Mittwoch, 13. Februar 2019

Nie wieder Rücken


Ich bin begeisterter „Tragepapa". Stundenlang transportiere ich Theodor vor meinem Bauch; mittlerweile habe ich Erfahrungen mit allen gängigen Modellen gesammelt, Limas Baby, Baby Björn, Manduca. 
Einerseits leuchtet es mir ein, dass sich der Mensch aufgrund seiner Entwicklungsgeschichte als Tragling am Körper seiner Artgenossen geborgener fühlt als im Kinderwagen. Andererseits folge ich auch einem trainingskonzeptuellen Kalkül: Theo wog bei der Geburt dreieinhalb Kilogramm, jetzt über acht. Bei steigendem Gewicht und gleichzeitig immer länger werdenden Tragzeiten müsste meine Rumpfmuskulatur durch diese Schlepperei auf Jean-Claude-van-Dammesche Ausmasse anwachsen. Und Rückenmuskeln, so habe ich gelernt, schützen vor Schmerz. 
Vor meinem ersten Marathon war ich durchaus anfällig: Alle paar Monate zwickte da irgendwas, ich „kriegte Zug", hatte „mich verhoben", was man eben so sagt, wenn‘s wehtut. Dann wohnte ich im Allgäu, und durch Skilanglauf war die Sache schnell passé (Laufen alleine reicht nach meiner Erfahrung nicht aus). Wie sich Rückenschmerzen anfühlen, habe ich seither völlig vergessen. 
Tauglich als Rückenstärkung sind auch: Schwimmen, Boxen, „Nordic Skating" (also Inline Skating mit Stöcken) und Kajakfahren. 
Aber man muss ja gar nicht extra Sport treiben, um seinen Rücken zu pflegen; Heben, Wuchten, Tragen kann man auch im Alltag. Einkaufswagen nehme ich nur beim großen Wochenendeinkauf, ansonsten bevorzuge ich Körbe. Koffer mit Rollen lehne ich aus religiösen Gründen ab. Neben Theodor schleppe ich gerne große Rucksäcke mit allerhand Inventar durch die Gegend: Bücher, Lebensmittel, Wackersteine. 
Bodenwischen ist nicht nur rückenfreundlich, sondern macht auch die Wohnung schön! Überhaupt, Vierfüsslerstand: Ich freue mich bereits darauf, meinem jüngsten Nachwuchs als Reittier zur Verfügung zu stehen, so wie auch schon meine inzwischen erwachsenen Zwillingssöhne Cyprian und Leander auf mir geritten sind. 
Ideal ist auch Schaufeln. Ich liebe es, Schnee von A nach B zu schippen, aber es geht natürlich auch mit Erde. Wichtig: Die Schaufel nicht einseitig bedienen, sondern regelmäßig zwischen rechts und links wechseln. Ist koordinativ gegebenenfalls gar nicht so leicht; probiert’s mal aus!

Vom Schaufeln ausgehend kann man dann einen Schritt weitergehen und Bauen. Etwa einen Iglu. Oder gleich ein richtiges Haus - der Phantasie sind da kaum Grenzen gesetzt. Als Mann soll man ein Kind zeugen, einen Baum pflanzen, ein Haus bauen - alles drei Aktivitäten, die den Rücken fordern, sofern man‘s nicht deligiert oder motorisiert. Fahrstühle, Rolltreppen? Überflüssig. Autos? Gut für Lahme, Schwache, Kranke. Allzu leicht steigt mein ein, gedankenverloren, und zack! ist man am Ziel. Leute, hütet Euch vor Autos! Sie machen dick, schlaff und hässlich. Man sieht nicht die Feinheiten der Landschaft und riecht nicht die Aromen der Welt. Kennt Ihr diesen Duft im Sommer, wenn nach einem heissen Tag Regen auf Asphalt fällt? Mein Lieblingsduft! Kriegt man im Auto nichts von mit. Fahrt lieber Fahrrad. Oder zeugt ein Kind und tragt es durch die Gegend. Kind und Rücken sagen Dankeschön.





Montag, 11. Februar 2019

Per Tretroller zum Traualtar



Dies ist ein offizielles Hochzeitsfoto der Bonings. Unsere Hochzeit war nicht zuletzt deshalb witzig, weil ich ja qua Ehe zum Bayer wurde (so sieht es jedenfalls die bayerische Verfassung). Und als ich meine Frau fragte, was ich bei der Heirat anziehen sollte, war ihre Antwort klar: eine Lederhose. Und als folgsamer Bräutigam ziehe ich an, was meine Frau sich an mir wünscht. Ganz nebenbei habe ich eine Lederhose auch deshalb gerne im Kleiderschrank, weil man in ihr hervorragend radeln kann.
Apropos. Ein Meilenstein auf unserem Weg zum Traualtar war unsere gemeinsame Alpenüberquerung im Sommer 2017, sie per Bergrad, ich auf dem Tretroller. 
Immer wieder hatte sie meinen mannigfaltigen Schilderungen vergangener Großfahrten gelauscht und rief eines Tages: „Das will ich auch!" Training? Wurde nach kurzer Testfahrt zum Tegernsee für überflüssig erklärt. Dies ist eine der angenehmsten Charaktereigenschaften meiner geliebten Frau: Ihre unerschrockene Abenteuerlust. Sie kann grundsätzlich ersteinmal alles - bis das Gegenteil bewiesen ist (bisher nicht passiert).

Wie wenig Erfahrung Teresa mit langen Radtouren hatte, äußerte sich nicht zuletzt daran, dass sie beim Start die von mir überreichten Radhandschuhe falsch herum anlegte, mit der Handinnenfläche nach außen. Erst schmunzelte ich, dann wurde mir etwas bang. Kann sowas gut gehen? Was, wenn nicht?

Die Verläufe der einzelnen Etappen sind ja weiter vorne in diesem Blog ausführlich beschrieben. Gestern fand ich einen unveröffentlichten Nachtrag mit folgendem Text:
„Unsere Strecke war laut Routenbeschreibung 363 km lang, bei 5200 Hm bergauf und 5850 Hm bergab. Da wir uns bereits ganz zu Beginn die Auffahrt zum Hochthörle gespart haben und auch später oftmals die Fahrstrasse den Trails vorgezogen haben, dürften kaum 5000 Hm erreicht worden sein. Auf eine Aufzeichnung per Navi haben wir verzichtet, um die Akkus unserer Handys zu schonen- einen Ersatzakku wollten wir nicht mitnehmen. Überhaupt sind wir beim Gepäck ausgesprochen minimalistisch vorgegangen: Neben der Sportkluft am Leib hatten wir lediglich je eine Regenjacke, Armlinge und ein Paar Knielinge dabei (ich, der drei Viertel des Jahres in kurzen Hosen herumrennt, braucht keine), außerdem je eine Freizeitkleidung für abends: für Teresa ein besonders leichtes Kleid, für mich Shorts und ein kurzärmliges Hemd. Dreingabe: Badezeug, Kulturbeutel, Bufftücher."

Neben den schweißtreibenden Auffahrten hat Teresa vor allem die Tunnels als herausfordernd in Erinnerung. Ich wiederum entsinne mich mit besonders zartem Grausen unserer Versuche, diverse Auffahrt abzukürzen, etwa jene zum Gampenpass, die uns ausnahmslos auf (unserem gemeinsamen Leistungsniveau) unangemessene Schiebestrecken führte. Andererseits eröffneten mir diese Verirrungen immer wieder die Gelegenheit, mich als Kavalier zu präsentieren, indem ich nicht nur mein, sondern auch ihr Gefährt schob:

Am Gampenpass erwartete uns oben, gleichsam als Klimax des partnerschaftlichen Heroismus, der höchste Punkt unserer Reise. 

Auf der fünften Tagesetappe erreichten wir schließlich unsere letzte Passhöhe, den Passo del Balino; ab dort gings nur noch bergab zum Gardasee, an dessen Ufer wir am Abend den Sonnenuntergang bestaunten.

Wir selber hatten den Eindruck, eine sehr brauchbare Reisemethode für sportlich ungleich trainierte Paare gefunden zu haben. Aus dem Bekanntenkreis weiß ich nämlich, dass unterschiedliche Leistungsniveaus viele Paare abschrecken, gemeinsam loszulegen: Dem einen geht‘s zu schnell, der andere fühlt sich unterfordert. Die Tretroller/MTB-Variante löst das Problem. Und wenn der/die Radler(in) schwächelt, kann der Trottinettist mit der rechten Hand am Hinterteil anschieben, falls nötig und erwünscht.
Unsere Reise verlief jedenfalls in harmonischer Eintracht; ein solches gemeinsames Abenteuer schweißt zusammen, und ein Jahr später durften wir Theodor begrüssen:

Bin mal gespannt, wann wir das erste Mal zu dritt auf große Urlaubsfahrt gehen. Wir liebäugeln bereits mit einer Unternehmung im kommenden Sommer. Sicher mit kinderfreundlich-kürzeren Tagesetappen - das ist aber auch alles, was zur Stunde feststeht. 




Über das wackere Verwittern




2007 entdeckte ich bei Dreharbeiten in Warnemünde in meinem rechten Nasenloch ein schlohweißes Nasenhaar, und in ihm manifestierte sich für mich die Tatsache, dass auch ich jenem unausweichlichen Prozess unterworfen bin, der schließlich Staub zu Staub werden lässt. Ich wähnte mich am Scheideweg: Wenn ich früh sterben wollte, so wie Jimi Hendrix, wäre dann jetzt die letzte, die allerletzte Gelegenheit? Nein, ich war bereits 40, mithin nicht mehr „jung", die Chance verpasst, jetzt galt - und gilt - es wacker zu verwittern. Aber wie geht das? Man könnte sich die Nasenhaare konsequent schwarz färben, ausserdem das zunehmend überschüssige Körperhaar auf die lichten Stellen am Kopf verpflanzen lassen. Aber würde man das „Problem" auf diese Weise nicht lediglich in die Zukunft verschieben? Und nähmen Färben und Verpflanzung nicht allerhand Zeit in Anspruch - Zeit, welche man eventuell besser mit Tätigkeiten verbringt, die einem noch mehr Freude bereiten als OPs? Etwa Sport, Sauna oder Sex? Der Sex-Appeal mangelnden Selbstwertgefühls, der mit Schönheits-OPs dokumentiert wird, ist jedenfalls mickrig. Nein, in dieser Abwägung entschied ich mich für die transparente Vergreisung nebst Zeitgewinn für die schönen Seiten des Lebens. 
Ein ähnlicher Einschnitt wie mein Nasenhaarfund war mein Aussenbandriss im Oktober 2014:


Dreharbeiten in der Schweiz. Morgens wollte ich schnell auf einen Berg hoppeln, war schon fast wieder unten, knickte um und hörte das typisch schnalzende Geräusch. Klarer Fall, Bänderriss. Ärgerlich humpelte ich ins Hotel und bestritt den folgenden Drehtag als sportliche Herausforderung: „So tun wie wenn nichts wäre". Lediglich bei einer Strassenmusikszene in Zürich, an deren Ende ich aus dem Bild gehen sollte, geriet meine Performance etwas staksig. „Jetzt ist mir doch glatt der Fuss eingeschlafen" log ich schmunzelnd. Abends stand ich dann noch mit Heidi Happy auf der Bühne, und nicht zuletzt, weil Dieter Meier im Publikum stand, riss ich mich kräftig zusammen und tanzte zur Querflöte so gut es eben ging. Der anschließende Weg zum Hotel geriet dann allerdings heftig; für 400 m brauchte ich fast eine Stunde. Am nächsten Tag Ärztemarathon, CT, Schiene holen, dann 6 Wochen Laufpause (Fahrradfahren ging). Ich hatte nicht mal das Training übertrieben, fast war‘s eine „Bagatellbewegung". Ok, so ist das eben in der zweiten Lebenshälfte, der Körper wird anfälliger, weniger geschmeidig, die Erholung dauert länger. Und irgendwas ist immer. Mal knackt das Knie, mal zwickt die Hüfte, dann der Fuss. Die schöne Herausforderung besteht nun darin, sich auf jene Bewegungsabläufe zu konzentrieren, die der Körper schmerzfrei hinkriegt; Herz und Kreislauf ist es ja egal, wie sie in Wallung gebracht werden. Skilanglauf ist am besten, klar. Kann ich nicht laufen, wird geradelt, ist hierfür das Wetter zu schlecht, kann man Schattenboxen oder Seilspringen, oder ich fahre mit dem Tretroller durch die Gegend.


Moderates Tretrollern geht (neben Schwimmen) fast immer. In den letzten Jahren ist es zu einer meiner Lieblingssportarten geworden. Alle 5-15 Schritte wechsele ich Stand- und Tretbein. Ein kleiner Klapproller lässt sich prima auf Reisen mitnehmen. Bei Kälte friert man auf dem Roller nicht so schnell wie auf dem Rad, und es sind mehr Muskeln an der Fortbewegung beteiligt. Man braucht auch weniger Spezialkleidung, kommt mit normalen Strassenschuhen gut vorwärts und schafft dabei lange Strecken: 2017 bin ich von Köln nach Arnhem gerollert, in den Niederlanden. Früh morgens los, gegen Abend am Ziel, das sind 180 km. 

Auf dem Tretroller unternahm ich auch eine meiner schönsten Reisen überhaupt, nämlich meine Alpenüberquerung gemeinsam mit meiner Frau Teresa 2017, die eher untrainiert war, aber auch mal über die Berge nach Italien wollte, quasi aus dem Stand. Die goldene Idee: Sie fuhr Mountainbike, ich Tretroller, so waren wir ungefähr in einem Tempo unterwegs. Weiter vorne in diesem Blog findet man ja noch das damalige Reisetagebuch. 






Sonntag, 10. Februar 2019

Wie ich Weltmeister im Langsamschwimmen wurde




„Und guck ja bloß nie nach vorne, zum Kirchturm in Romanshorn. Immer nur schön nach links und rechts blicken, ok?" Ein etwas seltsamer Ratschlag, wie ich finde, dann hopse ich ins Wasser an diesem strahlenden Prachttag im Juli, hinein in den Bodensee, und schwimme zum Startpunkt. Der ist leicht auszumachen: Ein Strand mit einer Handvoll Journalisten, die darauf warten, dass ich ihnen Interviews gebe. Temperaturcheck: Kalt ist das Wasser nicht, aber warm geht auch anders. Spiddelige Strünke reichen vom Grund hinauf ins besonnte Türkis; ich kenne diese Wasserpflanzen aus dem Fühlinger See in Köln und bin wieder nicht dazugekommen, nachzuschauen, um welche Art es sich handelt.
Prost Mahlzeit, zische ich beim Eintauchen, noch vor dem ersten Meter gescheitert. Alles für die Katz. Und dabei will ich ja nur rüber, rechne mit einer Schwimmzeit von fünf Stunden – und werde aus Schwimmerkreisen hierfür eher belächelt. „Fünf Stunden? Ah, Du willst Brust schwimmen!" – „Nein, Kraul" Hm, soso.



Etwas kurz angebunden begrüße ich die Runde und pule mir die Silikonstöpsel aus den Ohren, um hörtauglich zu sein. Erster kleiner Fehler, denn nachdem ich in ein paar Radiomikros gegrüßt habe, erklingt die Bootssirene, ich verabschiede mich eilig, stopfe die Stöpsel wieder in die Gehörgänge und zurre die Badehaube zurecht. Dabei touchiere ich den aus Kälteschutzgründen mit Vaseline eingecremten Rücken, und wie jeder Langstreckenschwimmer weiß, sorgt Creme an den Fingern für den sofortigen und endgültigen Verlust des Wassergefühls. So habe ich jedenfalls in diversen Fachbüchern gelesen.


Egal, ich schwimme die ersten paar Meter kochend vor Wut, das erhöht schon mal ordentlich die Temperatur, ich heize los wie Mark Spitz, eile zum Boot, das 50 Meter vor dem Ufer auf mich wartet (Näher ran ging nicht, weil sich die Wasserpflanzen sonst um die Schraube wickeln, und dann gäb’s Strunksuppe mit Kolbenfresser). Fluchend lasse ich mir von Observant Oliver ein Handtuch reichen, frottiere mir die Finger und hetze auf und davon, um den frottierbedingten Zeitverlust wieder reinzuholen. Also „hetzen" nach meinen Möglichkeiten. Im Schwimmbad brauche ich für 3km etwa eine Stunde zehn, ohne viel Anstrengung. Und so fange ich umgehend an zu rechnen: Wenn ich jetzt richtig reinhaue, schaffe ich 3km in einer Stunde, bin also in vier Stunden drüben. Und mit diesem, wie ich bald lerne, völlig lachhaften, eben nur eines schwimmenden Grünschnabels würdigen Ansatz kämpfe ich mich durch den See.



Perfekte Bedingungen: Sonne lacht, das Wasser ist ruhig, nur die Wassertemperatur wirft gewisse Fragen auf. Etwas über zwanzig Grad, also für echte Langstreckenschwimmer „warm". Ich aber bin ja eher so eine Art Landratte, habe mich zur Bodenseequerung nur entschlossen, nachdem Sportfreund Carsten und ich beim Haarer 24-Stunden-Schwimmen im Dezember so viel Spaß hatten. Wiewohl ich seit Ostern viel in Fluss und Tümpel trainiert habe, bin ich weiterhin nicht völlig kältefest; es gibt Tage, da fröstele ich schnell, vor allem nach wenig Schlaf – etwa in einem fremden Hotelbett. Hättste mal zuhause geschlafen, murmele ich ins Wasser hinein. Egal. Wer schneller schwimmt, hat früher Feierabend, also: Vorwärts! Wasser marsch!
Nach einer halben Stunde erste Verpflegungspause. „Super, du liegst genau im Zeitplan" nickt Oliver, dann nehme ich einen Schluck aus der Pulle, beschließe jedoch, zukünftig das Seewasser zu trinken, einfach aus Bequemlichkeitsgründen, und vielleicht lassen sich so noch ein paar Sekunden einsparen, hihi. Das Wasser schmeckt prima; es fühlt sich seidig an und schimmert betörend. Zwar kann man auch einige Meter weit sehen, aber das lohnt kaum. Keine Fische, auch keine Taucher, keine Quallen, kein gar nichts. Nada, niente. Nur Türkis, und die mit der Zughand ins Wasser einge- schlagenen Luftbläschen.
Alle paar Hundert Meter ändert sich die Temperatur. Mal durchschwimmt man ausgesprochen warme Bereiche, und dann, ganz plötzlich, wird man von schneidiger Kälte umarmt. Der Gegenwind sauge Wasser aus tieferen Schichten an die Oberfläche, erklärt Oliver beim nächsten Stopp und überreicht mir ein Kohlehydratgel. Eigentlich mag ich diese Tütchen gar nicht, aber hier im Wasser, so hatte ich mir ausgemalt, sind Gele und Bananen am leichtesten zu verzehren. Laut Reglement darf das Boot nicht berührt werden, und so lasse ich mir alles anreichen. Der Gegenwind, so Oliver weiter, sorge allerdings auch für eine deutliche Gegenströmung, die mein Tempo reduziere. Hm. Einstweilen egal, ich merk‘s ja nicht. Der Romanshorner Kirchturm ist bisher höchstens schemenhaft zu erkennen, jedenfalls aus der Fischperspektive. Einfach weiterschwimmen. Leichte Krampfneigung, Oberschenkel rechts, hinten. Nur nicht zu viel drüber nachdenken.

33 Züge Kraul, so zählt Oliver mit, konstant. Dreieratmung. Schaue ich nach links, zum Begleitboot, blicke ich in auffallend sorgenvolle Mienen. Stimmt irgendwas nicht? Ok, ich mag ein wenig langsamer geworden sein, aber müssen die denn soo düster dreinblicken? Ich friere ein wenig, und auf meinen Armen vermerke ich eine ausgewachsene Gänsehaut. Beim nächsten Stopp schlägt Oliver vor, dass wir von der stündlichen auf halbstündliche Verpflegung umstellen. Au weia. Ich muss einen schlechten Eindruck machen. Ich stimme etwas kleinlaut zu und hebe immer wieder energisch den Daumen, als die Crew mich fragt, ob denn alles in Ordnung sei – und das fragt sie verdächtig oft. Ihr merkt doch, wenn ich absaufe, brummele ich verstohlen und drücke aufs Gaspedal. Aber da ist keins, sondern nur Wasser. Es folgt eine verhältnismäßig angenehme Periode der Ereignislosigkeit, nur unterbrochen durch Gele und Bananen. Nebenan aalt sich die Crew, ich kraule parallel, jetzt mit etwas größerem Abstand.
Nicht denken, einfach schwimmen. Vorher wage ich allerdings doch mal einen Blick nach vorne: Da ist er, der Romanshorner Kirchturm. Noch recht fern, aber gleichzeitig verlockend nah. Ganz klar zeichnet sich seine schwarze Silhouette vom Himmel ab. Vergleichsweise ein Blick in die andere Richtung: Ach du Scheiße –Friedrichshafen ist ja immer noch viel näher! Ich suche sogleich nach Argumenten, die meinen Frust lindern. Die Sonne bescheine Friedrichshafen, und darum seien alle Details besser ausgeleuchtet. Außerdem sei Friedrichshafen ja die viel größere Stadt, mit den größeren Gebäuden – die müsse ja zwangsläufig größer und somit näher aussehen, ganz egal, wie weit man entfernt ist.
 Schließlich lächelt mir Oliver zu: Jetzt sind’s nur noch 5,5. „Das ist ja eine Strecke, die Du aus dem Training kennst". Einerseits freue ich mich, hurra, ja, kenne ich, andererseits frage ich etwas misstrauisch: Und wieviel haben wir jetzt? Sechs? „Nein, vielleicht etwa fünf". Wie? Ich denk, das sind insgesamt 12 km? Dann müsste ich doch mehr als die Hälfte haben, oder? Enttäuschung de luxe. Ein Blick auf die Uhr. Blöd, dass ich beim Start nicht draufgeschaut habe. Muss etwa viertel nach elf gewesen sein. Jetzt ist es...ach, egal.

Schluss damit. Zeit für ein bisschen Schwimmen. Konzentriere Dich auf die Technik, das hilft dir am meisten. Artig die Beine zusammen lassen, am besten so, dass sich die großen Zehen bei jedem Schlag berühren. Ich versuche, „schön" zu schwimmen, aber der Nachteil der Introspektion besteht darin, dass gewisse Malaisen umso deutlicher wahrgenommen werden: Weiterhin ist da diese blöde Krampfneigung; kann wohl mit dem kalten Wasser zu tun haben, oder habe ich auf dem ersten Kilometer zu viel Druck gemacht? Außerdem muss ich weiterhin frieren, jedenfalls beim Durchschwimmen kalter Zonen, was ja nun auch kein echtes Wunder ist, hihi, das ist ja das Wesen der Kälte, dass man in ihr friert.

Klar: Man kann sich natürlich einen Neoprenanzug anziehen, aber dann, so markiere ich den Kernigen, könne man ja auch gleich mit der Fähre fahren. Ein richtiger Langstreckenschwimmer trägt eine Bade- hose. Oder einen Badeanzug, wie die von mir so hochverehrte Gertrude Ederle.

Und noch eine Malaise macht mich etwas missmutig: Ich fühle mich schlapper, habe hier im Wasser aber keinen richtigen Appetit – jedenfalls nicht auf Banane und Gels. Ein schöner Schweinebraten, ordentlich salzig- das wäre was. Den gibt’s hier aber nicht, ließe sich schwimmend auch nur schwer verzehren. (Ein aufblasbarer Schwimmtisch! Komplett eingedeckt! Dringend erfinden!).
Alle halbe Stunde stopfe ich mir also weiterhin eine halbe Banane in den Mund und brüstele ein paar Züge, solange, bis ich den Klumpen hinabgewürgt habe. Mittlerweile passiert es allerdings immer häufiger, dass die Banane schwuppdiwupp wieder rauskommt, besonders dann, wenn ich unfreiwillig einen besonders großen Humpen Seewasser verschlucke – und das kommt vor. Vor allem, wenn wir von der Autofähre überholt werden, die mich mit Wellengang verwöhnt. Auf der Fähre stehen Schaulustige, von denen man mir später berichten wird, sie hätten gejubelt und angefeuert – vorerst kriege ich hiervon allerdings nichts mit, wegen der Ohrenstöpsel.




Blick zum Kirchturm. Nein, kann gar nicht sein. Der war doch vor einer Stunde exakt genauso groß wie jetzt, oder nicht? Ich will melancholisch seufzen, aber just in dem Moment sprudelt wieder mal mein Mageninhalt empor, und Seufzen ist nicht. Klappe halten, weiterschwimmen. Ist ja alles freiwillig. Freiwillig? Ich grüble schwimmend über Wille, Wasser, Freiheit, eingebildete Freiheit, Zwänge, denen man sich selber unterwirft, Journalisten am Ufer, Bananenkotze, die sorgenvollen Blicke der Begleiter, und immer mehr unverdauliche Zutaten mischen sich in den Gedankeneintopf: Wie konnte ich zu diesem verschlagenen Egomanen werden, zu diesem kriselnden Gernegroß, schluchz, zu diesem mickrigen Besserwisser mit schütterem Haar, bibber, bald ist alles vorbei, aua, es krampft, ist da vielleicht irgendwo ein Fisch? Nein, nur ein Mikropartikel in meiner Tränenflüssigkeit. Luftblasen. Vom Grund? Von mir? Je kälter das Wasser, desto mehr Harndrang. Schade, dass ich schwimmend so schlecht pinkeln kann. Geht nur mit Totermann. Und die Crew ist bestimmt jetzt schon genervt, bei meinem Wasserschneckentempo. Also weiter. Schnatter. Was mache ich hier? Ich will auch in so’n Boot.

Mit sieben bei Herrn Steigerwald Schwimmen ge- lernt. Immer habe ich damals gefroren. Ich wog 20 Kilo, eine halbe Stunde im alten Oldenburger Hal- lenbad, und ich zitterte stundenlang. Und warum jetzt wieder frieren, vier Jahrzehnte später? Lernst Du gar nichts dazu, Boning? Bissu doof? Kümmere Dich mal um die wichtigen Sachen! Zuhause sind Steuerunterlagen, die müssen sortiert werden! Theatertext lernen! Grrrrr, Scheibenkleister, es krampft schon wieder, jetzt in beiden Beinen. Nicht bewegen. Schön die Arme arbeiten lassen. Ruhe dahinten. Wie zwei Besenstiele schleppe ich die Beine durchs Wasser.
  



Blick zum Kirchtum. FUCK, warum sieht der immer noch genauso klein aus? Ist doch bestimmt wieder eine Stunde rum? Warum wird der nicht größer? Ein schönes Gewitter, das wär’s. Dann bestünde Blitzgefahr und man dürfte sofort raus. Links und rechts Wolkentürme. Überm Pfänder, bei Bregenz, sogar leicht gewitterförmig. Blick nach hinten: Friedrichshafen auch quellwolkig. Huch, ist Friedrichshafen noch groß. Immer noch irgendwie größer als Romanshorn. Über uns: Märchenhaft blauer Himmel. Hui, ist das Wasser hier kalt. Geis- terbahneffekt: Hallo, ich bin’s, das Kältemonster aus der Tiefe! Krampf. Kotz. Kirchturmblick. Aha. Jetzt kann ich Bäume unterscheiden. Da tut sich was!

Stundenlang geht das so. Immer dicker und düsterer wird der Eintopf, der da innerlich vor sich hin köchelt. Aber, merkwürdig: Über eine Aufgabe denke ich nie nach. Vielleicht, weil’s das erste Mal ist. Da ist immerhin der Reiz des neuen. Alles neue Krisen. Das Kirchturmproblem kenne ich vom Laufen und Radfahren nur in Ansätzen, etwa bei der schnurgeraden Straße, die durch den Perlacher Forst aus München herausführt. Aber die hat man nach einer Viertelstunde hinter sich. Oder die langen Geraden beim Bienwaldmarathon in Kandel – verglichen mit einer Geraden auf See natürlich pillepalle.
Insofern ist dies eine echte Bereicherung des Er- fahrungsschatzes, die ich zu genießen versuche. Und das klappt, auf der Empore über der Eintopfebene, recht gut.


So. Irgendwann, Stunden später, stopfe ich mir eine weitere Banane in den Mund und höre durch die Silikonstöpsel: „Noch ein Kilometer!" Yeah, das tut gut! Wir passieren ein paar Segel- und Fischerboote, mal wieder verkrampfte Besenstiele hinter mir herziehend, nehme noch ein Schlückchen Cola, ich mache unter dem Kirchturm Yachten aus und entstöpsele meine Ohren, um mich nun, da ich sicher weiß, das Ufer zu erreichen, a bisserl durch die Gespräche der Crew unterhalten zu können. Oliver schwimmt mal wieder neben mir und versucht seinen Freunden zu erklären, wo genau sich jene Treppe befindet, an der ich Land betreten soll. Schwierig zu erkennen. „Jetzt sind’s noch achthundert Meter" sagt der Skipper, und ich re- agiere nachgerade panisch. „WAAAS? Eben war’s doch nur ein Kilometer, und das ist doch ewig her!" Er zuckt mit den Schultern, der Gute. Tja, mal wieder etwas abgetrieben. Ist uns strömungsbedingt heute ein paar Mal passiert, so dass die Strecke am Ende 12,7 km beträgt.
Seezeichen 24, nur noch wenige 100 Meter
Schließlich überstürzen sich die Ereignisse: Gar- tenabfälle im Wasser! Ein Hinweisschild für Boote, auf dem „24" steht! Ich schalte um auf Omabrust, damit ich alles ganz genau wahrnehmen kann - immerhin liegen nun die schönsten Augenblicke meiner noch jungen Schwimmerkarriere vor mir. Schon sehe ich badende Jugendliche vor der Treppe an der Hafenmauer. Eine Frau sitzt auf einer Stufe und sonnt sich. Neben ihr ein... Moment... ein Kajak. Dahinter parkende Autos. Lancia. Fiat. Und dann, tatatata, tauche ich unter, um den Boden zu inspizieren, richte mich auf in die Vertikale, genieße den Kies unter meinen Füssen, erinnere mich, dass Oliver mich am Morgen vor der Rutschgefahr auf eben dieser Treppe gewarnt hatte, klettere vorsichtig über ein paar Felsen, sitze auf der Treppe, stelle mich in äußerster Zeitlupe reglementgerecht auf, so dass die Zeitnahme beendet werden kann. Piep.



Unfassbar. Sieben Stunden vierundzwanzig Minuten. Ein Rekord für die Ewigkeit. So langsam ist in der Geschichte der offiziellen Bodenseequerung noch nie jemand über den See geschwommen. Klingt jetzt etwas albern, aber dies ist ein Rekord, auf den ich ziemlich stolz bin, ganz im Ernst. Ich bin ja in Wirklichkeit gar kein Schwimmer. Aber Weltmeister.
Merke: Das tun, was man eh kann, kann ja jeder. Interessant wird‘s, wenn man sich an etwas versucht, was man - eigentlich - NICHT kann.
Schön, die warme Abendsonne auf der zittrigen Haut. Ein Interview für eine wartende Journalistin, dann zurück zum Boot schwimmen, abtrocknen, rüberheizen. Danke. Vor allem an Oliver und seine Supercrew. Aber auch an Poseidon. Und Dich, liebe Leserin, lieber Leser.




17. Juli 2014 
 

Samstag, 9. Februar 2019

Frieren macht Spass!




Angespornt durch unser grandioses Erlebnis im Hallenbad Haar, suchte ich nach neuen schwimmerischen Herausforderungen, und schnell stand fest: Der Bodensee will durchquert werden. Beseelt von diesem Ziel, stürzte ich mich bereits zu Ostern in die Fluten des eisigen Gardasees, um Erfahrungen im freien Wasser zu sammeln. Nach 15 min im Nasskalten brauchte ich anschließend mindestens doppelt so lange, um wieder warm zu werden. Der Körper begegnet der Ausnahmesituation mit Zittern. Ich schlotterte in einer Art, die ich zuvor nie kennengelernt hatte. Keinen Schluck Tee konnte ich mir einverleiben, weil ich bereits nach Sekunden alles verschüttete hatte - so sehr zitterte ich. Mich irritierte und begeisterte dies: Da geht man auf die 50 zu und lernt nochmal eine völlig neue Körperfunktion kennen. Heisse Dusche hilft dem Körper dabei übrigens nicht, eher ein Heizkörper als Lehne. Ansonsten gilt: Einfach auszittern lassen. 

Täglich stieg ich in irgendwelche Seen, Flüsse, Tümpel und lernte Deutschland nochmal ganz neu kennen. Erste Frage, wenn ich irgendwo hinkam: Wo kann man hier ins Wasser hüpfen? Dessen Qualität war mir eher egal. Ich fand zB Alster und Spree bestens zum Schwimmen geeignet, habe auch immer gerne vom Wasser genippt. Krank wurde ich nie.

Wenn ich länger unterwegs war, schleppte ich an einer Leine ein kleines Kinderschlauchboot hinter mir her, in dem ich Banane, heissen Tee und Wechselkleidung verstaute. Später professionalisierte ich die Ausrüstungsfrage und schaffte mir eine Schwimmboje an. Ein schöner Nebenaspekt am Schwimmen ist, dass man mit einer Navi-App im Handy, wenn man es in der Schwimmboje dabei hat, wunderbare Zeichnungen anfertigen kann. Zum Beispiel der Lerchenauer See in München. Der ist umgeben von Hochhäusern und darum eine ganz lustige Location:

Und wenn man ganz normal ein paar Runden dreht, sieht das so aus:

Ist klar. Man kann aber auch gegenständlich zeichnen und Obst schwimmen, etwa hier, im Berliner Schlachtensee, eine Banane:

Im oberbayerischen Wörthsee schwamm ich diese Pantoffel:

Im Fühlinger See in Köln schwamm ich eine stylische Brille:

Dort, an der Kölner Ruderregattaanlage, wurde ich auch von Zerkarien attakiert. Das sind kleine Würmer, die sich als Parasiten durch die Haut von Wasservögeln bohren, um in deren Körper ihre Eier abzulegen. Manchmal, bei sehr warmen Temperaturen, versehen sich die Tierchen und versuchen, sich in Menschen hineinzubohren - so auch in meinem Falle. Auf halbem Wege bleiben sie dann in der Haut stecken und verenden dort. Folge: Ungewöhnlich starker Juckreiz, Geschmackstyp Hundefloh (meinte anfänglich, von eben solchen attackiert worden zu sein). Heilt von alleine aus. Vorbeugung: Vaseline. 
2014 war auch das Jahr der Fussball-WM. Nachdem Deutschland ins Finale eingezogen war, schwamm ich im Münchener Fasaneriesee diesen World Cup:

Absch(l)iessend noch eine Handfeuerwaffe (Räuberpistole):

Bestens vorbereitet machte ich mich im Juni auf nach Wilhelmshaven, um am dortigen Leuchtturmschwimmen teilzunehmen, 5,5 km in der Nordsee. Meine Premiere als Freiwasser-Langstreckenschwimmer verlief dann aber anders als erwartet, und anschließend schrieb ich den folgenden Bericht:

Wilhelmshavener Leuchtturmschwimmen 28.6.2014

von Wigald Boning


Vor Monaten hatte ich mich zum Leuchtturmschwimmen in Wilhelmshaven angemeldet und mir vorfreudig einen neuen Neoprenanzug zugelegt. Bei der Vorbesprechung heute Mittag am Helgolandkai erklärt Organisator Traugott, man könne auch auf eigene Verantwortung ohne Neo mitschwimmen, aber nun hatte ich mich schon in die Pelle gezwängt, Wassertemperatur kühle 16 Grad, jetzt, so beschloss ich, bleibe ich im Erdölsmoking. 

Der Wetterdienst warnt: Gewitter nahen aus NL heran, Blitzgefahr fifty-fifty. Probieren wir's. 80 Sportsfreunde nehmen in einem Dutzend DLRG-Booten Platz, schippern Richtung Leuchtturm Arngast. Das dauert, man wartet aufeinander, schlechte Funkverbindung, am Horizont zieht's zu, bange Blicke.

Bei mir im Boot ein knorriger Veteran mit Flossen, ein netter langer Dünner, ein ehemaliger Handballer in Kurz-Neo, ein Holländer, und noch mehr Leute, hinterm Kapitän. Leichte Überbelegung. Bei der Ausfahrt wird's windig, das Boot stemmt sich durch die Wellen, und ruckzuck steht das Boot unter Wasser. Der Käpt'n setzt uns um, weiter geht's, wenig später müssen wir jedoch einen Sportler vom Nachbarboot aufnehmen, das wegen Überlast abzusuppen droht. Haha-Havarie. Am Leuchtturm angekommen heißt es warten: Schwimmer fehlen, stehen offenbar noch im Hafen. Nanu. Die Front am Horizont wird immer düsterer.

Meine Eltern schaukeln derweil in einem Fahrgastschiff in Winkweite, schauen zu und wundern sich wohl, warum's nicht losgeht. Schon springen die ersten Wasserfreunde in die Fluten. Hieß es nicht eben, man soll noch warten? Verwirrung, flache Witze, der Himmel ist inzwischen schwarz. Ein Schlauchboot bringt die letzten Nachzügler. "...Schwimmer in die Boote...evtl Abbruch..." meint man dem Funkverkehr zu entnehmen. Der Mann im Kurzneo friert wie ein Schneider, und ich bin froh, dass ich nicht versucht habe, nur in Badehose mitschwimmen zu dürfen. Beschluss: Das Rennen wird verkürzt.

Wir nehmen Kurs auf die erste Markierungsboje, manch Gesicht ist inzwischen blass, die Schaukelei verträgt nicht jeder; inzwischen sind wir bereits ein knappes Stündchen auf See. Ein Blitz durchzuckt das Jade-Panorama.Als wir an der 
Boje ankommen, ca 4km vom Strand entfernt, öffnen sich die Himmelstore und gewaltiger Regen setzt ein. Binnen Sekunden ist die Küste nicht mehr zu sehen, wir setzen unsere Schwimmbrillen auf, um die Augen vor Graupelschlag zu schützen, kauern uns auf den Bootsboden. Kommando überflüssig; der wackere DLRGler stürmt mit Boot und uns genHafen. Der Rückweg verläuft in gelöster Stimmung, ich lasse mir von knorrigen Flossenveteran das "Kardinalssystem" der Seezeichen erklären, wir sind froh, dass der Spuk ein Ende hat, und schließlich erspähen wir auch am Südstrand das Ziel.

"Das wäre ihr Ziel gewesen" kommentiert der Ex-Handballer rudicarellesk, und alle lachen. 

Im Hafen erfahren wir, dass unsere Klamottenbeutel inzwischen im Ziel sind, also spazieren wir dorthin, und als wir dort eintreffen, heißt es, die Klamotten seien inzwischen in den Hafen gebracht. Alles nicht so einfach. Traugott, ich hab Dich lieb.

Inzwischen lacht die Sonne.

 

Ich kürz mal ab: Es war ein schöner weil ereignisreicher Tag! Hätten wir ganz lapidar geschwommen, hätte ich niemals so viel erlebt. Von den bisherigen 5 Veranstaltungen mussten 3 abgebrochen werden, die heutige sechste wurde gar nicht erst begonnen. Und dennoch wurden alle klatschnass. Also quasi ein Schlag ins Wasser - aber eben andererseits gerade nicht. Nächstes Jahr bin ich wieder dabei, versprochen! Und wenn ihr wieder abbrecht, komme ich im übernächsten Jahr wieder! Ich fänd's sogar prima, wenn diese Veranstaltung grundsätzlich abgebrochen werden würde, quasi als traditioneller Unique Selling Point. "Die Veranstaltung, die nie duchgeführt wird" - ich wäre dabei!

Und nach Kaffee und Kuchen mit Mama und Papa tunkte ich noch kurz in die Nordsee ein. Wo ich denn schon mal da bin.




Donnerstag, 7. Februar 2019

24 Stunden Schwimmen

Wenn doch meine sportlichen Helden vornehmlich Schwimmer sind, sollte ich es nicht eventuell auch einmal mit H2O ausprobieren? Ski Heuler Carsten Schneehage sah es ähnlich: Beide hatten wir allerhand Erfahrung mit 24-Stunden-Sportveranstaltungen in unterschiedlichen Disziplinen, aber Schwimmen fehlte auch in seinem Erfahrungsschatz. Da lasen wir von einem 24-Stunden-Schwimmen im Hallenbad in Haar bei München im Januar 2014 und waren sofort Feuer und Flamme (passt gut zu Wasser).
Haar ist in München nicht zuletzt als Standort eines großen psychiatrischen Krankenhauses bekannt, das sich unweit des Hallenbades befindet. Passt doch; auf gehts!
Problem: Carsten und ich sind eher mäßige Schwimmer, und Schwimmtraining so gar nicht unser Ding. Im Hallenbad kann es sein, dass ich bereits nach 5 min auf die Uhr gucke, äußerste Ödnis verspüre und heim will. 24 h im Hallenbad, so mutmaßten wir: Das dürfte die Hölle auf Erden sein. Wir versprachen uns mit Handschlag, vor der Veranstaltung nicht ein einziges Mal üben zu gehen. Sprung ins kalte Wasser quasi. 

Ein 25-Meter-Becken, runde 100 Teilnehmer. 5 Bahnen, ganz rechts: Die „Kinder-und Seniorenbahn". Unsere! Carsten wuchtet einen Umzugskarton mit Riegeln an den Beckenrand, Badekappe auf, und Schlag 12 gehts los. An Tapetentischen sitzen Helfer und machen Striche auf Listen. Ich schwimme immer abwechselnd eine Bahn Brust, eine Kraul, fifty-fifty. Nur nicht hudeln, gerade als Brustschwimmer ist Überholen stressig. Im Zweifel einfach einreihen und schön artig im Gänsemarsch hin und her. 
Alle zwei Stunden Pause. Nein, die Hölle ist das hier nicht. Auf der ganz linken Bahn sind die krassen Cracks unterwegs, bei uns herrscht eher betuliche Kindergeburtstagsatmosphäre. Auch ein recht betagter Schwabe ist unterwegs, der kaum je das Becken verlässt. „Ich habe bezahlt und zieh das durch" schmunzelt er.
Am späten Abend leert sich das Becken, viele legen sich ein paar Stündchen aufs Ohr, und ich genieße den Freiraum, der sich auftut. Farbspiele unter Wasser und Rockmusik aus dem Lautsprecher. Eine mehrstündige Phase guter Laune weicht irgendwann einer Reizung der Lunge durch Chlor. Immer, wenn ich Wasser schlucke, muss ich husten. Und ich schlucke viel! So wie mir geht es allen, und mancheiner muss abbrechen. Grosse Fenster werden geöffnet. Die Luftqualität steigt, aber dafür wird es empfindlich kalt. 


Durchgefroren stelle ich mich unter die heisse Dusche. Das fühlt sich herrlich an, aber der anschließende Gang ins Becken ist umso unangenehmer. Erstmal eine Gulaschsuppe mit Carsten, dann sehen wir weiter.

Ich schwimme durch bis zum Vormittag, 1120 Bahnen hin und her - das sind 28 km. Dann habe ich keine Lust mehr. Immerhin reicht dies für einen Platz unter den Top 10 bei diesem Wettbewerb - eines meiner besten Resultate ever.
Carsten überredet mich, mir zum Frühstück ein Weizenbier zu gönnen. Das ist sehr lustig, weil ich auf der Stelle so betrunken bin, dass ich mich auf dem Heimweg zur S-Bahn (100 m, schnurgeradeaus) sogar verlaufe. Und als ich in der S-Bahn sitze, schlafe ich umgehend ein und wache erst an der Endhaltestelle wieder auf. 


Der rote Punkt an meiner Schulter kommt übrigens vom Kraulen. Ich war nämlich schlecht rasiert, und mein Kinn schubberte dort entlang, auf jeder zweiten Bahn. Steter Stoppel höhlt die Haut, wie man so schön sagt. 

Tainted Love

Die gestrige Sendung mit Marc Almond: Mein persönliches Highlight. Schon bei allen Proben war unser Wohnzimmer ungewohnt belebt. Eine Atmosphäre, wie ich sie das letzte Mal in den 90ern erlebte, als Depeche Mode bei RTL Samstag Nacht auftrat. Charismatissimo.
Ich gab mir große Mühe, ihn bei Laune zu halten, etwa mit Jürgen Urigs und meiner privaten Theorie, dass Tainted Love auch deshalb so ein Megahit wurde, weil da ja am Anfang diese schlangenzungenzischartige Elektropercussion ist. Und es steckt uns in den Genen, auf diese Geräusche alarmiert zu reagieren: Man nimmt unwillkürlich die Füsse hoch, um nicht gebissen zu werden. Der Schritt zum Tanzen ist dann klein. Fand er lustig, diese Theorie. Sein einziger Wunsch für die Zukunft: Einfach weitermachen, nach dem Vorbild Charles Aznavours, den er noch mit über 90 auf der Bühne bewunderte. Um ein Selfie hat ihn gestern niemand gebeten, dafür war bei uns allen die Ehrfurcht gar zu groß. Aber meine Managerin Steffi hat uns beim offiziellen Fototermin mitgeknipst. Jetzt hat sie kein Bild, Mist; ich werde ihr bei Gelegenheit eines fotoshoppen. 
Zurück zum Sport. Wo war ich? Ach ja, Ski Heul. Passt ganz gut, denn einen weiteren meiner „Helden in der Wirklichkeit", wie der FAZ-Fragebogen sie nannte, ist seit unserem 24-Stunden-Skilanglauf der Dresdener Uwe Weist. Kam mit preisgünstigen Nowax Ski angereist und legte Runde um Runde im Marschierschritt zurück, betreut von seiner Frau. Und wenn wir Jungspunde pausierten, nahm er nur kurz einen Schluck aus der Pulle und stiefelte weiter. Seine Beharrlichkeit hat uns damals tief beeindruckt. Außerdem ist er ein feiner Kerl, angenehm entspannt, nicht anders als Marc Almond. Wahrscheinlich ist auch Uwes Ziel, einfach weiterzumachen, so lange es geht. Aznavourianer auch er.
Im Sport habe ich so einige persönliche Helden. Etwa Baron Rokeby (1733-1800), der in Kent lebte. 

Der Träger eines immer länger werdenden Bartes (reichte in späten Jahren angeblich bis zum Boden) war ausgesprochen schwimmbegeistert, schwamm zunächst bei Wind und Wetter stundenlang im Meer. Später baute er sich eine Art Orangerie mit Schwimmbecken, in dem er seine Tage verschwamm. Der freundliche Exzentriker ging immer seltener an Land, lebte schließlich amphibisch wie ein Frosch und wäre sogar mehrfach fast ums Leben gekommen, als er nämlich im Wasser das Bewusstsein verlor. Er ernährte sich ausschließlich von Fleischbrühe und Wildbret, heizte nie und war bei seinen Freunden berüchtigt für seine enorm langen, langweiligen Gedichte, die er ihnen im Leierton vortrug.
Meine Lieblingssportler sind, wie mir soeben auffällt, fast alle Schwimmer. Ganz oben rangiert bei mir Gertrude Ederle, die erste Frau, die den Ärmelkanal durchschwamm.
Die New Yorkerin gewann bei den Olympischen Spielen 1924 einmal Gold und zweimal Bronze, ehe sie 1926 von Cap Gris-Nez nach Dover schwamm, brutto 56 km in 14 Stunden und 32 Minuten. Ganz nebenbei: Ederle war die erste Sportlerin, die einen Werbevertrag hatte, nämlich mit Rolex. Sie trug während ihrer Ärmelkanaldurchquerung das erste wasserdichte Modell. 
Bereits als Kind war „Trudy", wie man sie in USA nannte (und nennt) schwerhörig, und mit ihrer Ärmelkanaldurchquerung verschlechterte sich ihr Hörvermögen rapide. Man nimmt an, dass das Salzwasser ihre Trommelfelle angegriffen hatte. Taub war sie spätestens ab 1940, zudem durch eine Wirbelsäulenverletzung zwischen 1933 und 1939 an den Rollstuhl gefesselt. Nachdem sie durch unermüdliches Training wieder laufen gelernt hatte, brachte sie täglich taubstummen Kindern das Schwimmen bei - bis sie 2003 im Alter von 98 Jahren starb. 



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