Samstag, 23. Februar 2019

Post-Vegan

Veganer sein will jeder, schon wegen der edlen ethischen Aspekte. Aber etwas anstrengend ist es denn doch, den Veganismus wirklich ernst zu nehmen. Eine nonchalantere Variante des Veganismus entdeckte meine Frau gestern zufällig in der Essensliste einer Reisegruppe, die in jenem Hotel auslag, in dem wir an diesem Wochenende nächtigen. „Vegan (aber mit Fleisch)" - das ist DER Trend der Zukunft. Post-Veganismus. Viele, ja fast alle, sind bereits Post-Veganer und wissen es noch gar nicht. Den Begriff führe ich hiermit offiziell in die Gastrosophie ein, inspiriert vom Postkasten an der Außenwand des Hotels. 

Die Geburtsstätte der jüngsten Ernährungsrevolution liegt in der Oberpfalz, wo meine Frau derzeit bei einem Chortreffen Einzelstimmbildungen durchführt und ich derweil tiny Theodor über die Jura-Hügel trage. Gestern inspizierten wir zusammen die Schlossruine Velburg, die Hohlloch-Höhle und den Herz-Jesu-Berg. 

Oben auf dem Herz-Jesu-Berg steht eine Kapelle, deren Fassade auch nicht mehr unbefleckt ist. Ja, auch die katholische Kirche ist in Einzelfällen nicht ganz sauber. Schwanger ja, Sex nein. Also Fleisch und vegan - eine Soße. So, jetzt habe ich Hunger. Ich geh‘ mal Happahappa.



Auf Mecklenburg-Vorpommerns höchsten Berg



Juni 2018. Rot geht im Osten die Sonne auf, als ich morgens um fünf von Berlin-Weissensee kommend auf der L100 durch Wandlitz rolle. Mein Tagesvorhaben: Von der Teutonenmetropole auf dem Faltrad nach Usedom, wo ich mit Carlo von Tiedemann am darauffolgenden Tag eine weitere Folge unserer lustigen Kurorte-Porträtreihe drehe. Der Sommer ist heiss, und zur Belohnung für einen langen Tag auf dem Faltrad imaginiere ich ein erquickendes Bad in der Ostsee. 

Ab Bischofswerder fahre ich an der meditativ mäandrierenden Havel entlang, bis nach Zehdenick, wo ich lecker Pflaumenkuchen frühstücke. Über die 109 gehts weiter nach Templin, das verwunschene Backsteinidyll. Staksig waten Reiher im Winde; Kinder warten in Reihe, trainieren für die Spartakiade, hätte ich fast geschrieben. Danach gehts auf einen langgestreckten, zum Radweg umgebauten Bahndamm, der durch einen Auwald führt. Dort begegne ich einem weißgreisen Liegeradler, mit dem ich plausche. Er versucht mich fürs Liegeradeln zu begeistern, ich wende die mangelnde Bergtauglichkeit ein. Und damit gebe ich mir selber ein Stichwort. Berge. Höchste Eisenbahn, zu überprüfen, ob ich nicht zufällig am höchsten Berg Mecklenburg-Vorpommerns vorbeikomme, um diesen meiner 16 Summits-Sammlung beizufügen. Check: Ja, der Helpter Berg liegt zufällig am Weg. Dascha‘n Ding! Er befindet sich zwischen der Stadt Woldegk und der Gemeinde Helpt, und ich erreiche ihn am Mittag, nach etwa 125 km Wegstrecke. Die Gegend ist gewellt, von lieblichem Charakter, alte Eiszeit, so eine Wuthering-Hights-Landschaft. Man könnte hier auch Rosamunde Pilcher drehen. Von der Strasse aus ist die höchste Kuppe eher mitteldeutlich erkennbar, auch, weil die Hügel mit opulenten Waldfrisuren verziert sind. Der Fernsehturm schließt aber alle Zweifel aus, fungiert wie ein Textmarker. Ja, Sie sind richtig, HIER spielt die Musik!


Und da erkenne ich auch schon ein Hinweisschild, das den Helpter Berg als touristisches Highlight ausweist:
Ich stelle mein Rad ab. Mein Ostseeausflug wird somit zu einer recht umfangreichen Kombitour; der Gipfelsturm muss zu Fuss absolviert werden. Zunächst geht es einen schmalen Ackerpfad bergauf:

Dann geht es auf wenig begangenem Weg durch den Wald. Leichte Orientierungsschwierigkeiten. Manches ist zugewachsen, andere Baumschneisen meinem Navi unbekannt. Haupthinderniss der Unternehmung sind jedoch die Mücken, die in diesem Wald jeden erbarmungslos attackieren, der ungebeten eindringt, um den Gipfel zu erobern. „Kurze Hosen, Radlerleibchen: Lecker!" -schmatzen sie gierig.
Bald nähere ich mich dem Gipfel, erkennbar an der dazugehörigen Infrastruktur:


Schutzhütte rechts, Parkbank mittig, davor das Gipfelkreuz. Macht alles einen eher selten besuchten Eindruck, aber vielleicht bin ich auch als Laie außerhalb der Saison hier - eben dann, wenn die Mücken ihr Unwesen treiben und kein Local, kein Mecklenburger Sherpa den Weg wagen würde.


Ich erledige einige der Biester und zwinge mich zu einem Lächeln für das Gipfel-Selfie. Schauspielerische Glanzleistung, denn alleine während der kurzen Belichtungszeit verliere ich einen Deziliter Blut. 

Aussicht im konventionellen Sinne ist eher nicht vorhanden, demzufolge auch kein Panorama. Nur dichte, verschwirrte Waldeinsamkeit. 
Nach dem Abstieg setze ich mich wieder auf mein Rad und kühle meine Stiche mit scharfem Fahrtwind. Durst; der Blutverlust will ersetzt werden. Um meine leeren Flaschen zu füllen, lade ich mich bei einer äußerst abgelegen wohnenden, s e h r   l a n g s a m   s p r e c h e n d e n  u n d  s i c h  b e w e g e n d e n  Frührentnerin in DDR-Kittelschürze in die Wohnküche ein, und der Pilcher-Film bekommt einen Touch Stephen King: Sie verlässt das Zimmer mit den Buddeln, die Tür geht zu. Nichts passiert. Beklommenes Warten. Nach einer Viertelstunde ist sie wieder da, die Flaschen voll, ich am Leben. T s c h ü s s !
Weiterer Tagesverlauf: Mittagessen in Friedland, mit der Radlerfähre von Anklam nach Usedom, mit perfekt gecastetem Seebär. Weiter in die Kaiserbäder, und dann, nach 216 km: Rein in die Fluten.





Donnerstag, 21. Februar 2019

Die letzte Skitour meines Lebens

...führte mich in die bayerische Staatsoper. Nachdem ich noch morgens am Kleinen Pfuitjoch gescheitert war, erstieg ich hier immerhin den höchsten Rang. 
Los ging’s um 9 Uhr. Zugankunft in Lähn, Tirol. Ich treffe dort Sohn Cyprian, der sich seiner Semesterferien erfreut. Felle auf die Ski und los. Gestern hatte ich extra ein Paar neue Tiefschneebänder besorgt. Braucht man im Aufstieg ja eher nicht, aber ich befestige sie Cyprian beim ersten Stopp an der Hose. Lawinengefahr gering, dafür ist der Schnee zu Eis komprimiert. Immerhin gehts ohne Harscheisen hoch. 
Ich habe das Pfuitjoch ausgewählt, weil es in einem toll bebilderten Buch als „einfach" bezeichnet wird. Auf dem Weg durch den Bergwald frage ich mich aber immer wieder, wie ich denn hier wieder runter kommen soll? Zwischen „einfach" und „babyeierleicht" scheint es da nochmal Unterschiede zu geben. Als Oldenburger, also Flachlandtiroler, habe ich Skifahren erst am Auerberg erlernt, als die gebürtigen Ostallgäuer Cyprian und Leander, damals noch Dreikäsehoche, ihre ersten Glitscherfahrungen sammelten und dabei von mir beaufsichtigt werden mussten. Da war ich schon 35. Sind mir immer suspekt geblieben, die langen Latten, wobei die Angst mit den Jahren eher größer wird. Zum Beispiel vor engen Waldpisten und steilen Eisflächen.
Cyprian hat mit Angst kein Problem, allerdings mag er die flattrigen Tourenski auf der Abfahrt nicht sonderlich. Einstweilen verdränge ich alle Probleme und stiefele flott bergauf. Das Gelände lichtet sich, das Ziel wird sichtbar. Eine Handvoll Tourengänger steht oben am Grat. Ich muss um halb fünf in München sein, Theo beaufsichtigen, während meine Gattin zur Korrepetition in der Oper darf. Kurzes Durchrechnen: Das wird knapp (vor allem schüchtert mich die Aussicht auf die Abfahrt ein). Cyprian schlägt vor, wenigstens eine Anhöhe rechts anzusteuern. Ich folge erst, dann scheue ich, biege links ab. Weiss gar nicht, wo ich hinwill. Traversiere einen steilen Hang. Unten stehen drei alte Hasen und schauen mir zu. Was macht der Mann da oben? fragen sie sich. Schneebrettgegend. Angst. Als ich wieder ebeneres Gelände erreiche, lege ich diesen als meinen Endpunkt fest. Wo ist Cyprian? Ich sehe ihn nicht mehr. Mein Telefon klingelt, er ruft an, hat ein Problem: Die von mir am Hosenbein festgeknoteten Tiefschneebänder gehen nicht runter, passen nicht über die Schuhe. Der Knoten sitzt zu fest. Au weia; mein Fehler. Nach kurzem Beratschlagen rege ich an, die Schuhe auszuziehen, Bänder abstreifen, Schuhe wieder an, Felle runter, zu mir kommen. Aufgelegt. Jetzt erspähe ich ihn, am steilen Hang seitlich über mir:


Hoffentlich passiert nichts beim Schuheausziehen. Wenn ein Schuh runterpurzelte: Das wäre blöd. 
Derweil esse ich einen Riegel, ziehe mich um und mache mich klar zur Abfahrt. Cyprian kommt, uff. Dann los. Nach fünf Metern falle ich voll auf die Schnauze. Der Schnee fühlt sich an wie Beton und meine Schulter jetzt wie Schneematsch. Zweiter Versuch. Dramatische Lenkuntüchtigkeit gepaart mit blanker Panik. Schneller Entschluss: Ski tragen, zu Fuss bergab. Zu meinem Erstaunen entscheidet Cyprian ebenso. Und so trotten wir runter zur Baumgrenze.


Am Waldrand kommen uns zwei Tiroler entgegen. Worte der Ermunterung. „Dass man oben nicht fahren kann, ist nachvollziehbar, aber im Wald ist der Schnee angetaut - versuchts amal, immer a bisserl rutschen, um die Bäume, wieder rutschen..." Ich deklamiere etwas zu dramatisch : „Ich bin zu schlecht!" , dann stiefeln wir weiter. Tatsächlich: Der Schnee ist hier angetaut, mit jedem Schritt sackt man bis zum Knie ein, manchmal gar bis zur Hüfte. An einer Lichtung entscheiden wir uns daher um: Ski an. Knapp verfehle ich im unfreiwilligen Schuss eine Fichte. Nö, Schluss jetzt. Ski runter, wieder tragen. Lieber sacke ich bis zum Brustbein ein, entscheide ich wütend. „Tuuut" höre ich unten meinen Zug nach München davonfahren. Jetzt bin ich so richtig sauer, ackere mich durch Frau Holles Hinterlassenschaft, fluche darüber, dass ich mich immer wieder von den schicken Fotos in Skitourenführern becircen lasse. Nie wieder! Ab jetzt nur noch Schneeschuhe - damit kann ich umgehen. 
Als ich nur noch 100 Höhenmeter über unserem Ausgangspunkt stehe, verliert Cyprian einen Ski, der sich im Schuss über einen kleinen Gegenanstieg davonmacht und nicht mehr entdeckt wird. Aus Zeitmangel entfällt die Suche. „Nimm meine! Ich brauche sie nicht mehr!" sage ich theatralisch (ich muss ja zur Oper), falle auf dem letzten Stück noch einige Mal hin, richtig schlechter Slapstick. Ein würdiges letztes Mal. 
Die gemeinsame Einkehr fällt aus, Cyprian fährt mich stattdessen mit Höchstgeschwindigkeit nach Füssen, dort steige ich in einen Zug, der mich pünktlich nach München bringt. Die letzten dreissig Höhenmeter ins Dachgeschoss der Oper zähle ich zur Tagesleistung dieser meiner letzten Skitour einfach mal hinzu. Ich absolviere auch den folgenden Abstieg unverletzt. Immerhin. Wie schrieb Rilke? „Wer spricht von Skifahren - überleben ist alles"

P.S.: Auf der Maximilianstrasse, vor „Dolce & Gabbana" werde ich von einer eleganten älteren Dame für meinen „mutigen Look" gelobt. Haha, das baut auf. 





Mittwoch, 20. Februar 2019

Auf Schleswig-Holsteins höchsten Berg

Mai 2018. Neue Sendung, aus einer Schnapsidee entstanden: Norddeutsche Kurbäder, die ich gemeinsam mit Schaubuden-Titan Carlo von Thiedemann besuche. Der NDR hat drei Sendungen in Auftrag gegeben, und der erste Drehort ist Malente. Als ich dies erfuhr, kamen mir sogleich die 16 summits in den Sinn; quasi routinehalber ließ ich meine kommot-App den Weg vom Hotel zum Bungsberg berechnen. Und siehe da: Machbar! Also einen Flug früher angereist, mit leichter Verkomplizierung, da die Lufthansa seit drei Wochen nur noch verpackte Klappräder transportiert, ich aber mal wieder kein Futeral dabeihabe. Also lasse ich mein Faltrad blistern - ein unerwartet spannender Sehgenuss, da die Wickelmaschine an eine Spinne erinnerte, die ihr Opfer einwickelt. 


Nach Flug und Transfer in Malente angekommen, schlage ich mir einen Backfisch hinter die Kiemen, ehe ich die Folie vom Rad reiße, dieses entfalte und am wunderhübschen Kellersee entlang durchs frühlingshafte Blö drömele. Nüchel heisst das Örtchen, für das ich nach einer halben Stunde die L178 verlasse, und die Landschaft knittert. Nicht nur kleine Eselsöhrchen, sondern veritabler Faltenwurf. Weite Schwünge, Koppen, Täler, ein Relief wie bei den Teletubbies. Kein Zweifel: Ich nähere mich dem Alpenhauptkamm der Holsteinischen Schweiz. Im kleinen Gang arbeite ich mich hinauf zum Gut Kirchmühl, dann parke ich mein Rad und rüste mich zum Gipfelsturm (heisst: Schuhe zubinden). 


Auf eher subalpinem Trail gehe ich steigungsarm zum gut erkennbaren Doppelgipfel: Einerseits ist da eine bewaldete Kuppe, zwischen deren Bäumen mehrere Bauten erahnbar sind, zum anderen eine freie Wiese, auf der ein Granitblock, aufgestellt von der dänischen Landvermessungsbehörde im Jahre 1838, den höchsten Punkt markiert, nämlich 168 Meter über N.N.

Doch gemach. Zunächst betrete ich den höchsten Hain Schleswig-Holsteins, an dessen Zuweg ich eine sonderbare Skulptur passieren. Was ist das? Ein Hünengrab? Grübelgrübel...


So ähnlich. Eine Plakette weist das Gebilde als Kletterfelsen nach Industrienorm EN 1176 aus, erbaut in Cottbus, Projekt-Nummer 2013-09-93. Das Innere der Konstruktion taugt auch als Unterstand, urteile ich fachmännisch, bin erfüllt vom Gefühl, ein Meisterwerk brandenburgischer Freizeitarchitektur kennengelernt zu haben, und denke an Helmut Kohl, der von Deutschland als einem „Freizeitpark" sprach, womit er zum Ausdruck bringen wollte, dass emsiges Arbeiten nicht mehr so recht unser Ding sei.

50 Meter weiter betrete ich das eigentliche Gipfelplateau, auf dem sich Kultbauten aus gleich mehreren Epochen besichtigen lassen: Der Elisabethturm (erbaut vom Oldenburgischen Großherzig 1884 - quasi „unser" Beitrag), dann die Gastwirtschaft „Waldschänke", der Kleinkinderspielplatz, fein säuberlich getrennt vom Kinderspielplatz, die Logistikgebäude der Stiftung, die sich um die Versiegelung, äh, Attraktivisierung des Bungsberges bemüht, dann das Stiftungsgebäude selbst („Wenn‘s um Geld geht: Sparkasse"), ein „moderner" Fernsehturm mit Aussichtsplattform (bei guter Sicht Blick auf die Ostsee), eine „Gletscherrinne", ein „Besiedelungsplatz", und, gleichsam als Open-Air-Foyer dieser Kultstätte: der Parkplatz. 

Wer wird hier angebetet? Der Gott der Zerstreuung, dessen Heilige die Mainzelmännchen sind, der Zonk, das Sandmännchen? Sein „Großer Gott wir loben Dich" ist die Tagesschau-Melodie, der SAT-1-Ball eine seiner Ikonen. Ja, Funk und Fernsehen sind hier vertreten, mit einem in seiner Vielfalt weltweit einzigartigen Ensemble unterschiedlicher Sendeanlagen. Sogar der Elisabetturm diente zwischen 1954 und 1960 als UKW-Sendeanlage. Der Bungsberg hat eine Mission, er atmet Sendungsbewusstsein.

Aber der Bungsberg ist eben nicht nur Kultstätte der Television, sondern auch des konkret-körperlichen Vergnügens. Auf dem Bungsberg befindet sich Schleswig-Holsteins einziges und Deutschlands nördlichstes Skigebiet. Wenn die Schneelage es zulässt, bietet der Nordosthang Mehrere Abfahrten, die in allen Varianten nach circa 25 Sekunden enden. 1970 wurde der 500 m lange Schlepplift installiert, eine Investition, die sich ob der konkurrenzlosen Schneesicherheit des Bungsbergs bereits nach wenigen Wintern amortisiert hatte. Hoppla; jetzt habe ich mich kurz von meiner Phantasie davontragen lassen. Pardon. Nein, ohne Witz: Rekordwinter war die Skisaison 2009/10 mit 54 Lifttagen. Immerhin. 


In internationalen Skigebiets-Test-Magazinen schneidet der Bungsberg zumeist deutlich hinter Lech, Zürs und Cortina d’Ampezzo ab. Mit einer Bewerbung um die Ausrichtung olympischer Winterspiele konnte man sich bisher nicht gegen die starke Konkurrenz durchsetzen. Obwohl ich‘s toll fände. Dann würde sogar ich wieder Olympia gucken. Die hiesige Sendelogistik erfüllt schon mal allen denkbare Erwartungen, zugebaut ist eh alles, und bei Schneemangel lässt sich auf Ersatzdisziplinen wie Hünengrabklettern ausweichen.


Am Gipfelstein lungern zwei Halbstarke mit Ghettoblaster herum, trinken Schlüpferstürmer und hören Piff Diddy. Als ich mich nähere, drehen sie artig am Volumenknopf, und der Rap ebbt ab. Ich bitte sie, mich auf dem Stein stehend zu fotografieren, eine Bitte, der sie beflissen nachkommen. „GM" bedeutet übrigens: „Gradmessung" - eine veraltete geodätische Methode zur Berechnung der Erdfigur. 


Der Abstieg verläuft komplikationslos; ich erreiche wenige Minuten nach meinem Gipfelglück das wohlbehaltene Rad und rolle das Bungsbergmassiv hinab zurück nach Malente. 34 km Radtour hin und zurück. Und dann beginnt der Dreh. 



Dienstag, 19. Februar 2019

Was macht eigentlich Problembär Bruno?


...fragten sich Sohn Leander und ich, klemmten uns Klein-Theodor untern Arm und spazierten zum Museum Mensch und Natur im Nymphenburger Schloß. Zunächst folgen wir unserer Nase in die Abteilung Erdgeschichte. Theo bearbeitet jene Glasvitrine, in der Galileo Galilei als historisch gewandete Big-Jim-Figur für das Konzept der Erde, die angeblich um die Sonne kreist, mit Fäusten. Ja, der unverbogene junge Geist steht den Konzepten der Wissenschaft mit größerer Skepsis gegenüber als wir alten Hasen, die etwa auf die Evolutionstheorie schauen wie die Kanichen auf die Schlange, um im Nagetier-Bild zu bleiben. Womöglich haben sich Giordano Bruno, Kopernikus, Galilei, Einstein allesamt geirrt, und der liebe Gott schuf den ganzen Kram in sechs Tagen, eher er sich am siebten ausruhte, und zwar auf einer riesigen bunten Hängematte, deren rudimentärer Rest heute noch der Regenbogen ist. Na klar; man kann sich fragen, warum Gott die Hängematte falsch herum aufgehängt hat, nämlich mit der durchhängenden Seite nach oben. Kann man, ja. Aber ist das Mattenaufhängen gegen die Schwerkraft nicht gerade ein deutliches Zeichen, ein Statement gegen die Gesetze der Physik, welches Gottes Faulenzerei erst zum Ausweis seiner Göttlichkeit, mithin bibeltauglich werden lässt?
Weiter. Zwischen 1950 und 1960 wurden, so erfahren wir im nächsten Raum, beachtliche 10 % des weltweiten Fluoridbedarfs in einem bayerischen Dorf gefördert, ehe der Fluoridbergbau unrentabel wurde. Schon wieder vergessen, wie das Dorf hiess. Und was man mit Fluorid eigentlich anstellt, ausser dass man sich die Zähne damit putzt. Ich weiss auch nicht, warum ich mir ausgerechnet „10 %" gemerkt habe. Der gut fluorierte Zahn der Zeit nagt an meiner Gedächtnisleistung; meine Hardware ist mittlerweile ziemlich soft. Und damit sind wir auch schon in der nächsten Halle, in der es um die Entwicklung des Lebens geht. 




Ein Schädelknochen fasziniert Leander dort besonders, der flache, kleine, breite Brägenkasten des Australopithecus boisei, des „Nussknackermenschen". Was er nicht an Grips besaß, hatte er im Kiefer: Ungeheure Bißfertigkeit, geeignet für den Verzehr „härtester Pflanzenteile". Im Klartext: Der Kerl verzehrte Xylophone, Saunen und Gelsenkirchener Barock. Ohne Extra-Flourid. Theo robbt derweil „Ä-bff" deklamierend über den Parkettboden. Wäre er ein Nussknackermensch: Gnade dem Parkett! 
Nächster Raum, für mich persönlich der Höhepunkt: Bruno. Nicht Giordano, sondern JJ1 - der Problembär. Da steht er, in seinem stattlichen Glassarg, ausgestopft, beim Plündern eines Bienenstocks am Rande von Kochel am See. Die zeitliche Parallelität seiner Alpentournee und der Fußball-WM 2006 hatte ich vergessen, ebenso wie den an einer Rekapitulations-Tafel erwähnten Einsatz finnischer Bärenjäger mit Hunden und Röhrenfallen (komplett erfolglos). Auf einem Foto sind die Spuren seines Einbruchs in eine Berghütte bei Fügen zu sehen: Die Holzbretter sind wüst zersplittert. Ob das wirklich Bruno war (und nicht doch eher ein Nussknackermensch)? 
Leander und mir kommt Bruno eher zierlich vor. Elegant und eigensinnig wie Karl Lagerfeld. Und, wie er, ein Europäer, die sich über Grenzen hinwegsetzte. Neuland erkundete. Monochrom gekleidet war. 
Damals hielten ausnahmslos alle meine Freunde die Idee, diesen ersten wilden Bären auf Deutschem Boden nach seiner Erschießung auszustopfen und auszustellen für, nun ja, schräg. Und jetzt, da ich vor ihm stehe, empfinde ich diese Geschmacklosigkeit als nicht sonderlich peinigend; im Facebook-Trump-Zeitalter ist des Petzens Präparation pure Petitesse. Beim Betrachten stellt sich mir vielmehr die Frage, ob nicht auch Menschen nach dem Tod ausgestopft werden sollten - bei ihrer Lieblingstätigkeit, so wie Bruno beim Bienenstockplündern. Und dann ab ins Museum, oder zu den Lieben nach Hause, ins Wohnzimmer. Ist das Verbuddeln der Verblichenen nicht eine Riesen-Verschwendung? Würden eine ausgestopfe Oma beim Stricken, ein Karl Lagerfeld beim Choupette kraulen unsere Trauer nicht aufs tröstlichste lindern? Und wenn das analoge Ausstopfen für den Durchschnitts-Hinterbliebenen zu teuer ist, kann man dies zukünftig auch günstig im Internet anbieten: Digital Preparation - der Tote lebt als 3D-Animation weiter, KI-gestützt. Kommt, wetten? 
Und gerade, als ich diesen Gedanken denke, fängt Theodor bitterlich zu weinen an. 
Wir ziehen unseren Hut vor den toten Meistern: Petz, Giordano, Bruno, Ganz und Karl Lagerfeld sowieso, der gewiss nunmehr in einer schwarz-weißen Regenbogen-Hängematte Platz genommen hat, um auszuruhen. 



Montag, 18. Februar 2019

Wie ich neulich eine Ehe zerstörte



Ich habe Probleme mit der Impulskontrolle. 
Eines der jüngeren Beispiele: Ich jogge durch Köln, schiebe unseren Kinderwagen vor mir her, und meine Frau begleitet mich auf einem Hotel-Leihrad.
Es ist Sonntag, die Sonne lacht, am Rheinufer herrscht reges Treiben. Vor der Rodenkirchener Brücke ist baustellenhalber ein Gehweg gesperrt; um auf die Brücke zu gelangen, muss zunächst eine kleine Treppe vom Ufer hinauf zum Bürgersteig an der Fahrstrasse erklommen werden. Ganz Gentleman, entbinde ich meine Gattin von allen Hebetätigkeiten und wuchte zunächst das schwere Hotelbike hinauf. Meine Frau nimmt es oben in Empfang, dreiviertel in Gedanken, weil sie ihr Handy zwischen Schulter und Wange geklemmt hat. Frohgemut hole ich nun den Kinderwagen nebst schlafender Fracht hinterher. Rechts auf die Hüfte gestemmt, ein billiges Liedchen gepfiffen, portiere ich den Filius und sein Gehäuse hinauf.
Als ich oben ankomme, hat meine telefonierende Frau ihr Gefährt um einen Meter versetzt; die vordere Hälfte des Bugrades ragt nunmehr eine Elle in den Radweg hinein. 
Da nähert sich von links ein älteres Ehepaar auf Trekkingrädern im Partnerlook. Er Typ pensionierter Katasteramtsvorsteherassistent, sie Typ pensionierter Katasteramtsvorsteherassistentenfrau. Just als sie den unsauber geparkten Drahtesel erreichen, steht auch meine Gattin mit einem Viertelfuß auf dem Radweg. Das Katasteramtspärchen saust vorbei, und im Wegfahren zischt die Seniorin: „Dusselige Kuh!" 
Was hat sie gesagt? Wen hat sie gemeint? Kurz muss ich meine Gedanken ordnen. Ja, sie hat „dusselige Kuh" gesagt, laut und deutlich. Und sie muss tatsächlich meine Frau gemeint haben - sonst ist ja niemand in der Nähe. Ehe ich bis drei zählen kann, schreite ich zur Tat: Der Kinderwagen verbleibt an Ort und Stelle, meine Frau telefoniert derweil ungerührt weiter. Nach Art eines indianischen Palomino-Reiters springe ich auf das von ihr nachlässig gehaltene Rad, reiße es in Richtung des davon rollenden Seniorenpaares und versetze die Pedale mit maximaler Kraft in Bewegung. Von null auf 35 beschleunige ich in sechs Sekunden, verkürze den Abstand auf die beiden nichtsahnenden Alten, geize nicht mit Muskelschmalz, mein Puls hämmert, mein Kopf wird rot, aber nicht nur, weil ich sprinte wie vor mir zuletzt Lance Armstrong, sondern auch, weil in mir ein Tier erwacht ist, ein zähnefletschender Höllenhund, ein hungriger Tyrannosaurus Rex, der sich aller Ketten entledigt hat und auf den entscheidenden Moment wartet, der über Leben und Tod entscheidet. Beißen, ich will beißen, höre ich dieses Tier in mir röcheln. 
Und da habe ich auch schon zur Katasterfrau aufgeschlossen, fahre linksseitig an die Kinnlinie heran, der Abstand beträgt kaum zwanzig Zentimeter, und dann fauche ich feucht und fiese: „Habe ich eben richtig gehört? Sie haben zu meiner Frau „dusselige Kuh" gesagt? Meine Stimme überschlägt sich, die Kataster-Oma erschrickt, ihr Mann, der ein paar Meter voraus fährt, blickt sich irritiert um. 
Für einen kurzen Moment ist alles in der Schwebe: Die von mir Drangsalierte sucht schlagartig erbleicht nach einer passenden Antwort; ihr Ehegatte ist alarmiert, muss jetzt aber wieder den Kopf nach vorne wenden, um nicht gegen den nächsten Baum zu fahren. Ich radle weiter auf gleicher Höhe mit der Frau, adrenalingesotten, jederzeit bereit, die alte Dame mit einem Prankenhieb vom Rad zu strecken - und die Sonne lacht dazu. 
„Na? Na?" setze ich crescendierend nach; die Seniorin öffnet den Mund, ist unschlüssig, schließt ihn wieder; ich balle meine Faust, dann setzt sie neu an und antwortet mit mühsam unterdrückter Panik: „Nein, zu meinem Mann! Ich hab das zu meinem Mann gesagt!" Ihr Gatte reißt seinen Kopf nach rückwärts, blickt seine Frau entgeistert an, und gleichzeitig weicht alle Spannung von mir; das wilde Tier schläft auf der Stelle wieder ein, und mit milder Genugtuung flöte ich: „Ah! Dann ist ja gut!" Und mit einem „Schönen Sonntag noch!" drossele ich mein Tempo, wende und rolle entspannt zurück zum Ausgangspunkt. 
Meine Gattin beendet soeben ihr Telefonat. „War was?" erkundigt sie sich, was ich sogleich verneine. Und in der Entfernung sehe ich das alte Ehepaar am Wegesrand stehen, großgestisch im hitzigen Disput. Schade, dass man nicht hört, was sie sich zu sagen haben. 
Und dann setzen wir unseren Sonntagsausflug fort. Lächelnd. 

Die Strichmännchen vom Central Park
















Vor etwa einem Jahrzehnt schoss ich diese Bilder, die seither ungenutzt auf einer Festplatte herumlungerten. Unlängst kramte ich sie hervor, da ich in letzter Zeit vermehrt ans Radeln in New York denken musste. Grund: In meinem Sportsfreundeskreis wird viel Zeit mit ZWIFT verbracht. Den Nichtsportlern sei erklärt: Es handelt sich um eine elektronengehirnige Anwendung, bei welcher der Athlet daheim auf einem Fahrrad sitzt, in einen Monitor schaut und aufgrund der in diesem sichtbaren Farbenspiele meint, er pedaliere sich durch die weite Welt. Eine beliebte Route für diese Wohnzimmerathleten führt durch den New Yorker Central Park. Ich selber habe ZWIFT noch nie ausprobiert (kein WLAN, kein Platz, keine Lust), kann mir aber vorstellen, dass die Grafik gerade in der grünen Lunge des Big Apples einige wichtige Details nicht darstellt - zu denen ich die elegant alternden Radlerporträts auf dem Asphalt zählen möchte. 

The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

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