon vorgeheizt. 


P.S. : Auf Facebook kommentierte Thomas Sommerszeit diesen Text folgendermaßen : 

„Harburg, die "angeheiratete Nichte der stolzen Hansestadt" ?- war wohl eher eine Zwangsheirat, mit der der Altherrenclub der Nazibonzen die Schöne aus dem Süden an den gierigen ausufernden Kaufmann an der Alster verschachert hatten. Und wie schlecht es der Schönen in der Folgezeit gegangen ist, wie mies sie seitdem behandelt wurde, wie schlecht ihr die Entmündigung bekam, dass kann man heute nur zu gut erkennen."

...und als ich Thomas Sommerszeit fragte, ob ich seinen Kommentar in meinem Blog zitieren dürfe, antwortete er: 

„Na klar! Nebenbei: Harburg muss einst von unglaublicher Schönheit gewesen sein. Eine wirkliche kleine Perle an der Elbe. Selbst die alte Industriearchitektur spricht einen heute noch an - Die rote Backsteinfassade mit Wildem Wein der Phönix beispielsweise. Und das alte Rathaus, klein, fast familiär, dennoch ein winziges Schmuckstück, das neue Rathaus und die alte Handwerkskammer, klassisch, aber nicht protzig. Und dann die atemberaubende Geologie, wie du bei der Wanderung sicher bemerkt hast. Dieser vielgestaltete Übergang vom moorigen Ursprungstal in die Geesthügel der Endmoränen mit ihren ganzen Landschaftstypen! Stille Heidelandschaft auf den westlichen Plateaus, geheimnissvolle Moore in der Flusslandschaft und die alten lichten Eichenwälder auf den Höhen der Haake. Die Inseln mit Wiesenland um Harburg und die fruchtbare Marsch mit einmaliger Obstlandschaft auf schweren Kleieböden. So, ich höre lieber auf, sonst willst doch noch nach Harburg ziehen um die misbrauchte Schönheit zu retten, wachzuküssen. Geht leider nur im Märchen. ;)"

Montag, 12. März 2018

Oper und O-Beine

„Fahrt ins Blaue" - so nannte mein Papa den Sonntagsausflug im gelben BMW 1802, wenn man mäandernd durch die Landschaft gurkte. So ähnlich machten Teresa und ich es gestern auch, wobei sie nicht BMW fuhr, sondern mich auf pinkem Hollandrad eskortierte, mit öffentlicher Opernbeschallung per Blauzahnbox im Korb. Ja, sie musste einige Arien lernen, für ein Konzert nächsten Freitag. Ich trabte unbejackt nebendrein und studierte die Gesichter der Entgegenkommenden. Abschätziges Kopfschütteln zweimal, ein zarter  Schmunzler einmal, dann war der Akku leer. Ist ja im Smartfon-Zeitalter selten, der Ghettoblaster. Meist vergreist man heutzutage allein, mit Soundstöpseln im Ohr, als Geronticus Eremita. Ghettokids, die gemeinsam Opernarien hören, sind noch seltener, und solche, die dabei joggen, am seltensten. Leere Akkus wiederum sind häufig, nachgerade Kennzeichen unserer Epoche. Vielleicht wird man dereinst vom präelektrischen Zeitalter sprechen, oder auch von der Akkuära. Könnte mir nämlich durchaus vorstellen, dass der Akkumulator gar nicht die endgültige Lösung ist, sondern dass Fahrzeuge, von Ford bis Fahrrad, Fußgänger, Ferbraucher aller Art zukünftig ihren Strom direkt aus der Straße beziehen, per elektromagnetischer Induktion. 

An der Isar entlang ging es nach Unterföhring, dann südwestwärts nach Poing. Finden manche Norddeutsche lustig, diesen Ortsnamen, weil ja Poing, wenn man Norddeutscher ist, an Comicsprache erinnert. Der Bayer spricht natürlich „Po-ing", was wiederum nach einer Sportübung aus dem Bauch-Beine-Po-Kosmos klingt. Also auch nicht 100%ig unlustig. In Poing befindet sich ein Wildpark- Ziel mancher Ins-Blaue-Fahrten in der Kindheit meiner Frau. Irrer Betrieb. Wir bahnten uns unseren Weg durchs Menschendickicht und sahen das Umlauttrio Wölfe, Bären, Lüchse. Dann zurück zum S-Bahnhof Poing, tripptrab. Puh, jetzt, nach 30 km Dauerlauf als Krönung der 94-km-Woche, welche wiederum Krönung des postmauritianischen Zyklus war, laufe ich recht unrund. Oh, Beine, die nunmehrige Erholungswoche habt ihr euch verdient. 


Samstag, 10. März 2018

Der rollende Schnauzbart

Telefonkonferenz auf dem Klapprad. Blöd, dass ich keine Kopfhörer dabei habe, und da ich neuerdings dieses vermaledeite iPhone besitze, dessen Strombuchse gleichzeitig Kopfhörerausgang ist, kann mir auch niemand mit Leihstöpseln helfen, nicht einmal meine Frau. Das bedeutet, dass ich ab neun Uhr einhändig Fahrrad fahre, mit der anderen den Sprechbarren ans Ohr gedrückt. Motorisch bin ich hierzu in der Lage, aber eine Stunde lang? Es geht um die Moderation des Carl-Laemmle-Preises in Laupheim, nächste Woche. Meine charmante Co-Moderatorin ist auf präzise Vorbereitung bedacht, was natürlich gut und wichtig ist, aber mein Arm lahmt. Ich wechsele. Bald lahmt auch der andere. Wieder Arm Nummer eins. Puh. Ich rolle im Schritttempo am Pilsenseeufer entlang, komme vom Wörthsee und will weiter zum Ammer-, dann zum Starnberger See. Vier Seen seh‘n. Und dabei gescheit daherreden.

Bei Strava jibbet bekanntlich „Kudos“ und Trophäen, zB wenn man 100 km am Stück radelt. Lust hätte ich schon. Aber einhändig? Inneres Hadern. Man müsste einen Job haben, bei dem man nie telefonieren muss, sondern immer nur Fahrradfahren. Einen solchen Beruf gibt es durchaus, er heißt: „Radprofi“. Schade, dass mir das Talent fehlt und ich inzwischen 51 Lenze zähle. Aber letzteres sollte man nicht überbewerten; in den kommenden Jahrzehnten wird sich ein neuer Sportlertypus durchsetzen, der Very-Best-Ager, mit eigenen olympischen Spielen, den Oldympics. Da wäre ich gerne dabei. Mein Schnauzer macht mich schon mal deutlich älter. Keine Ahnung, warum ich den trage - wahrscheinlich, weil es mir so viel Spaß macht, ihn mit Wimperntusche einzufärben, hurra. Auf Anfrage sage ich auch, was den Bart betrifft: Ich trüge ihn aus religiösen Gründen - aber das stimmt höchstens halb. Mist, der Arm ist endgültig eingeschlafen. Schnell wechseln, bevor mir das Handy aus der erschlafften Hand fällt. Zu warm angezogen bin ich auch. Skijacke und Wanderstiefel. Im Winter auf dem Klapprad optimal, aber seit dieser Woche ist Frühling. Es winken die Winterlinge, aufgekratzt kondolieren die Kroküsse. Kondolieren, weil ich nicht vorwärts komme. Auf die längliche Konferenz folgen nämlich zwei navigatorische Schlunzenschnitzer, und einmal navigiert mich Komoot in tiefsten Wald mit grundlosem Morast: 


Zum Wandern mag solch ein Weg ja ganz nett sein, aber wenn man auf dem Birdy die 💯voll machen will? Naja. Zunächst gebe ich mich unbeirrt, pflüge mit markigem Kinn gen Seeshaupt, aber etwas später zerbröselt meine Entschlossenheit, und ich steuere den S-Bahnhof in Wolfratshausen an. Immerhin: 75 km einhändig im Skianzug. Die erste ernsthafte Ausfahrt des Jahres. Beim nächsten Radausflug ist die doofe Trophäe fällig, das steht fest. Ich hab’s drauf. Krokuß! 


Montag, 5. März 2018

Großer Zylindertest: Sind Funktionsfasern im Alpinismus tatsächlich unverzichtbar? 

Oder ist ein Schaf, wer denkt, dass Wolle und Maulwurfsfell am Berg nichts taugen? Gestern war ein prima Testtag. Blauer Himmel, 0 Grad in Rottach-Egern am Tegernsee, und meine Gattin bittet um Lesezeit im Panoramarestaurant. Sie fährt also per Bahn voraus. Beziehungsweise: Sie steht ersteinmal an der Talstation der Wallbergbahn Schlange, und zwar eine geschlagene Stunde lang. Ich entledige mich meines Oberhemdes; nur mein Schiesser-Doppelripp-Leibchen bleibt unterm Gehrock (Baujahr 1920). An den Beinen trage ich eine braune Cordhose, darunter ebenfalls Doppelripp. Um den Bereich zwischen Solar Plexus und Kinnspitze zu wärmen, setze ich auf einen Schal aus Schiessmichtot von Mama. Weiß nicht, wie das Gewebe heißt. Ariola? Alabama? Alcantara? Meine Schuhe sind aus Leder, Handschuhe sind heute nicht vonnöten. 

Auf den ersten Metern bergauf alles prima, abgesehen von den etwas zu engen Manchester-Hosenröhren. Der Weg ist zwei Meter breit, wird nach oben hin immer schmaler, der Schnee ist griffig. Parallel zum Weg verläuft die Wallberg-Rodelbahn, eine über sieben Kilometer lange Naturtrasse für Erwachsene, die am heutigen Prachttag bestens besucht wird. Die Geräuschkulisse ähnelt einem Freibad während der Hundstage. Davon abgesehen ist es still; mit jedem Höhenmeter wird die Bergeinsamkeit konturöser. Der erste Teil des Weges verläuft im Schatten, mein Temperaturempfinden registriert den üblichen Übergang von „Neutral“ zu „Rotbäckchen“ und weiter zu „Ofenkommainnerer“. Nach einem Viertelstündchen vermerke ich die erste Manifestation einer Schweißtröpfchenbildung, und zwar am inneren Vorderrand der Zylinderkrempe (naja, äußerlich wäre ja auch sonderbar. Da würde man eher auf Regentropfen tippen). Aufreizend langsam läuft der Tropfen über meine Schläfe. Ganz Detektiv, lüfte ich den Hut und stelle fest: Meine Haare sind nass wie nach einer Ärmelkanaldurchquerung. Oha! Nun kommt der Mama-Schal ins Spiel. Ich wische mein schütteres Haupt trocken und begreife, warum Schal und Zylinder in der europäischen Geschichte so oft gemeinsam getragen wurden: Der Zylinder dient als Wärmesammler, in ihm sammelt sich ein feuchtes Gasgemisch, dass um Entsorgung fleht - im Ottomotor wie auf dem Herrenkopf. Doch während im Motor die Zündkerze das Gasgemisch explodieren lässt, besorgt auf dem Kopf der weiße Schal die Entsättigung. Das Hutlüften zum Gruße könnte also kulturgeschichtlich auch mit dem Kavalierstart verwandt sein: Heute lässt man den Motor aufheulen, früher präsentierte, ja offerierte man durchs Hutheben die körperliche Sammelwärme, Indiz für virile Aktivität, Tatendrang und Fitness.


Eine Lichtung. Welch schöner Tag für einen Textiltest. Weiter. Ein spanischer Tourist bittet um ein Selfi. Fände mich „cool“, behauptet er auf englisch. Das macht der Zylinder, ist klar. Ein anderer (Deutscher) fragt, warum ich den trage. „Aus religiösen Gründen!“ Er nickt ernst, ich eile weiter gipfelwärts. Nun erhöht sich die Tropfenflußgeschwindigkeit, und zudem registriere ich Nässe an Rücken und unter den Achseln. 

An zwei Passagen kontrolliere ich bewusst meine Schritte, ansonsten habe ich nie den Eindruck, mich in Lebensgefahr zu bewegen - was ja bekanntlich auch wieder ein lebensbedrohender Eindruck ist. Ich überhole sie alle: Anorakträger, Polyesterverehrer, Gore-Tex-Mexikaner, auch Skitourengeher lasse ich hinter mir, und zwar mit Genuss. Nach einer guten Stunde erreiche ich die Baumgrenze, ganz ähnlich gekleidet wie die ersten Alpinpioniere, die Erstbesteiger und dekadenten Engländer, hurray. Ich stehe im Spätschnee und freue mich des Lebens. Es gibt ja so viele Arten, sich einen besonderen Tag zu kredenzen. 


Sicher, Teile meiner Kleidung mögen nasser sein als chemisch gestrickte Fasern, aber wer fragt schon nach derlei Kleinigkeiten, wenn er nach knapp 900 Metern solch einen Blick hinab auf den Tegernsee genießt: 


Und also ich an der Bergstation meinen Gehrock zum Trocknen an die Garderobe hänge und mir die von Teresa mitgebrachte Wechselkleidung anlege, muss ich mir nichts schönreden, als ich konstatiere: Funktionskleidung ist enorm überschätzt. So wie Kohlefaser für den Radrahmenbau, Convenience Food, Casting Shows, IPhone X, Flachbildschirme, dieses neue Netzwerk, wie heisst das gleich? „Vero“, genau. Oder früher Minipli. Kann man alles genießen - das Leben lebt sich jedoch auch ohne. Jedenfalls bei gutem Wetter. Und sobald es ordentlich regnet, werden mein Zylinder und ich einen anderen Berg erklimmen - dann folgt Testbericht Nummer 2. 


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