Montag, 22. April 2019

Deutsche Flüsse (12): Oster



Ostergeschichte: Maria besuchte das Grab Jesu. Es war leer. Hinter ihr stand Jesus und raunte ihren Namen. Sie erkannte ihn nicht, meinte, er sei der Gärtner. Dann schaute sie nochmal genau hin und wurde ihres Sohnes gewahr. Die Theologie nennt diesen Moment die „Mariensekunde“. Seither ist in Krimis gerne der Gärtner der Täter. Und überdies handelt es sich um die erste schriftliche Erwähnung eines Double Takes.

Ach ja; die Oster ist ein linker Zufluss der Blies in Wiebelskirchen, Stadt Neunkirchen, Landkreis Neunkirchen, Saarland. 


Freitag, 19. April 2019

Deutsche Flüsse (11): Weiße Elster



Als ich das erste Mal in Leipzig war, bei den Jazztagen 1986, erklärte mir zur Begrüßung ein Schelm in Schneejeans, dass unter uns der Dings verliefe, der Dingsbumsgraben, ein unterirdisch verlaufender Abzweig der Sowieso, und ich dachte: Wahnsinn, der spricht Deutsch, genau wie ich! Und später erhoben wir in der Moritzbastei unsere Schnapsgläser auf die Verlegung der Mauer. Statt Ost- und West- sollte sie lieber Nord- und Süddeutschland trennen. Die Stasi saß hinten am Tisch und hörte betont unauffällig zum Fenster hinaus. Und abends im Hotelbett drehte sich alles; die Mauer fiel um und bedeckte die Sowieso, von dem dieser Dingsbumsgraben abzweigte. Weg war sie. Man konnte drüber laufen, auch in den goldenen Westen, wenn man denn noch laufen konnte. Ich nicht. 



Donnerstag, 18. April 2019

Deutsche Flüsse (10): Lippe



Ein Süßwasserschwamm namens Waldi

kaufte am Sonntag bei Aldi Tomaten, 

Frühkartoffeln, Fujiyama – Salz und

eine Zahnbürste mit weichen Borsten,

per GoldCard der Sparkasse Dorsten. 


Anschließend raste er in seinem Lada

ins polizeiliche Radar. Der Wachtmeister

dachte, der Schwamm sei besoffen

und fragte betroffen: Ist denn in Hamm 

heute verkaufsoffener Sonntag? 


Ja? Ein Traum! Der Wachtmeister packte

sein Radargerät in den Kofferraum,

liess Waldi in Ruhe und kaufte in Hamm

Jesus und Esel für die Weihnachtskrippe.

Und Waldi fuhr heim in die obere Lippe.

 







Montag, 15. April 2019

Deutsche Flüsse (9): Weser



„Vryheit do ik ju openbar“ - so steht es auf dem Schild des Bremer Roland. Das erste Mal: Da wo die Weser einen großen Bogen macht. Ich 17. Vom Nachbarhaus schallte Tina Turner herüber, mit „Private Dancer“. Zwei Häuser weiter befand sich die Diskothek „Römer“, und aus den Boxen quoll „Dee-Lite“. Auf der Box links kauerte allabendlich ein dürrer Nerd mit dicker Brille namens Zeno, der eines Tages mit einem grandiosen Konzert verblüffte. Sein Geheim-Hit: „Brötchen“. An der nächsten Ecke wohnte der Freiherr; er hatte so eine Art kommunistisches Volksabitur, rauchte „Senior Service“ und spielte ein brachiales Baritonsaxophon. Freejazz, natürlich. Außerdem malte er, zumeist U-Boote im Nordatlantik. Mitten im Fluss lag die Weserburg, in der meine knapp halb-avantgardistische Jazzband probte: „Arts Praxis“. Der bescheuertste Bandname, der mir je untergekommen ist. Gut möglich, dass ich ihn mir höchstselber ausgedacht habe, peinlichpeinlich. Am Schlagzeug saß Jens, so ein filigraner Beckenpulsierer à la Tony Williams mit R5 und enorm hübscher Freundin, der abends gern den Uni-See durchschwamm. Am Kontrabass: Reinhard, stark behaarter Knuddel, ruhig und irden. Charlie Haden meets Kelly Family - wobei letztere damals noch eine Kleinfamilie war und völlig unbekannt. Lars spielte Trompete, und Vlatko Saxofon - der virtuoseste, begabteste, deepste Sheets-of-Sounds-Produzent, den Ostfriesland je hervorgebracht hat. Wobei, wenn man so drüber nachdenkt, fällt auf, dass John Coltrane einige ostfriesische Züge hatte: den heiligen Ernst eines Menno Simons zB. Die eigene Sprache. Den weiten Horizont. Das Ausufernde, Nie-enden-wollende. „Arts Praxis“ spielte nur selten Konzerte, einmal auch in Walle, in irgendso’nem alternativen Café, wo die Fischerhemdenträger Pfeife rauchten und müde über Lenin diskutierten. Die Jüngeren gingen lieber in ein kleines New-Wave-Café in der Waller Herrstraße; da habe ich mal mit KIXX gespielt, „Noise Rock“, „Free Funk“, „Fake Jazz“, wie die Schlagwörter damals lauteten. Ich trug einen hellblau getönten, halbdurchsichtigen Regenmantel überm nackten Oberkörper und schrie wie am berühmten Spieß. Im Publikum stand Claudia in Leopardenbody und roten Pumps und verschwand nach dem Konzert mit Schlagzeuger Jim Meneses hinter der Kaimauer des Überseehafens. Mein eigentliches Stammlokal war das „Café Grün“ im Fedelhören, wo ich später meine einzige Ausstellung als Maler machen durfte. Alle Flyer eigenhändig per Buntstift koloriert. Hespos gefiel’s. Das Café Grün jedenfalls war damals der coolste Ort diesseits des Atlantiks, und zwar spätestens seitdem die „Tassen“ dort aufgetreten waren, bestehend aus Arto Lindsay, John Zorn, Gerd und Torsten, der hauptberuflich die „Mittagspause“ bei Radio Bremen gestaltete, mit Sun Ra, Sam „The Man“ Taylor, Art Blakey und all den anderen Fixsternen meiner Jugend. Außerdem stand er hinterm Tresen des Café Grün, ebenso wie Max Schmalz, der freundliche, melancholische Meisterdichter. Da gab‘s auch eine Zeitschrift namens „Stint“, wie der Weser-Fisch, für die ich einen burschikosen Beitrag schrub, über die Entstehung des Hohentorshafens durch Jehova, Bergsteigen und den Weltuntergang, alles verquirlt auf zwei Seiten. Ubiquitäres Delirieren, krause Krümel auf Weltniveau., „Bremen - New York“ stand auch auf unseren KIXX-Plakaten (obwohl Jim ja eigentlich aus Philadelphia kam), und illustriert waren sie mit Dampfern der Hapag-Lloyd aus den 20ern. Oder mit fiesen Szenen aus’m Schlachthof, passend zu unserem musikalischen Konzept. „Meat and Torture“ hatte unsere erste Musicassette geheissen, vertrieben vom Weserlabel. Einmal spielten wir mit KIXX irgendwo im Weserbergland, auf einem Festival. Vor uns „Komeda Artist“, dann wir. Ich hatte eine Kehlkopfentzündung, und aus meinem Hals entwich partout kein einziger Ton. Ich stand auf der Bühne und schrie mit knallrotem Kopf, aber nichts war zu hören. Zunächst. Irgendwann verzauberte fiependes Geflöte die Porta Westfalica, ähnlich einem Rosettenmeerschwein, und zuerst erkannte ich gar nicht, dass mein Schlund die Ursache war. Dann zelebrierte ich die Spezialtechnik mit grosser Hingabe, und dem bekifften Publikum gefiel’s. Meat and Torture halt. Anschließend wurden wir in einer nahen Bauernkate verpflegt; eine uralte gichtige Gebrüder-Grimm-Greisin kredenzte uns grobe Brote mit Blutwurst, die ich aufgekratzt genoss, wortlos und glücklich, mit Blick auf die Weser. 

Samstag, 13. April 2019

Deutsche Flüsse (8): Rhein




Das erschreckendste, was über den Rhein geschrieben wurde, ist womöglich Heinrich von Kleists Ode „Germania an ihre Kinder":


„Zu den Waffen, zu den Waffen! 

Was die Hände blindlings raffen!

Mit dem Spieße, mit dem Stab,

Strömt ins Tal der Schlacht hinab!

(...)

So verlaßt, voran der Kaiser,

Eure Hütten, Eure Häuser,

Schäumt, ein uferloses Meer, 

Über diese Franken her!"


Gemeint sind die bösen Franzosen. Und weiter: 


„Alle Plätze, Trift‘ und Stätten,

Färbt mit ihren Knochen weiß;

Welchen Rab und Fuchs verschmähten,

Gebet ihn den Fischen preis;

Dämmt den Rhein mit ihren Leichen;

Laßt, gestäuft von ihrem Bein,

Schäumend uns die Pfalz ihn weichen,

Und ihn dann die Grenze sein!

Eine Lustjagd, wie wenn Schützen

Auf die Spur dem Wolfe sitzen!

Schlagt ihn tot! Das Weltgericht

Fragt euch nach den Gründen nicht!"


Unangenehm zu lesen, gell? Bedeutend lieber ist mir jene Szene aus Carl Zuckmayers „Des Teufels General", in welcher Harras - im berühmten Film vom knorrigen Curt Jürgens verkörpert - einem jungen Offizier, der aufgrund mangelnder Rassereinheit um seine Karriere bangt, folgende Worte mit auf den Lebensweg gibt:


„Schrecklich, diese alten verpanschten, rheinischen Familien...

Stellen sie sich mal ihre womögliche Ahnenreihe vor:

Da war ein römischer Feldherr. Schwarzer Kerl. Der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie - das war ein ernster Mensch; der ist schon vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Dann kam ein griechischer Arzt dazu, ein keltischer Legionär, ein graubündener Landsknecht, ein schwedischer Reiter. Und ein französischer Schauspieler. Ein böhmischer Musikant. Und das alles hat einmal am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen, gesungen und Kinder gezeugt. Und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven. Und der Gutenberg. Und der Matthias Grünewald. Und so weiter, und so weiter. Das waren die Besten, mein lieber. Vom Rhein sein, das heisst: vom Abendland sein. Das ist natürlicher Adel. DAS ist Rasse. Seien sie stolz darauf (...)

Film gucken


Dass „Rhein in Flammen" heute nur ein harmloses Großfeuerwerk bezeichnet, hätte dem mordlustige Heinrich von Kleist wohl ein verächtliches Kopfschütteln abgerungen. Als Symbol des Hasses ist der Rhein jedenfalls außer Betrieb - hoffentlich für längere Zeit. 

Etwas anders verhält es sich mit dem „natürlichen Adel": Man denkt sogleich an Flüchtlinge, Merkel, Pegida. Mit der Rückkehr des „völkischen" Deutschland-Denkens erscheint es gut möglich, dass ein zukünftiger Harras einem Deutschen mit syrischen, marokkanischen oder eritreischen Wurzeln auf Zuckmayersche Art Mut macht, mit dem Rhein als Sinnbild des supranationalen Saufens, Singens und Kinderzeugens. 

Während er also als Sehnsuchtsort der Nationalisten, als Symbol des Hasses ausgedient hat, taugt der Rhein auch weiterhin als Symbol der Verbrüderung, der Toleranz, der Liebe. 


Man kann natürlich auch einfach an seinem Ufer entlang spazieren, mit unbestimmtem Gesichtsausdruck, und behaglich vor sich hin drömeln. Oder Feuerwerke bestaunen. 


P.S.: Wo befinden sich eigentlich die Sehnsuchtsorte der heutigen Nationalisten? Wartburg, Hambach, Helgoland? Hm. Warthe und Memel? Früher gab es den Sticker „Deutschland ist größer als die Bundesrepublik", aber derlei taucht auf den Plakaten der AfD nicht auf. Sehnsuchtsorte sind wohl eher die „national befreiten Zonen", also ethnisch „gesäuberte" Gegenden, ohne „Fidschis" und „Asylbetrüger", „Zecken" und „Liberale", neue „Reichsmusterdörfer" in Mecklenburg-Vorpommern. Sowas. Oder? Lesen zufällig Nationalisten mit? Für diesbezügliche Nachhilfe wäre ich sehr verbunden. 



Deutsche Flüsse (7): Elbe



Draußen vor der Tür liegt eine Dame aus Böhmen.

Eigentlich eher flach, hat man sie mehrfach operiert.

Früher sagte man: Totaloperation - damit sie „Pride of China“ ertragen kann, und all die anderen bulligen Wichtigtuer. Als junges Ding hieß sie „Labe“ und machte einen Bogen um den flotten Prahans - der aber eh nur Augen für die musikalische Moldau hatte. Kaum erwachsen, lockten rotgesichtige Riesen. Boofen, Darling, Boofen! Sie zierte sich. In Dresden erlebte sie ihr blaues Wunder: Dampfer in weißen Anzügen prügelten mit Schaufelrädern auf sie ein, ihre Haut riss auf, sie flüchtete nach Pretzsch. Im Schloss saß Königin Eberhardine, von ihrem Mann in den äußersten Winkel des Landes verbannt, damit der in Ruhe kutschi-kutschi machen konnte. Die Böhmische floss dahin, hatte kurze Affären mit Jahna, Ohre, Tanger, Jessen, Melnik und Aken. Ständig breitete sie ihre Arme aus, sehnte sich nach dem sicheren Hafen. Sie geriet an den schmutzigen Herrn Bitterfeld, der sie mit K.o.-Tropfen traktierte. Die Arme starben, blieben tot am Weg zurück. Tränen versalzten, versauerten ihren Lebenssaft, und sie wurde ernsthaft krank. 40 Jahre lang war ihr Rumpf geteilt, sie bettlägerig, ehe es zu einer erstaunlichen Wunderheilung kam: Über Nacht verschwand die Wunde aus ihrer Mitte, und, kaum gesundet, schmiss sie sich dem feinen Herrn Hamburg an den Hals. Der überschüttete sie zwar mit Komplimenten und schenkte ihr glänzende Seidenstrümpfe, aber im Grunde baggerte er sie schonungslos aus. Zu allem Überfluss verhökerte er sie an Reeder aus Shanghai, die sie ohne Rücksicht überfuhren. Sie wurde breit und breiter, rau und grau. Ein Junge namens Jan Cux schenkte ihr ein letztes Lächeln, doch sie wunk ab, schritt langsam vorbei und stürzte sich ins Meer. 


Freitag, 12. April 2019

Deutsche Flüsse (6): Hunte



Ist ein Chemie-Unglück passiert?

fragte meine Frau, als ich sie entführen wollte an

die Ufer jener Moorwasser, aus denen ich einst kroch.

Nein, das muss so (wir zogen dann woanders hin).


Als ich klein war (richtig klein)

warf Mama mich nach Zentrifugenrotation ins 

sonnenblonde Foto. Olantis, vor der Außensauna.

Badehose braun-orange (bald ist das Foto leer). 


In Wildeshausen mit meinen Cousins

und Elsbeth beim Burgberg. Ein toter Aal (oder ein Ast?)

touchiert die Tante. Sie schreit geschockt und schleudert 

den Ast (oder Aal?) flussabwärts. Ja, ähnlich wie mich Mama.


Wiesen unter Wasser: eine neue Welt.

Die fetten Gräser, auf denen man schnattern kann, im Eis

verstummt. Wie bei Pieter Bruegel (aber mit Moonboots).

Seit das Sperrwerk steht, singen die Gräser ganzjährig.


Mit LKW-Schläuchen (kurz vor Achselhaar).

Ich tauche auf, und meine John-Lennon-Brille ist weg.

Alle Jungs gründeln im Modder (ich hocke weinend am Ufer).

Gegen Abend: Ich kann wieder sehen (imagine).


Schwarzangeln. Ein Mann im beigen Cordanzug 

(Warum tragen diese Leute immer beige?) fragt

nach unseren Angelscheinen. Wir stehen steif und stumm 

(wie die eingefrorenen Schnattergräser).


Prüfung abgelegt. Ich fange zwei Dutzend Kaulbarsche,

die Mama mühsam filetiert (lecker). Nachts beisst ein

Aland an und wickelt die Schnur um eine Baumwurzel;

eine Stunde Entheddern (Ende der Anglerkarriere).


Motto meiner Schulzeit: Die Brücke war hoch (Hubbrücke).

Sagte man, wenn man zu spät zum Unterricht erschien 

(eigentlich überquert die Cäcilienbrücke den Küstenkanal, 

wie mir soeben auffällt).


13. Klasse, Sportkurs Rudern.

Vorsicht, der Einer kippt schnell um. Carsten (stoned)

klettert rein und platsch (alle lachen). Danach schwamm

ich noch zweimal am Ruderhaus vorbei (im Nieselregen).


Jetzt wohne ich woanders (durchsichtiges Wasser),

bade in Sehnsucht (Soundtrack vom Gras),

tauche unter (und schließe meine Wunden 

mit Klammern).
















The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

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