Donnerstag, 28. Februar 2019

Und täglich grüsst der Brexiteer



Zu den meistbesuchten Apps auf meinem Schlaufon gehören „The Guardian", „The Sun" und „BBC News". Seit dem Plebiszit 2016, das mich wie ein Paukenschlag aus dem Schlaf des naiven Europa-Optimisten riss, versuche ich tagtäglich zu ergründen, worauf die Briten eigentlich hinauswollen, ob Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg tatsächlich selber glauben, was sie predigen, und wie Premierministerin May es bis heute geschafft hat, in nahezu jeder Rede die gleichen Formeln zu verwenden und dabei Jeremy Corbyn erstaunlich klein zu halten. Die einzige positive Identifikationsfigur, die mir in diesem ganzen, quälend langen Irrlauf begegnet ist, heisst John Bercow und ist der Sprecher des Unterhauses. Immer wieder schafft er es, bei aller Neutralität, zu der ihn sein Amt verpflichtet, luziden Witz und Realitätssinn zu demonstrieren. Ja, die schnöde Realität- das ist ein Gut, dessen Akzeptanz im heutigen England besonders schlechte Karten hat. Von Beginn der Austrittsverhandlungen an konnte man in den englischen Medien vor allem mit Visionen punkten, die bei nüchterner Betrachtung zu Skepsis führen sollten, etwa das Konzept „Global Britain" oder die Annahme, dass die EU sich noch während der Verhandlungen selbst auflösen werde. Ich war stets hin- und hergerissen. Einerseits bin ich das, was Merkel mal intern abfällig einen „Herz-Jesu-Europäer" genannt haben soll: Ich wünsche mir nichts weniger als eine europäische Republik, mit einer legislativen Musik, die im Europaparlament spielt, und nicht in der Kommission. Andererseits liebe ich die Tradition der englischen Exzentriker, habe Edith Sitwells Bücher über die „menschliche Amphibie" Lord Rokeby und seine schrulligen Kollegen mehrfach gelesen und schliesse einen freundlichen Nickelbrillenträger, der allen Ernstes mit Chapeau Claque auftritt, sofort ins Herz. Allein: Jacob Rees-Mogg (das ist der Typ mit Zylinder) hat in England viele Anhänger, die sein Konzept des „Zurück ins 19. Jahrhundert" für tatsächlich tauglich halten. Puh. Ich glaube: Ja, UK kann sich alleine gegen alle auf dem Weltmarkt behaupten, wenn zB jeder Arbeitnehmer bis auf weiteres auf 10% seines Einkommens verzichtet. Die Wettbewerbsfähigkeit würde einen solchen Schub erhalten, alle Nachteile durch Zollschranken wären aufgefangen, dass das Konzept „Der Starke ist am mächtigsten allein" durchaus zum Erfolg führen könnte. Wo, wenn nicht in England wäre ein solch tollkühner Weg möglich? Blut, Schweiß und Tränen - das wäre die passende Tonlage. Aber diese Tonlage will derzeit niemand freiwillig hören - schon gar nicht die vielen Anhänger des Brexits, die sich von ihrem Votum vor allem eine Gesundung des National Health Service und weitere staatliche Wohltaten versprochen haben, eine Abschottung gegen die fordernden Geister der Globalisierung, also weniger, nicht mehr Wettbewerb. 
Jetzt ist alles verfahren, verkeilt, vergeigt. Was tun? Ein No-Deal-Szenario nutzt niemandem, eine Verschiebung macht alles nur komplizierter, ein zweites Referendum würde die Spaltung der Briten nur weiter vertiefen. Egal, wie es ausgehen würde: Die unterlegene Seite würde sich betrogen fühlen. Mays ausgehandelter Deal wird keine Mehrheit finden. Was aber denkbar wäre: dass die pro-europäischen Konservativen sich mit den pro-europäischen Labour-Abgeordneten zusammenschliessen und für eine Zollunion kämpfen, also dass, was bisher immer „Norwegen plus" genannt wurde (wobei ich nie kapiert habe, wofür das „Plus" eigentlich stehen soll). GB wäre raus aus der EU, die Modalitäten bereits annähernd durchverhandelt. Nachteil: So wie Norwegen oder die Schweiz übernimmt man die Regelungen der EU, ohne selber mitbestimmen zu können. Und genau dieser Umstand könnte dann ja - später, nach einer Phase der gesellschaftlichen Erholung - neu diskutiert werden, mit der eventuellen Perspektive  eines Wiedereintritts in die EU. Wenn sie das denn unbedingt wollen. 
Und Jacob Rees-Mogg? Den habe ich, bei allem Dissenz über Europa und diverse andere politische Fragen, trotzdem lieb. Wegen seines Zylinderhutes. 

Mittwoch, 27. Februar 2019

Auf Bayerns höchsten Berg


Auf der Zugspitze war ich schon einige Male. Grund für den ersten Besuch war die „WiB-Schaukel", eine Interviewsendung, mit der ich Anfang des Jahrtausends meine Brötchen verdiente. Wir drehten mit Johann Mühlegg, dem Skilangläufer, der, für Spanien startend, bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City Gold gewann (und wegen Doping wieder verlor). Rauf und runter ging‘s mit der Bahn. Dann habe ich am „Zugspitz Extrem Berglauf" teilgenommen, der 2003 vom Partenkirchener Skistadion durchs Reintal hinauf zum Zugspitzplatt führte, über 21 km. Und anschließend erklomm ich gemeinsam mit Laufjournalist Udo Möller noch das letzte Stück zum Gipfel. Es war ein heißer Tag mit spärlicher Getränkeversorgung. Immerhin besser als 2008, als der Lauf in die Schlagzeilen geriet, nachdem bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt zwei Läufer kurz vor dem Ziel starben und sechs weitere ins Krankenhaus gebracht werden mussten. 
Als nächstes bin ich mit Johann Mühlegg zu Fuss rauf, und zwar von Grainau durchs Höllental zum Gipfel in 2:50 Stunden. Diese Zeit lässt sich auf dem Klettersteig nur erreichen, wenn man auf Sicherungsmaßnahmen konsequent verzichtet und bestens trainiert ist. Ich hatte bereits einen langen Bergsommer hinter mir und stieß trotzdem an mentale Grenzen - und zwar immer dann, wenn ich zwischendurch einen Blick in die gähnende Leere unter meinen Füssen warf. Johann Mühlegg eilte launig plaudernd voraus. Ab und an standen Kletterer mit Helm und Karabiner im Weg. Johann zu einer gesicherten Oma : „Am besten, sie bleiben, wo sie sind, und ich klettere einfach über sie drüber!" eins-zwei-drei, erledigt. Einige Minuten später schloss ich zu der Dame auf. „Für mich wäre es denn doch ganz gut, wenn sie kurz Platz machen würden - ich muss hinter dem Herrn dort oben her". Am Höllentalferner kam uns die berühmte Idee, dass Pumps ideal für diese Strecke seien: Die Schuhspitzen kann man gut beim Klettern in enge Felsspalten einführen und die hohen Absätze als Eisbeile verwenden, während man sockfuss besonders guten Grip auf der Eisfläche genießt. Runter kamen wir über die Wiener-Neustädter Hütte, wofür man damals viele zerschlissene Stahlseilsicherungen in Anspruch nahm - was bei mir dazu führte, dass ich seither auf derartigen Strecken gerne ein Paar alte Fahrradhandschuhe dabeihabe, um Blutvergiessen zu vermeiden.

Mein letzter Aufstieg war erst neulich, gemeinsam mit Sohn Cyprian, und zwar von Ehrwald aus. Start also in Tirol, rauf zur Ehrwalder Alm, bei herrlichem Wetter. Keine Grenzerfahrung wie mit Johann Mühlegg, aber doch sportlich anspruchsvoll, weil mein Sohn, Student in Landeck, oft und gerne in den Bergen unterwegs, daher bestens in Form und schnellen Fußes unterwegs ist (Hier übrigens sein Bergtourenblog: https://bergtourenblog.wordpress.com/2019/02/23/mein-erster-3000er/ )
Cyprian prescht also vor, ich hurtig hintan, und die Landschaft wird hinterm Skigebiet mit der ärgerlichen Infrastruktur immer besser. Grosses Sommerpanorama, Kühe im Gegenlicht, Schalker Königsblau am Himmel. Sehr pittoresk der Grenzübergang von Tirol nach Bayern, just dort, wo das Gelände ruppig wird, und dann rüber zur Knorrhütte, 2051 m hoch. Es ist später Vormittag und wir essen Erbsensuppe. Während wir unser erstes Wegstück fast alleine absolviert haben, sitzen wir hier mit weiteren Wanderern zusammen, die in ihrer großen Mehrheit auch alle auf die Zugspitze wollen. Als wir weitergehen, reihen wir uns in eine anschwellende Wandererkette ein, ein Trend, der sich nach oben hin immer weiter verstärkt. Aus Kette wird Schlange, aus Schlange ein Strom, der am Gipfelaufbau schließlich in ein Meer mündet, ein Menschenmeer. Die meisten Artgenossen kommen natürlich mit den Bahnen hinauf, nur die wenigsten ackern sich durch das lose Geröll, das mit jedem Schritt nachgibt und mitsamt Wanderer ein Stückerl talwärts rutscht. 




Warum wollen alle Leute dort hinauf? Es ist nicht nur der Deutsche Everest, der Berg der Berge, sondern auch Deutschlands höchste Fußgängerzone. Deutschlands höchstes Postamt. Deutschlands höchste Wetterstation. Deutschlands höchste Steckdose, Bierkneipe, Rolltreppe. Oder befindet sich letztere auf der österreichischen Seite des Gipfels? Denn das wird ja gerne vergessen: dass wir Deutsche unseren Rekordberg teilen müssen, mit Felix Austria, welch Schmach. Diesbezüglich sind die allermeisten 16-Summits-Exemplare der höchsten Erhebung Bayerns überlegen: Bremen etwa hat keinen soo hohen Berg, aber dafür muss dieser nicht mit irgendwelchen Nachbarn geteilt werden. 
Nach oben hin sind einige Stellen mit Seilsicherung zu meistern, alle bestens in Schuss, Fahrradhandschuhe nicht vonnöten. Und dann schwimmt man auch schon auf knapp 3000 Metern im Menschenmeer, wähnt sich auf der Hohen Straße in Köln an einem Samstagvormittag und umklammert seine Brieftasche. 

Und immer, wenn ich dort oben stehe, wünsche ich mir, der zivilisatorische Wahnsinn würde komplettiert werden. Ich wünsche mir H & M, Zara, McDonald‘s. Deutschlands höchste Tiefgarage, Kino, Kreisverkehr, Thai-Massage. Ich wünsche mir Wohnblocks, Erlebniswelten, Spa und Club-Szene - und im Gegenzug wünsche ich mir, dass der Rest der Alpen von übertriebener Bautätigkeit und Zersiedelung verschont bleibt. Man wird ja wohl noch wünschen dürfen. 
Bis auf das Selfi mit Baukran sind die Fotos alle von Cyprian. 

Dienstag, 26. Februar 2019

Post-Veganismus und Fußgesundheit



...und kaum poste ich ein Bild meines Fußes, wie ich ihn euphorisch der Kölner Vorfrühlingssonne aussetze, lese ich bei Strava den folgenden Kommentar: „Nach gesunden Füßen sieht das nicht aus!!!" Natürlich bin ich sofort alarmiert, nicht zuletzt wegen der drei Ausrufezeichen. Ist mir irgendetwas entgangen? Frostschaden? Fußpilz? Akute Sepsis? Also entgegne ich mit einem besorgten „inwiefern?" Die Antwort kommt prompt:
„Beim rechten Fuss liegt der grosse Zeh rüber zu den anderen und es besteht die Gefahr eines Hallux Valgus und links ist das Grosszehengelenk auch sehr deutlich, welches auf beginnende Arthrose deuten könnte. Ausserdem kippt dein Sprunggelenk nach innen und es ist ein klarer Spreizfuss zu erkennen. Sorry ich mache solche Analysen beruflich und man guck auf sowas ob man will oder nicht😂 Wenn du mal ne richtige Analyse haben möchtest, dann sag Bescheid😊"

Puh. Erstmal tief durchatmen. Hallus valgus? Ist das nicht diese eher unschöne Deformierung, die man bisweilen bei alten Damen beobachten kann, welche sechs Jahrzehnte lang in zu engen Pumps durch die Welt stilettiert sind? Und mein Großzehengelenk sieht nach Arthrose aus? Au weia! Ich war mal bei einem Orthopäden, der nach Computer-Tomographie Entwarnung bezüglich Arthrose gab - aber das ist auch schon wieder ein halbes Dutzend Jahre her. Hm. Spreizfuß habe ich schon immer, darum trug ich bereits als Grundschüler Einlagen, das ist nichts neues. Tja. Ob ich eine „richtige Analyse" will? Zu welchem Zweck? Um den Alterungsprozess en Detail beurkunden zu lassen? Ist es nicht sinnvoller, diese Zeit mit einem schönen Spaziergang zu füllen, womöglich barfuß, so wie heute? 15 km lief ich vom Hotel Savoy zu Ford im Kölner Norden, dann links ab zum Coloneum, wo wir mal wieder mit „Genial Daneben - das Quiz" beschäftigt sind. Eigentlich wollte ich joggen, aber dann hatte ich wegen einer abrupten Umbuchung zu viel Gepäck zu transportieren und beließ es bei einer Wanderung. Ging problemlos, trotz (angeblich) polykaputter Mauken. Bin ich denn soo unsensibel, dass ich die Schmerzen der Arthrose und des Hallus valgus nicht spüre? Eigentlich rechne ich für die kommenden Jahren eher mit Gichtattacken - solche hat mir jedenfalls vor 30 Jahren ein Arzt mit Blick auf meine erhöhten Purinwerte prophezeit. Und neulich meinte ich es auch tatsächlich zwicken zu spüren, nachdem ich mich eine Woche lang fast ausschließlich von Kassler, Pinkel, Kochwurst, Speck, Buletten und Räucherfisch ernährt hatte. War halt nichts anderes im Kühlschrank. Extremfall.  

Apropos; auf den Blogbeitrag von Sonntag („vegan, mit Fleisch") reagierte tatsächlich jemand bei Facebook mit der Bemerkung, mein Text sei „ziemlicher Mist", um mich anschließend darüber aufzuklären, dass „vegan, mit Fleisch" die Ansage eines Lebensmittelallergikers sei, und dass meine „Geisteshaltung" verantwortlich dafür sei, dass es Lebensmittelallergikern so schwer falle, Eßlokale zu finden, die ihre Spezialwünsche ernst nehmen. Hossa. Ich wundere mich jeden Tag über das Internet und seine Bewohner. Natürlich hatte ich mir bereits gedacht, dass „vegan, mit Fleisch" etwas mit Allergie zu tun haben könnte, oder mit Antipathie. So what? Wichtig ist doch, dass der Gag funktioniert! 
Spannend an der Geschichte ist vor allem die Frage, warum ausgerechnet wir Deutschen solch ein ideologisches Gewese um das Essenfassen machen. Kaum sagt einer irgendwas zum Thema Happahappa, wird er barsch belehrt. Spontane Theorie: Deutschland ist das Land der Reformation; der 30-Jährige Krieg hat uns traumatisiert, auch, wenn‘s um die kriegsvorbereitenden Glaubensdiskussionen geht. Um die sich infolge des Westfälischen Friedens stauende Kampfeslust zu kanalisieren, wird nunmehr übers Essen gestritten, mit dem Eifer der Mennoniten, radikal und humorlos. Küchen-Schismen als Ersatzreligionskrieg, mit Sekten, Bildersturm, Gegenpäpsten, Gegenreformation, mit allem, was dazugehört. 
Und jetzt kommen die Füße ins Spiel. Nur im deutschsprachigen Kulturraum hat „Fußgesundheit" jenen Stellenwert, der Birkenstock groß gemacht hat. Konrad Birkenstock erfand 1925 das sogenannte „blaue Fußbett", das sich den Bewegungen des Trägers anpasst, der Wiener Sportlehrer Wiesner kreierte in den 30ern die moderne Sandale und der „Orthopädiepapst" (!) Professor Wilhelm Thomsen Mitte der 50er Jahre die Gymnastiksandale, aus welcher später die Adilette abgeleitet wurde. Der größte Fußorthopäde des 20. Jahrhunderts war sicher nicht zufällig ein Deutscher, nämlich Franz Schede. Der Schriftsteller Guntram Vesper hat diesem grossen Förderer der Schulgesundheitspflege in seinem Roman „Frohburg" ein Denkmal gesetzt. 
Hat der Eifer, mit dem ausgerechnet wir Deutschen um Fußgesundheit kämpfen, etwas mit unserer fanatischen Streitlust über Ernährungsfragen zu tun? So wie der Mensch „ist, was er isst", so haben sein Gang, sein Stand elementare Bedeutung. Hat er Bodenhaftung? Ist er erdverbunden? Ist er ein „Steher"? Taugt er zum „langen Marsch", wahlweise bis nach Moskau oder durch die Institutionen, oder ist er ein welscher „Flaneur"? Im „Standpunkt" geht das Füsselnde ins Philosophische über. Jahrhundertelang war die Gehfähigkeit der Soldaten kriegsentscheidend, womit wir wieder beim 30-jährigen Krieg wären. Der nackte Fuß ist automatisch ein veganes, ein pazifistisches Statement, er steht für Askese und eingeschränkte Wehrkraft wie die Tagesration eines Rohköstlers. Und so, wie der Veganer beteuert, seine Ernährung sei gesund, so beteuert auch der Barfüssler die „abhärtenden", mithin gesundmachenden Effekten des Schuhverzichts. Ob Gang nach Canossa oder Wandervogelbewegung: Der Fuß war speziell in Deutschland immer auch ein Instrument des Glaubens und hochpolitischer Körperteil, just so wie der Verdauungstrakt. Karl Carstens durchwanderte Deutschland, so wie Helmut Kohl in den Saumagen biss: Als Ausweis der Heimatverbundenheit. 
Was ist nun die Ensprechung zu „vegan (mit Fleisch)", wenn‘s um Füsse geht? Das kann ich aus dem Stand sagen: Es ist der Barfußschuh. Er ist die dünnbesohlte Inkonsequenz, das schuhgewordene „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass". Und bevor mir jetzt was auch immer vorgeworfen wird: Ich trage selber gerne welche (am liebsten „Leguanos"), so wie ich selber gerne dem Post-Veganismus fröne (ich mag nämlich keinen Käse). 
Fußnote: An missionarischem Eifer, Streitlust, analytischem Ernst mangelt es uns Deutschen weiterhin nicht - bisweilen aber an bester liberaler Wurschtigkeit (auch vegan). Soll doch jeder essen, was er will (solange er nicht anderen auf die Füße tritt). 




Montag, 25. Februar 2019

Böse ohne Grund



Impulskontrolle war noch nie meine Stärke. 

Achte Klasse, Schule aus. Ich radelte vom Schulzentrum Kreyenbrück nach Hause, und kurz, bevor ich auf den Radweg am Müllwerk einbog, kam mir ein Junge auf einem beigen Tourenrad entgegen. Blond, dünn, prominente Schneidezähne. Am Beginn seiner Pubertät - just so wie ich. Die Richtung, aus der er kam, ließ annehmen, dass er die nahe gelegene Hauptschule besuchte. 

Ich habe auch heute, vierzig Jahre später, keine Ahnung, was mich trieb, warum ich meinen linken Arm streckte und anhob, nach Art einer mittelalterlichen Turnierlanze. Jedenfalls hatte der Junge keine Chance, meine Attacke kam aus dem Nichts; kurz bevor er mich passierte, traf ihn meine Faust an der Schulter, stieß ihn aus dem Sattel. Er flog einige Meter durch die Luft, während sein Tourenrad noch einen Augenblick weiterfuhr. Im Augenwinkel sah ich den Jungen hart auf den Asphalt aufschlagen, und gleichzeitig beschleunigte ich meinen Tritt. Bald war ich außer Sicht, mein Herz pochte, und mich befiel ratlose, rastlose Panik. Warum hatte ich das getan? Nichts fiel mir ein, was als Antwort getaugt hätte. Ich kannte den Jungen nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen, hatte auch nichts gegen Hauptschüler mit großen Schneidezähnen. Meine Tat war mir ein Rätsel - und ist es bis heute.

Bald war ich daheim, erzählte meinen Eltern nichts und versuchte, den Vorfall zu vergessen. 


Tag zwei, große Pause. Meine Klassenkameraden und ich spielten Fussball. Weitläufiger Pausenhof, keine Aufsicht in der Nähe. Am Parkplatz tauchte ein finster dreinblickender Trupp Hauptschüler auf, angeführt von einem muskulösen Kleiderschrank mit Ofenrohr-Armen. Ganz hinten erkannte ich mein Opfer, mit geprellter Hand auf mich zeigend. Der Kleiderschrank nickte und ließ seine Fingerknöchel knacken. Bevor ich diskret flüchten konnte, hatten sie mich auch schon umstellt; der Schrank, zwei Schubladen größer als ich, packte mich am Schlawittchen, hob mich aus den Latschen und raunte mit ins Bassregister gebrochener Drohstimme: „Warum hast Du das gemacht?" Adrenalin durchflutete mich. Ich blieb stumm, wohl weil die Angst mich lähmte, aber auch, weil ich keine plausible Antwort parat hatte. Im Hintergrund sah ich, wie meine Klassenkameraden in Wortgefechte mit den Hauptschul-Delegierten gerieten. Einer meiner Freunde nahm einen der Rächer in den Schwitzkasten, ein anderes Paar rollte ringend übers Pflaster, doch ich hing weiterhin regungslos an den Pranken des Kraftprotzes, rücklings an eine Waschbetonwand gepresst. Schlotternd rang ich nach Worten, aber kein Piep schaffte den Weg an meinem Kehlkloß vorbei. Dann erklang der Pausengong, mein Rächer ließ mich fallen; die Hauptschüler gingen Richtung Hauptschule ab, und wir machten uns auf den Weg zum Französischunterricht bei Frau Trinks. 

Was es denn mit der Attacke auf sich habe, fragten meine Mitschüler. Keine Ahnung, log ich, und zuckte mit den Schultern. 


Tag drei. Wieder tauchten die Hauptschüler in der großen Pause auf, Schneidezahn hinten, Kleiderschrank vorne, wieder hob dieser mich aus den Angeln, stellte mich zur Rede, ohne dass ich auch nur eine Silbe hätte sagen können. Und wieder endete das Tribunal mit dem Pausengong.

Als ich nach der fünften Stunde heim radeln wollte, begegnete ich im Fahrradkeller meiner Klassenlehrerin. „Man erzählt sich merkwürdige Sachen. Stimmt es, dass du einen Hauptschüler einfach so vom Rad gestoßen hast?" Ich setzte mein harmlosestes Gesicht auf, gab mich betont schlapp und schmächtig. „Aber Frau Hinrichs, sie kennen mich doch. Trauen sie mir sowas zu? Und warum sollte ich derlei tun?" Ja, warum. Frau Hinrichs legte den Kopf schräg, schaute mich eindringlich an und nickte. In mühsam getarnter Beklommenheit radelte ich davon.


Tag vier. Die Sache wuchs mir über den Kopf. Um in der großen Pause nicht erneut vom Rächer meines Opfers drangsaliert zu werden, vertraute ich mich meinen Eltern an. Eine Horde halbstarker Hauptschüler habe es auf mich abgesehen, terrorisiere mich, und um meine Not zu untermauern, verwies ich auf psychosomatische Symptome, etwa Fieber. Das testhalber in der Achselhöhle versenkte Thermometer manipulierte ich in einem unbeobachteten Moment am Heizkörper. Knappe 39 Grad; genug, um das Bett zu hüten und nicht zur Schule zu müssen. Meine Eltern nahmen derweil Kontakt mit dem Rektorat auf, und ich war gespannt auf den Fortgang der Ereignisse. 

Lange warten musste ich nicht. Am frühen Nachmittag öffnete sich die Tür meines Kinderzimmers, und der Dünne und sein Rächer traten ein, begleitet von zwei Polizisten in Uniform. „So, jetzt dürft ihr euch entschuldigen!" bellte barsch der Hauptwachtmeister. Erst trat der Kraftprotz an mein Krankenbett, drückte meine Hand und murmelte „Es tut mir leid!", dann bat auch mein Opfer formvollendet um Entschuldigung. Großherzig nickte ich den beiden zu und nahm mit fester Stimme die Entschuldigung an, woraufhin beide Besucher davondackelten, begleitet von ihrer Polizeieskorte. Im Hinausgehen nickte der Hauptwachtmeister meiner Mama zu: „Richtig so; man muss sich nicht alles gefallen lassen!"

Und damit war der Fall abgeschlossen. 


Für das Foto wurde die Szene nachgestellt. 

Danke, Hugo. 

Sonntag, 24. Februar 2019

Gedichte mit Bart



Am 17. März lesen Jürgen Urig und ich eigene Gedichte in der „Kleinen Affäre" in Hattingen. Es handelt sich um Poeme zu ausgesuchten Themen, etwa Deutsche Flüsse, Haushaltsgeräte oder Bärte. Hier einige meiner Gedichte über die letzteren:

1

Der Mensch ist limitiert:
Er wächst nur zwei Dekaden.
Begrenzt ist auch der Muskelzuwachs;
Arme, Schenkel, Waden
sind bis zur Schwarzenegger-Grenze 
machbar, größer nicht.
Auch das Denkorgan-Gewicht
ist statisch - das verbindet uns
mit Tapir, Schnecke, Fisch

Ganz anders ist's mit unsern Bärten:
Sie wachsen bis zum Allerwerten,
wenn man nicht zuvor rasiert
und After-Shave-Lotion verschmiert.
Der Bart wächst immer, komm, was wolle.
Ließe man ihn wachsen, schwolle
er bis runter nach Emsdetten;
mit Koffein womöglich weiter, wetten? 
Bart: Symbol des Übermenschen, Zeichen der Unendlichkeit.
Allein: Den unendlichen Wuchs zu sehen 
- dafür fehlt dem Mensch
die Zeit

2

Wenn unsere Weltenordung brennt 
wird ER wieder brandaktuell
als Macht- und Herrschaftsinstrument 
Vaterländer, große Reiche
brauchen Bärte, volle, weiche
Wer Strukturen schleift, verwirbelt 
braucht einen Schnäuzer, hochgezwirbelt 
wie Wilhelm 2, oder wie Tirpitz:
An den Backen Hängezacken
DAS macht Eindruck bei den Wählern 
mehr als all die glatten Häute
der Leute vom Establishment
Weidel, Gauland, Hoecke-Sachsen:
Lasst Euch deutsche Bärte wachsen!

3

Drahthaar wächst auf Dackeln sowie manchen Sukkulenten 
Drahthaar ist für manchen Mann, was Federn für die Enten
Es ziert die prominenten Stellen zwischen Nasenloch und Hals 
Und es dient als Kälteschutz und hilft bei Brunft und Balz
den Männer-Status illustrieren. Drahthaar wächst in kleinen Locken 
Manchmal in die Haut hinein. Dann entstehen rote Pocken 
Schreckenswort aller Barbiere: "Rasurbrand".
Was tun?
Entweder man hobelt täglich oder lässt den Hobel ruh'n
Das Drahthaar zwingt zur Konsequenz 
Der Mittelweg hat keine Fans
Bist Du ein Konsens-Demokrat
mit brennendem Dreitagebart?
Der Kompromiss: Hier taugt er nicht 
Faul entflammt er dein Gesicht. Lässt Du wuchern? Willst Du weiden? 
Egal wofür - du musst entscheiden.

Samstag, 23. Februar 2019

Post-Vegan

Veganer sein will jeder, schon wegen der edlen ethischen Aspekte. Aber etwas anstrengend ist es denn doch, den Veganismus wirklich ernst zu nehmen. Eine nonchalantere Variante des Veganismus entdeckte meine Frau gestern zufällig in der Essensliste einer Reisegruppe, die in jenem Hotel auslag, in dem wir an diesem Wochenende nächtigen. „Vegan (aber mit Fleisch)" - das ist DER Trend der Zukunft. Post-Veganismus. Viele, ja fast alle, sind bereits Post-Veganer und wissen es noch gar nicht. Den Begriff führe ich hiermit offiziell in die Gastrosophie ein, inspiriert vom Postkasten an der Außenwand des Hotels. 

Die Geburtsstätte der jüngsten Ernährungsrevolution liegt in der Oberpfalz, wo meine Frau derzeit bei einem Chortreffen Einzelstimmbildungen durchführt und ich derweil tiny Theodor über die Jura-Hügel trage. Gestern inspizierten wir zusammen die Schlossruine Velburg, die Hohlloch-Höhle und den Herz-Jesu-Berg. 

Oben auf dem Herz-Jesu-Berg steht eine Kapelle, deren Fassade auch nicht mehr unbefleckt ist. Ja, auch die katholische Kirche ist in Einzelfällen nicht ganz sauber. Schwanger ja, Sex nein. Also Fleisch und vegan - eine Soße. So, jetzt habe ich Hunger. Ich geh‘ mal Happahappa.



Auf Mecklenburg-Vorpommerns höchsten Berg



Juni 2018. Rot geht im Osten die Sonne auf, als ich morgens um fünf von Berlin-Weissensee kommend auf der L100 durch Wandlitz rolle. Mein Tagesvorhaben: Von der Teutonenmetropole auf dem Faltrad nach Usedom, wo ich mit Carlo von Tiedemann am darauffolgenden Tag eine weitere Folge unserer lustigen Kurorte-Porträtreihe drehe. Der Sommer ist heiss, und zur Belohnung für einen langen Tag auf dem Faltrad imaginiere ich ein erquickendes Bad in der Ostsee. 

Ab Bischofswerder fahre ich an der meditativ mäandrierenden Havel entlang, bis nach Zehdenick, wo ich lecker Pflaumenkuchen frühstücke. Über die 109 gehts weiter nach Templin, das verwunschene Backsteinidyll. Staksig waten Reiher im Winde; Kinder warten in Reihe, trainieren für die Spartakiade, hätte ich fast geschrieben. Danach gehts auf einen langgestreckten, zum Radweg umgebauten Bahndamm, der durch einen Auwald führt. Dort begegne ich einem weißgreisen Liegeradler, mit dem ich plausche. Er versucht mich fürs Liegeradeln zu begeistern, ich wende die mangelnde Bergtauglichkeit ein. Und damit gebe ich mir selber ein Stichwort. Berge. Höchste Eisenbahn, zu überprüfen, ob ich nicht zufällig am höchsten Berg Mecklenburg-Vorpommerns vorbeikomme, um diesen meiner 16 Summits-Sammlung beizufügen. Check: Ja, der Helpter Berg liegt zufällig am Weg. Dascha‘n Ding! Er befindet sich zwischen der Stadt Woldegk und der Gemeinde Helpt, und ich erreiche ihn am Mittag, nach etwa 125 km Wegstrecke. Die Gegend ist gewellt, von lieblichem Charakter, alte Eiszeit, so eine Wuthering-Hights-Landschaft. Man könnte hier auch Rosamunde Pilcher drehen. Von der Strasse aus ist die höchste Kuppe eher mitteldeutlich erkennbar, auch, weil die Hügel mit opulenten Waldfrisuren verziert sind. Der Fernsehturm schließt aber alle Zweifel aus, fungiert wie ein Textmarker. Ja, Sie sind richtig, HIER spielt die Musik!


Und da erkenne ich auch schon ein Hinweisschild, das den Helpter Berg als touristisches Highlight ausweist:
Ich stelle mein Rad ab. Mein Ostseeausflug wird somit zu einer recht umfangreichen Kombitour; der Gipfelsturm muss zu Fuss absolviert werden. Zunächst geht es einen schmalen Ackerpfad bergauf:

Dann geht es auf wenig begangenem Weg durch den Wald. Leichte Orientierungsschwierigkeiten. Manches ist zugewachsen, andere Baumschneisen meinem Navi unbekannt. Haupthinderniss der Unternehmung sind jedoch die Mücken, die in diesem Wald jeden erbarmungslos attackieren, der ungebeten eindringt, um den Gipfel zu erobern. „Kurze Hosen, Radlerleibchen: Lecker!" -schmatzen sie gierig.
Bald nähere ich mich dem Gipfel, erkennbar an der dazugehörigen Infrastruktur:


Schutzhütte rechts, Parkbank mittig, davor das Gipfelkreuz. Macht alles einen eher selten besuchten Eindruck, aber vielleicht bin ich auch als Laie außerhalb der Saison hier - eben dann, wenn die Mücken ihr Unwesen treiben und kein Local, kein Mecklenburger Sherpa den Weg wagen würde.


Ich erledige einige der Biester und zwinge mich zu einem Lächeln für das Gipfel-Selfie. Schauspielerische Glanzleistung, denn alleine während der kurzen Belichtungszeit verliere ich einen Deziliter Blut. 

Aussicht im konventionellen Sinne ist eher nicht vorhanden, demzufolge auch kein Panorama. Nur dichte, verschwirrte Waldeinsamkeit. 
Nach dem Abstieg setze ich mich wieder auf mein Rad und kühle meine Stiche mit scharfem Fahrtwind. Durst; der Blutverlust will ersetzt werden. Um meine leeren Flaschen zu füllen, lade ich mich bei einer äußerst abgelegen wohnenden, s e h r   l a n g s a m   s p r e c h e n d e n  u n d  s i c h  b e w e g e n d e n  Frührentnerin in DDR-Kittelschürze in die Wohnküche ein, und der Pilcher-Film bekommt einen Touch Stephen King: Sie verlässt das Zimmer mit den Buddeln, die Tür geht zu. Nichts passiert. Beklommenes Warten. Nach einer Viertelstunde ist sie wieder da, die Flaschen voll, ich am Leben. T s c h ü s s !
Weiterer Tagesverlauf: Mittagessen in Friedland, mit der Radlerfähre von Anklam nach Usedom, mit perfekt gecastetem Seebär. Weiter in die Kaiserbäder, und dann, nach 216 km: Rein in die Fluten.





The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

Beliebte Beiträge