Dienstag, 16. Juli 2019

Rom sehen und...

Sportkamerad Bernd Hartkopf hat einen alten Text ausgegraben, den ich für verschollen hielt:

Rom sehen und... (1) 
by Wigald Boning on Tuesday, 17 July 2012 at 11:47 · 
Um per Fahrrad von Füssen nach Innsbruck zu gelangen, benutzt man normalerweise den Fernpass. Deutlich schneller erreicht man die Hauptstadt Tirols jedoch, wenn man zunächst nach Garmisch-Partenkirchen radelt, um von dort aus den Zirler Berg zu überqueren. Gegen diese Route spricht, dass sie für einigermaßen vernünftige Zweiradfreunde gänzlich ungeeignet ist: Mit starkem Gefälle stürzt sich die breite Trasse ins Inntal hinab, alle paar Meter stehen Schilder, die auf das strikte Verbot für Fahrräder und die besondere Gefahr auch für Kraftfahrer hinweisen, alle paar hundert Meter sind Nothalterampen für bremsschwächelnde LKWs in den Berghang gefräst. Als wir die Kuppe des Zirler Berges erreichen und die Abfahrt beginnt, ist es bereits fast ganz dunkel. Atemberaubend leuchtet Innsbruck in der Tiefe, atemberaubend ist aber auch die Geschwindigkeit, in der man sogleich innwärts schießt, da selbst bei trockenem Wetter die Rennradbremsen dem Gefälle kaum gewachsen sind. Man kann lediglich mit festem Händedruck versuchen, die Fahrt ein bisserl zu drosseln. Vorteil des Höllentempos: Der Rennradraudi ist schneller unten, so dass die Polizei kaum Zeit findet, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Weiteres Schmankerl: Bei Gegenverkehr mit Fernlicht wird die Abfahrt durch temporäre Erblindung des Zweiradlers gewürzt. S-Bahnsurfen ist dagegen babyeierleicht. Wie heißt die gleichnamige Sendung? "Nicht Nachmachen" - Das gilt auch hier.

Um kurz nach zwölf erreichen wir den Brenner. Auf der Passhöhe steht das Wohnmobil, in dem uns Sigi und Daniel mit heißer Nudelsuppe verköstigen. Im Radio dudelt Tanzmusik. Beste Laune, Hüttengaudi. Die Laune trübt sich zügig ein, als auf der Brennerabfahrt stämmiger Regen einsetzt. Dicke Tropfen zischen durch die schmalen Lampenlichtkegel; jede Kurve wird zur Reifenprüfung. Als wir Brixen erreichen, bin ich durchgeweicht, und meine Füsse frieren. 

Bozen. Es dämmert zaghaft, und schwere Backstubenduft-Schwaden liegen über der Stadt. Wir durcheilen diese gähnend auf der Umgehungsstraße. In einem langen, muffigen Tunnel überholen uns, neben vielen fetten LKW, auch Sigi und Daniel. Riegelrast am Ortsausgang.

Trento ist eine Stadt, die mit Leuten wie uns nicht zu rechnen scheint; Ohne böse Absicht finden wir uns plötzlich auf einer Autobahn wieder und müssen uns Buhhupen gefallen lassen. Immerhin sind wir zu fünft und fühlen uns in der Gruppe stark. Wir: Das sind mein bester Sportfreund Hannes, sein Bruder Peter, Nachwuchsradsportler Cornelius und Bernd, Langstreckengeneralist, der von unserer Rom-Idee via fb erfahren hat. Beherzt kurbeln wir zur nächsten Ausfahrt, tragen unsere Räder durch den Morast einer Baustelle, passieren die Innenstadt und entdecken einen exquisit asphaltierten Radweg parallel zur Etsch. Wermutstropfen: Es tröpfelt wieder. Und zwar volle Kanne.

In Rovereto gelingt es uns lange nicht, das Wohnmobil zu finden. Abstimmungsprobleme. Auf das olle Navi mit der Software von annodunnemal ist auch kein Verlass, und auf den Typen, der es bedient (ich) schon gar nicht. Überhaupt wissen wir zur Stunde noch nicht so recht, wie wir denn überhaupt fahren wollen. "Ist doch egal, führen doch eh alle Wege nach Rom" hatten wir im Vorfeld gewitzelt. Ob der Spruch stimmt? Beim Frühstück in der "Bar Rovercenter" schwant uns, dass man sich kaum blauäugiger in dieses Abenteuer schmeißen kann als wir.

Tempo zügig. Windschatten. Peter hat angekündigt, nur eine Hälfte mitfahren zu wollen, und spendiert und dafür einige Sonderschichten Windbruch. Doch selbst an der Spitze unserer Kolonne ist er schneller es für den Rest günstig wäre. Wir wollen ja nicht ums Eck zum Eiscafé, sondern in die ewige Stadt. Hm. Geht denn das mit 30er Schnitt? Als auf dem Weg nach Villafranca di Verona tropischer Starkregen einsetzt, halten wir zum ersten Mal außerplanmäßig. Uff.

Die Poebene. Für mich als Oldenburger nichts angsteinflößendes; Schweinemast und Ebenmaß kenne ich aus der Heimat. Im Gegensatz zu meinem Freund Hannes finde ich derlei Flachpanoramen sogar ganz hübsch. Mittagspizza in...in...in...Namen vergessen. Ein Kaff wie diese Orte im Wildwestfilm, wenn die fünf Schurken einreiten, Mittig wiederum hat das Kaff eine große rote Burg, ferner denkmalhalber ein Weltkriegsgeschütz neben einer Madonnenstatue und daneben eine drömelnde Katze. Heiß heute. 

Zickzackzick, dann übern Po, wiederholte Wegfindungsprobleme. Alle sind genervt, und mir ist's peinlich. Dass wir auf dem falschen Weg sind, merke ich ja immer als erster, schlucke dann stumm, überlege, ob ich durch einen unbemerkt bleibenden Zacken den Irrtum ausbügeln kann. Normalerweise geht dies nicht. Hitzehalt an einem Großsupermarkt. Speiseeis und Grobuddeln eisgekühlte Cola werden auf Ex gelöscht.

Mittlerweile ist Spätnachmittag, die Moral angeschlagen, der Gesprächsstoff aufgebraucht. In der Ortschaft San Felice sul Panaro errechnet das Navi einen Weg, der im Nichts endet. Mist, zurück. Der andere Abzweig endet an einer Bahnlinie. Seltsam. Nochmal der errechnete WEg. Kann doch gar nicht sein. Endet im Kies. Arg, falsch. Oder der da? Ist das überhaupt ein Weg? Ausprobieren. Halt, zurück. Erst wird getuschelt, dann gezischelt. Sigi und Daniel warten derweil 30 km weiter auf uns. Hannes macht dem Spuk ein Ende. "Schluß, wir pausieren jetzt hier". Im Ort jedoch keine Kneipe, kein Café. Dafür alles kaputt. Erdbeben. Es folgt der gewiss groteskeste Moment meiner Sportlerlaufbahn. Wir kehren ein in der Bar eines Flüchtlingslagers. Hunderte Menschen wohnen hier in Zelten und warten auf den Wiederaufbau. Die Innenstadt mit ihren historischen Gebäuden ist schwer getroffen, abgesperrt, und wird von Militär vor Plünderern geschützt. Und nu' kommen gereizte, übernächtigte Hansels auf ihren 5000-Euro Rädern und mischen sich unter jene, die unlängst alles verloren haben. Ja. Weiß ich auch nicht. Wird noch ein Weilchen dauern, bis ich die hierfür passende Einschätzung gefunden habe. Vor Ort jedenfalls werden wir still, uns ist etwas übel, Ratlosigkeit allenthalben.

Hannes' Kniekehlensehne ist entzündet, als das Wohnmobil eintrifft, versucht Sigi, das Problem per Tape zu lösen. Am Bahnhof wird eine große Italienkarte in den Schatten gelegt. Peter meint, dass es besser sei, statt mit Navi per Karte den Weg zu suchen. Matte Debatte. Ohne Entschluss geht es irgendwann einfach weiter. Wohin? Nach Rom eben. Wohin denn sonst. Kurzhalt vor Bologna. Hannes Sehne erzwingt sein Aufhören. Peter steigt auch aus. Der Rest klemmt Lichter ans Rad und rollt in die Dämmerung. Eigentlich sieht der Plan vor, Bologna im Westen zu umfahren, um sich dann in einer Ortschaft namens Sasso Marconi aufs Ohr zu legen, aber ich Vollidiot, Totalversager, Komplettnull, mache wieder irgendetwas falsch, oder mein Navi macht etwas falsch und ich merke es nicht rechtzeitig, was weiß denn ich, und plötzlich bemerken wir, dass wir mitten duch Bologna rollen und n Tagesausklang mit einem schönen Dutzend Extra-Km verzieren. An einer roten Ampel macht Cornelius irgendeine kleine Bemerkung, nichts böses, à la "Nimm's nicht persönlich, aber ich glaube, ich stecke morgen mal die Karte mit ein", und mir platzt der Kragen. Binnen Sekunden steht mir der Schaum vorm Mund, ich herrsche ihn an, dass er die Klappe halten soll, sonst könne er morgen mit seiner Karte alleine durch die Gegend fahren, sprinte davon - um allerdings sogleich einzuhalten und kleinlaut um Entschuldigung zu bitten. Interessant. So was ist mir höchst selten passiert. Kann ich mich eigentlich gar nicht dran erinnern. Offenbar ist bei mir eine Grenze erreicht, hinter der sich jene Charaktereigenschaften befinden, die wohlweislich sonst bestens verborgen sind. Spannende Frage: Ist es überhaupt sinnvoll, an diese Grenzen zu gelangen? Will, muss man überhaupt wissen, wie das "wahre Ich" aussieht, wenn es von den Umständen freigelegt wird? Zumal, wenn es hässlich ist, dies "wahre Ich?" Bernd beschwichtigt, der junge Cornelius akzeptiert meine Entschuldigung. Tatsächlich ist unser Umweg mit 500 Extra-Höhenmetern verbunden. 20% Steigung. Fluch, Schwitz, Keuch. Aber auch die Habenseite kriegt Futter: Herrliche Hügel am Rande der Appeninen lassen die berühmte Mühsal der Poebene vergessen, und der letzte lila Abendglanz, der auf den Gipfeln liegt, trägt Frieden in unsere Herzen. 28 h unterwegs, 600 km auf der Uhr. Heia. 
Rom sehen und...(2) 
by Wigald Boning on Tuesday, 17 July 2012 at 17:52 · 
Tüdelüdelüt. Handywecker. Eine Wiese in den Appeninen, morgens um halb sechs. Also: so spät, dass das irgendwann vollmundig angepeilte Zeitziel "48h" ab sofort Makulatur ist. Beim Blitzfrühstück frage ich Bernd, wo denn 
Cornelius stecke. "Steigt aus wegen Knieproblem". Schade. Vorteil des langen Ausschlafens: Bernd und ich sind guter Dinge und bestens ausgeruht. Wir rollen locker Richtung Pistoia, um dort zu frühstücken. Ein Tunnel will durchquert werden, aus dem ein ohrenbetäubender Lärm dringt. Was ist das? Leopardpanzer? Jumbo Jet? Bergdrachen? Meine Nackenhaare sträuben sich, zumal an der lautesten Stelle die Beleuchtung defekt ist. Aha, der Krachmacher ist ein an der Decke hängender Mammutventilator. Wohl kaputt. Für Autofahrer kein Problem, für Tunnelradler ohne Gehörschutz eine echte Mutprobe. Ich denke an Jim Knopf, Lukas den Lokomotivführer und den Scheinriesen, der, wenn man ihn erstmal aus der Nähe betrachtet, all seinen Schrecken verliert. 
Wir üverqueren einen Höhenzug, dessen Format dem Schwarzwald in Ost-West-Richtung entspricht; die letzten 14km schießen wir mit Höchstgeschwindigkeit bergab. Neben krampfenden Händen peinigen mich Schulterschmerzen vom vielen Stützstress. Aber die Aussicht in das Arnotal macht glücklich.

Von Pistoia geht es weiter zum Hbf nach Prato, wo wir Sigi & Co treffen, Wasser und Riegel nachladen und wo ich mir recht kleinlaut eine Landkarte kaufe, zur Absicherung. Dann wuchten wir uns Richtung Florenz. Schnellstraßenalarm, tüt-tüt. Uns egal, in der Mittagshitze ist uns Aufregung unmöglich. Lass' sie halt hupen. Von den großartigen Sehenswürdigkeiten der Arnostadt sehen wir keine, dafür aber die verrottende ehemalige forstwirtschaftliche Fakultät der Uni. Warum wir diese passieren, weiß nur unser Navi. Nicht fragen, treten. An der südwärtigen Stadtgrenze wird's steil; ab sofort traversieren wir die Hügel der Toskana. Zikadengezirpe, sonst kein Laut. Luftspiegelungen, Smaragdeidechsen. Auf jeder Kuppe bleibe ich stehen und warte auf Bernd, dem die Höhenmeter mehr zusetzen als mir. 
Ich bin das erste Mal in der Toskana und kann spontan konstatieren, dass ich nie eine anmutigere Landschaft gesehen habe. Aber hinter der geschwungenen Grazilität der Formen steckt eine eiserne Lady, die grausame Lady Toskana eben, welche den mutigen Pedaleur erröten lässt. Schwitzend schrauben wir uns höher und höher durch das Val di Pesa, müssen bereits nach zwei Stunden Getränke nachladen und kurbeln zunehmend zeitlupiger. Immer öfter wische ich mir mit meinen schmutzigen Pranken den Schweiß von der Stirn und sehe bald aus wie Lukas der Lokomotivführer. Irgendwann passieren wir irgendeinen Hauptgipfel, erkennbar durch Masten, Kreuze, Aussichtsturm und rollen mit ausgedörrten Schleimhäuten durch den Saunawind hinab nach Siena, unseren nächsten Treffpunkt. 
Als wir den Ortskern erreichen und uns zum berühmten Marktplatz durchfragen wollen, stelle ich fest, dass mein Sprechwerkzeug dehydrationsbedingt keine Laute mehr von sich zu geben vermag. Immer mal was neues.

Siena! Ah! Was für ein Marktplatz. Alles roter Ziegel, welch ein Masterplan. Zweimal im Jahr treten hier alle 13 Ortsteile in Pferderennen gegeneinander an; die Viertel bzw. Dreizehntel sind allesamt nach Tierarten benannt. Unter den Städten ihrer Größe ist Siena jene mit der niedrigsten Kriminalitätsrate. Warum dies etwas mit den Pferderennen zu tun hat, steht bei Wikipedia. Unbedingt lesen. Mit unseren invaliden Freunden essen wir Pasta, trinken Cola aus Maßkrügen, tauschen Brille gegen Sonnenbrille, verzichten auf Beleuchtung (wir treffen uns ja sicher vor Sonnenuntergang) und verlassen die auf einem Hügel gelegene Altstadt über eine spannende Rolltreppenanlage. 6 Geschosse, just wie bei Hertie, nur dass nicht Herrenkleidung und Spielwaren mit Lebensmitteln, sondern verschiedene Epochen und Baustile miteinander verbunden werden. 

Die SS 2 nach Cassia ist für Fahrräder verboten. Egal, wir probieren's trotzdem. Als aber die Autos mit 120 an uns vorbeiknattern, verlässt uns der Mut und wir geisterfahren zurück zur Auffahrt. Das Navi lenkt uns ersatzhalber über eine weitere Gebirgskette, die "Le Crete". Schlappe 25 km Umweg. Großzügige Buckel, die ich, während ich auf Bernd warte, fotografieren will, allerdings ist die Handylinse mittlerweile so von in den Trikottaschen abgesetzten Riegelresten verschmiert, dass sich nur Bilder mit David-Hamilton-Effekt knipsen lassen, und auch diese nur, nachdem ich das Telefon gründlich abgelutscht habe. Leider ist auch die Schallquelle des Handys verschmierriegelt, so dass Anrufer nur sehr leise gehört werden können. Eins wird uns auf diesem Umweg jedoch klar: Die schönsten Winkel entdeckt man durch Verirrungen. Und weil wir oft verirren, sehen wir viel schönes. Taugt auch gewiss als Metapher, die in vielen Lebensbereichen Verwendung finden kann.

Kurz vor Buoncuore lesen wir auf einem Schild: "Roma 210 km" - eine Lektüre, die uns rührt und glücklich macht. 210 könnten wir zur Not durchfahren. Zur Not. 
Aber wir haben keine Not. Fürs erste freuen wir uns, dass wir endlich legal auf die SS 2 gelangen. Wenig Verkehr, bester Asphalt, sanftes Auf und ab. Ins Handy brüllend verabreden wir uns zum Abendessen mit den anderen in der "Delfin Bar", bei km 160. Also noch 30. Und weil es dämmert, und ich mit meiner Sonnenbrille in der Düsternis nichts sehen kann, geben wir Fersengeld. 

Übernachtet wird im ausgedorrten Bachbett, ich liege, weil's so heiß ist, nackt zwischen den Disteln, und große Insekten krabbeln über die Salzkrusten, die meinen Körper bedecken. Macht mir gar nichts aus. Mir ist alles egal. Morgen sind wir in Rom 
Rom sehen und...(3) 
by Wigald Boning on Wednesday, 18 July 2012 at 08:10 · 
Brille verbogen; wohl im Schlaf draufgelegt. Ist jetzt auch egal. Es ist vier Uhr dreissig, das große Ziel liegt noch etwa 160 km entfernt und hat drei Buchstaben. Bernd und ich tragen die Räder aus dem Bachbett zur Strasse, knipsen die Lampen ein und rollen durch die Dunkelheit. Sonntagmorgen, d.h.: wir haben den Premiumasphalt der SS 2 für uns allein. Fast. Ab und zu begegnen wir Autos. Die Fahrer sind um diese Uhrzeit potentiell besoffen, und so prüfen wir jedes herannahende Fahrzeug aufmerksam auf Schlangenlinien. 
Als die Fahrt nach zwei Stunden Dämmerung im Ort Acquapendente zäh zu werden droht, öffnet sich der Blick auf einen riesigen Talkessel; unter uns liegt der kreisrunde Lago di Bolsena. Die Welt in Cinemascope. 

In der Ortschaft Bolsena überfallen wir eine Bäckerei. Zwei Vollverdreckte laufen Amok, verschlingen Hörnchen auf Hörnchen und lassen Espresso in ihre Herzkammern laufen. Apropos: Die meisten Menschen heutzutage wissen ja gar nicht, wie sich das anfühlt: Dreck. Erst, wer von knibbelfesten Krusten umgeben ist, weiß ein duftendes Seifenstück so recht zu schätzen. Zur Steigerung der Lebensqualität empfehle ich eben dies: Regelmässige Schmutzperioden, um die Sauberkeit wieder zum Erlebnis werden zu lassen. Viel Vergnügen im Modder.

Bald passieren wir ein Schild, darauf steht: "Roma 100 km". Wir nicken uns zu. Ab jetzt kann uns auch ein schwerer Defekt nicht mehr stoppen. Zur Not müsste man das Rad eben schultern. Verhalten vorfreudig entern wir die Stadt Viterbo und grübeln ein letztes Mal über einer heiklen Navigationsfrage: Fahren wir SS 2, ab hier autobahnähnlich ausgebaut, oder vertrauen wir dem Navi, das uns eine kürzere, aber verdächtig kurvige Kleinstrasse empfiehlt? Wir folgen dem Navi, haben uns von ihm ja eh versklaven lassen. Wir lachen hysterisch, als wir zuerst eine Reha-Klinik passieren ("Sollten wir uns hier nicht auf der Stelle einliefern lassen?") und lachen lauter, als wir kurz darauf in engen Serpentimen ein idyllisches Kloster ansteuern, die Abtei San Martino am Monti Cimini. Nahezu traumwandlerisch ist es uns gelungen, unsere Reiseroute mit einem weiteren heftigen Anstieg zu verzieren. Auf der Gipfelhöhe umarmt mich Bernd, und aus dem hysterischen Lachen wird das Geschnatter des Wahnsinns, irgendwo zwischen Apocalypse now und Spongebob Schwammkopf. 
Bergab geht es durch einen efeuumrankten Märchenwald. Der Schlafmangel vertieft den Eindruck satten Dunkelgrüns, und mein Herz schmilzt auf der Abfahrt vor Wohlbehagen. Linkerhand liegt der Lago di Vico, ein Vulkansee, der angeblich durch einen Keulenhieb des Herkules entstanden sein soll. Wir stellen die Räder ab und mischen uns unter die Badegäste am schwarzen Kiesstrand, trauen uns aber nicht, ganz ins Wasser einzutauchen, fürchten Sitzprobleme durch nasse Hosenpolster. Mein Hintern ist eh schon wund, aber durch Schorfkrusten gut geschützt. Das soll so bleiben. Überhaupt, mein Körper. Die Füße sind seit Florenz eingeschlafen. Sicher irgendeine Nervenirritation. Trifft sich gut, dass Sohlensensibilität auf dem Rad völlig unnötig ist. 
Nach dem Bad regulieren wir am Kiosk unseren Espressopegel und rollen weiter bergab. 

Letzter Akt, Nun hilft uns nix mehr, wir müssen auf die ausgebaute SS 2, ob wir wollen, oder nicht. Die Sonne scheint uns für Schnellgerichte zu halten, die gegart werden wollen, Dieselduft wabert die Auffahrt hinab, und wir stoßen mit grimmigem Blick hinein. Zwischen Leitplanke und Schnellverkehr ist zumeist ein Meterchen Platz; nur manchmal gilt es, Metallschrott oder geplatzten Mülltüten auszuweichen, die hier an der römischen Peripherie offenbar gerne durch das Autofenster entsorgt werden. Ich fahre ca. 100 Meter voraus, Bernd hinterher. Menno, wann kommt denn endlich dieses blöde Rom? Eine Stunde rollen wir nun schon über die breite Trasse, die auf Fahrradfahrer wirkt wie ein Krustenbraten auf Veganer. Oder bin ich einfach nur zu waschlappig? Da schießt irgendwann ein gut gegeelter Radsportler auf die Trasse, überholt mich freundlich grüßend und freihändig, schält behende eine Banane und nestelt an seinem Handy herum. Dass er derweil ums Haar von mehreren Autos überfahren wird, scheint der Autostrada-Crack gar nicht wahrzunehmen. Alles Übungssache, das ganze Leben. Und dann geht's noch einmal lange und raketig bergab, der Tacho zeigt 63 km/h, die Autos in Griffweite sind jedoch doppelt so schnell, und schließlich steht auf einem Ausfahrtsschild: "Roma Centro". Ich warte, einen Fuss lässig auf die Leitplanke gestellt, Bernd naht heran, ich zeige aufs Schild, grinse so breit, dass ein Teil der Dreckkruste in meinem Gesicht wegplatzt, und gemeinsam rollen wir in den Vorort Cassia hinein. Roma, città aperta. Triumphatorenparade. Eine letzte Lasagne am Straßenrand. Wo ist denn nun die Stadtgrenze genau? Keine Ahnung, aber das Straßenschilddesign und die Bushaltestellen kommen mir bereits bekannt vor, von früheren Besuchen. Da vermeldet der Tacho 1000 km Fahrtstrecke, bei 8400 Höhenmeter und 66 Stunden Gesamtzeit inklusive Schlaf. Angekommen. Um unsere Tour mit einem brauchbaren Endpunkt auszustatten, rollen wir hinab zum Tiber und machen Fotos. Zwei Räder unter einem Romulus-und-Remus-Relief. Passt doch. Und dann geht's weiter zum Hotel, wo unsere Freunde uns applaudierend empfangen. Abends Party am Campo del Fiori. Soweit mein Bericht in aller Kürze. 

Liebe Enkel, wenn es Euch dereinst gibt und Ihr dies lest: Nie hat Euer Opa eine tollkühnere Fahrradtour unternommen. Tut es ihm nach. Fahrt nach Rom. Das Gefühl bei der Ankunft ist nicht käuflich. Man muss es sich erarbeiten. Nebenbei lernt man schöne Landschaften kennen, und am "wahren Ich" rollt man auch vorbei. Regelmäßige Verirrungen steigern den Genuss, und am Ende führen tatsächlich alle Wege nach Rom. Die beschriebene Route kann ich vorbehaltlos empfehlen (abgesehen vom Zirler Berg, für den gilt: Nicht nachmachen)! Viel Spass!

Sonntag, 14. Juli 2019

Diktat: Auf dem Weg zum Holzschuhmarathon



Zweiter Holzschuhlauf Test nachdem ich im Frühjahr mein aller erstes blutiges Experiment abgebrochen hatte. Heute probiere ich es mit einer Kombination aus Skitouren Socken und speziell angefertigten dämpfenden Wollstrümpfe von Heike Zucker die diese weltführende Sockenstrickexperten unterseitig mit Latex Farbe Rutsch fest gemacht hatte.  Wichtigste Erkenntnis meiner selbst Verletzung damals: bei niedrigem Tempo wird sich die Stoßbelastung des harten Holz ist weniger gravierend aus. Also bin ich heute Motorrad unterwegs: 6:30 Uhr Start, dann gemessenen Schrittes am Nymphenburger Kanal entlang zum Schlosspark, Dort das übliche Größe am Hartmannshofer Bach, Pagodenburg, Hein und zurück. Bequemes Laufgefühl, allerdings registriere ich ab Kilometer fünf erhebliche Hitzeentwicklung unter den Fußballen. Es wäre erwägenswert, die Holzschuhe um eine weitere Lage, sprich Schuheinlagen zu ergänzen, und zwar nach Möglichkeit Kühlende. Im Extremfall ist es vielleicht günstiger meine Weltrekordversuch im Winter stattfinden zu lassen. Lieber wäre es mir jedoch aus dem Stand loszulegen davor mir zweieinhalb Wochen genial daneben das Quiz in Köln liegen, und ich über zwei freie Tage verfüge die mit recordträchtigen spazieren gehen gefüllt werden können. Da ich diese Zeilen mündlich in mein Handy spreche und auf die Diktierfunktion vertraue,Kann ich noch nicht absehen, ob die heißen Fußballen lediglich Ausdruck spät Römische Dekadenz sind, oder auf eine großflächige Ablösung der Lederhaut zurückgehen. Letzteres würde eine Laufpause erzwingen und mein Experiment in den Winter verschieben, ob ich will oder nicht.

Ich erlaube mir, das Ergebnis meines Diktats und verbessert zu lassen, und reiche den medizinischen Befund nach Heimkehr und Frühstück per P. S. Nach.


P.S.: Daheim: 11 km in 1:53 - neue persönliche Bestleistung im Holzschuhdauerlaufen. Die Fußsohlen sind gereizt, werden sich aber in Kürze erholt haben. 

Die Diktierfunktion erfüllt ihren Zweck ähnlich wie ein Holzschuh: Leidlich, sagt man wohl. Nein, ich war nicht „Motorrad" unterwegs, sondern „moderat". Bruche mer net, fott damet. 

Samstag, 13. Juli 2019

Alles übertrieben




„Alles übertrieben!" findet der niederbayerische Besenschwinger. Seit neun Jahren arbeitet die Reinigungsfachkraft in List auf Sylt, hat sich in die, wie er meint, „schönste deutsche Insel" verschossen und kommt nicht mehr weg. Aber, so fügt er missmutig hinzu, es sei mittlerweile eben alles hier übertrieben. Alleine der Autoverkehr. Selbst in den ruhigsten Wohngegenden Kampens droht jederzeit eine Überrollung, was umso schwierwiegender ist, als dass die überrollenden Fahrzeuge alle schwer wiegen. Wer Glück hat, wird nur vom Porsche Carrera geplättet, das leichteste Kfz, das in der Nähe des Avenariusparks anzutreffen ist. Dabei ist dieser Park unbedingt sehenswert: Schmucker Rasen, lindnerbartkurz, auch für die Wege. Ein Boulodrom, was meine Mama, die ja im Verein boult, frohlocken lässt. Und natürlich flotte Katen mit Reetdach, an denen sich die Relativität des Begriffs „Armut" gut zeigen lässt. „Arm" ist, so meine ich mich zu erinnern, wer über weniger als 60% des Durchschnittseinkommens verfügt. Rund um den Avenariuspark liegt das Durchschnittseinkommen bei einer sehr vorsichtig geschätzten Million pro Jahr und Kopf. Aber auch hier gibt es eben Armut: Bewohner von Reetdachhäusern von mittelfrüher, mit einfachen Teerosen auf den Findlingsmauern statt Nizzadeluxe-Züchtung. Einer scheint gar keinen Gärtner zu beschäftigen, sein Garten sieht nahezu ungepflegt aus. Du liebe Güte, macht der arme Kerl das selber? Tränen steigen mir in die Augen, und ich erwäge zu klingeln, um dem Tropf ein paar Tausender als milde Gabe zuzustecken. 




Teresa kriegt böse Blicke zugeworfen, weil sie Theo stillt, in aller Öffentlichkeit. Das ist den alten, weißen Männern unter ihren Reetdächern gar zu zigeunerhaft. Aber nicht nur den Männern. Neulich im Bus sorgte sie schon für böse Kommentare alter, weisser Damen. „Schlimm, wenn man jedes Schamgefühl verloren hat" raunten sie ihr zu. Ich war nicht dabei, glücklicherweise, denn so schamhaft ich sein kann, so kurz ist meine Lunte, wenn ich derlei höre. Kein nackter Busen kann jemals so aufdringlich, so verdorben sein wie, wie...ein Auto. 



Kupferkanne, schönes Café. Hier war ich auch schon mit Walter, 1988, und ich kaufe im Store eine Fahrradklingel für kleines Geld, als Finishermedaille für meine Radelei von Hamburg hier her. Reelle Preise sind auf Sylt nicht selbstverständlich: Für 3h Schwimmbadbesuch als Nicht-Hotelgäste zahlten wir zu zweit im A-Rosa satte 126€, allerdings zwei Langnese-Eiskrem inklusive. In meiner Perplexität habe ich die Schlussrechnung nicht eingehend studiert, so dass ich davon absehen möchte, irgendjemanden des Wuchers zu beschuldigen. Vielleicht haben die Speiseeis-Preise in letzter Zeit ja stark angezogen, etwa wegen Bienensterben plus Klimawandel. Keine Bienen keine Blüten keine Früchte keine Polkappen kein Eis kein Langnese, so in etwa, und der Löwenanteil des Obolus ging fürs Schleckvergnügen drauf.

Gestern in Kampen: Jazzfestival, wir zu früh vor Ort, und ich will dem soundcheckenden Till Brönner wenigstens die Hand drücken. Aber ein Security-Mensch mit gelben Zähnen pfeift mich barsch zurück. Uff, sowas schlägt auf die Laune. Könnte meinen Freunden bei Gosch nicht passieren. Jürgen Gosch habe ich schon 1988 bewundert, als er noch selber in seiner Fischbude stand und ulkige Döntjes erzählte. Heute steht er noch immer an gleicher Stelle, allerdings ist aus der Fischbude ein Viertel geworden, mit Riesenrad, Tonnenhalle, Kunstausstellung- in Ausmaß und Bedeutung für List etwa das, was die „Autostadt" für Wolfsburg ist. Goschs Thainudeln habe ich in den letzten Jahrzehnten dutzende Male verdrückt: An den Hauptbahnhöfen in Köln und München; ich bin Fan und Fachmann, und auf Sylt fällt zudem die unaufgesetzte Nettigkeit seines Personals auf. Und so fällt unser Urteil durchwachsen aus, so wie das Wetter in den vergangenen Wochen. Sylt scheint, Sylt sucks. Entscheidend ist, dass die Familie in trauter Runde Geburtstag gefeiert hat, den 1. und den 78., und dass wir alle am Leben geblieben sind und nicht überrollt wurden von irgendeinem Bentley oder AMG-Mercedes. Und das, lieber Besenschwinger, ist nicht übertrieben! 




Montag, 8. Juli 2019

Luft und Liebe



Sylt. Hier ist es momentan kalt und windig. Nein, völlig falsche Wortwahl. Hier ist es erfrischend, und die Luft lebt. Wir genießen das gesunde Reizklima im Strandkorb und schauen Theo dabei zu, wie er versucht, in seiner fünflagigen Polarausstattung Sandburgen zu bauen. Gar nicht so leicht. Manchmal schafft er es, einige Meter gegen den Wind anzukrabbeln, dann sieht er aus wie eine seltene Schildkrötenart, die schwer deutbare Spuren im Sand hinterlässt. 

Zwischendurch wirft mein Vater trinkkulturell bemerkenswerte Salute aus den Fünfzigern ein, zB: „Alle Menschen sollen leben, die uns was zu trinken geben. Jenen aber, die dies neiden, wollen wir mit tausend Freuden Daunenfedern aus den Nasen zentnerweis ins Arschloch blasen. Und dies bei konträrem Wind, bis sie unsere Freunde sind. Prost!“

Die Abende verbringen wir mit Blick aus dem Fenster, auf das Dach des Nachbarhauses. Diesem fehlen zwei Dachpfannen, und bereits kurz nach unserer Ankunft hatten wir über dieses Fehlen allerlei Theorien entworfen. Inzwischen wissen wir, dass es sich um die Arbeitswege zweier Steinmarder handelt, die den Dachboden zu ihrem Lustschloss gemacht haben. Eigentlich sind Steinmarder Einzelgänger, nur zur Paarung ertragen sie ihresgleichen. Und wenn sie sich nicht gerade paaren, schauen sie aus dem Fenster - genau wie wir. Womit ich nicht sagen will, dass ich meine Frau nur in besonderen Situationen ertrage, i wo. Ganz im Gegenteil. Wir teilen alles miteinander, und zwar gerne. Wobei wir ja neben unserer Liebe wenig brauchen - im Grunde nur erfrischende, quicklebendige Luft. Prost! 

Samstag, 6. Juli 2019

Ein Loch






Ein Loch ist im Eimer

das Putzwasser läuft auf die Dielen

Im Fernseher läuft Mutter Beimer

Die Putzfrau muss schielen 

vom vielen Glotzen so dass


sie des Lochs nicht gewahr wird

Bald ist das Wohnzimmer nass

Sie träumt davon, dass sie ein Star wird

und rote Teppiche nutzt

für Bussis und Instafame


und sie nicht für Mindestlohn putzt

mit Fahrer und eigener Creme

und Richard Gere Auge in Auge

Doch in der Realität ist sie 70

und steht bis zum Knie in der Lauge


Sie ärgert sich, holt ihren Lappen

stopft das Loch mit etwas Kork

feudelt bis vier, isst einen Happen 

und seufzt: Farewell, Richard Gere

Dann nehme ich halt Andy Borg




Gauland und die Polyästhetische Erziehung.

Da bin ich nun in List, am (mittlerweile unkenntlich renovierten) Drehort von „Weine Nicht" und denke viel an Walter, den Regisseur, mit dem ich Ende der 80er, Anfang der 90er einen Kartoffelsack voller spannender Erlebnisse sammelte. Walter war ein enorm offener, vielseitiger, kreativer Mensch (allein 200 Albencover gehen auf ihn zurück, darunter Klassiker wie „The Jeremy Days"; mancheiner wird ihn auch als Sänger von „Palais Schaumburg" wahrgenommen haben. Hier ganz vorne links:)



Woher hatte Walter seine Eigenschaften? Learning by doing? Hatte er in jungen Jahren einen Mentor? Nie gefragt.

Jetzt also List. Durchwachsenes Wetter. Teresa hat Post von ihrer Doktormutter erhalten, fünf Bücher für Ihre Defensio Dissertationis zum Thema „Polyästhetische Erziehung". Sagt mir spontan wenig, und so beschließe ich, die Bücher auch zu meiner Ferienlektüre zu machen, aus ehelicher Solidarität.

Also los.

„Polyästhetische Erziehung" ist ein kunst- bzw. musikpädagogisches Konzept, das Ende der 60er an der Hochschule für Gestaltung in Hamburg entwickelt wurde, und zwar von Natias Neutert. Gilt als eine typische Theorie der 68er und besteht aus fünf Elementen: Polyästhetische Erziehung, so lese ich, ist multimedial, interdisziplinär, traditionsintegrativ, interkulturell und sozialkommunikativ. Nach 30 Seiten gähne ich verstohlen (es ist immerhin 22 Uhr) und beschließe den Tag, indem ich den dazugehörigen Wikipedia-Artikel aufrufe. Knapp und wortkarg. Auf Neutert wird verwiesen, klar, und anschließend auf, ich traue meinen Augen kaum: auf Walter Welke, geb. Thielsch, der bei Neutert studierte und sich, wie mir binnen einer Sekunde aufgeht, dessen Konzept zu eigen gemacht hatte. Schlagartig wach. Kreisschluss. Natürlich finde ich das vermeintlich trockene Thema sogleich faszinierend. Jazz funktioniert nach diesen Regeln, wenigstens seit Coltrane. Und Walter eben auch.



Neutert zeigte 1965 seinen Kurzfilm „Noch und Nöcher" auf der Berlinale (mit Iris Berben) und hat in den 70ern Karriere als TV-Zauberer gemacht, zB in der Sesamstrasse. Er schuf einen neuen Typus des Auftrittskünstlers zwischen Film, Bewegung, Kabarett und Zauberei; Neutert hiess bald „Totalkünstler" - und spontan denke ich an Hirschhausen, der ja auch besonders grosse Brücken schlägt, von Medizin zu Zauberei und Comedy. 

Erstes Fazit: Die „Polyästhetische Erziehung" ist eine jener Ideen der 68er, die Bestand haben und die unbeholfenen Reaktionsbemühungen der „Neuen Rechten" locker überleben werden. Niemand möchte heute ohne die Vielfalt leben, die mit ihr verbunden ist. Sogar ein Zauberkünstler Gauland nicht. Nicht einmal Ernst Jünger, den ja die AfD zu vereinnahmen sucht. Auch er schlenderte spätestens nach seinen Begegnungen mit Picasso und Albert Hofmann nach den o.g. fünf Prinzipien durch seine Tage, verkleisterte Käfer, „Gärten und Straßen", „Annäherungen und Rausch" zu seinen „Strahlungen", zu Oberlichtern, die sich gen gischtumtoste Marmorklippen der Unendlichkeit öffneten - mit LSD als Fensterkitt. Danke, Walter!

Apropos Gischt. Zeit für einen Strandspaziergang...




Dienstag, 2. Juli 2019

Von der Bühne zur Buhne



Reeperbahn - Rømø. Mein Rad steht bereits auf der Bühne, abfahrtbereit, den ganzen Auftritt lang. Zum Schlussapplaus schultere ich’s und gehe die Treppe hinab ins Foyer. Dort gibt’s eine Runde Autogramme, und los. Das Schmidttheater hat mir noch eine große Buddel Cola spendiert, aus der Garderobe habe ich ich zwei Wurstbrötchen entwendet, ich bin also bestens proviantiert, als ich um 21:30 die Reeperbahn Richtung Norden verlasse. Sommerliches Treiben in den Straßencafés. Sonntagabend, wenig Verkehr. Ich strampele Richtung Pinneberg, baue Auftritts-Adrenalin ab und Vorfreude auf die bevorstehende Nacht auf.

Durch Eimsbüttel und Stellingen zur Stadtgrenze. Erste Pinkelpause. Eidelstedt, Rellingen. Pinneberg sieht bei den Rathauspassagen im Abendlicht fast so aus wie London oder Paris. Also jedenfalls am Stadtrand von Paris. Wo sich Ghettokid und Hase gute Nacht sagen. Nordische Dämmerung: Zeitlupenverdunkelung. Immer schmaler wird der Lichtstreifen am Horizont, aber ganz weg will er nicht. Passenderweise fahre ich durch einen Ort namens „Helle Himmel". Wieder Pinkelpause. Habe schon in der Auftrittspause Cola gesoffen, das entwässert. Oder die Blase drückt wegen Aufregung. Ich bin zwar schon manche Nächte durchgeradelt, aber nicht nach einem Auftritt. Befruchtet sich sowas? Oder raubt der Vortrag zuviel Kraft? 




Große Wettern, Itzehoe. Da ist Teresa mal aufgetreten, mit „Boccaccio" von Franz v Suppé, und Thomas Müller und ich haben damals zugeschaut. Thomas ist Fotograf, einer der besten, hat gerade Wolfgang Tillmans fotografiert, einen anderen guten, und heute Abend saß er im Publikum. Teresa ist derweil auf Sylt und erwartet mich. So, genug Namedropping. 

Einzelne Kröten sitzen im Kegel meiner Funzel. Nur nicht drüberrollen! Ich liebe alle Amphibien, von Kermit über die mallorquinische Geburtshelferkröte bis zum schwarzen Alpensalamander, meinem Lieblingslurch. Dabei habe ich schon ziemlich viele von ihnen auf dem Gewissen: Als Kind versuchte ich regelmässig, aus Froschlaich adulte Tiere zu ziehen, was jedoch höchst selten gelang. Schämenswert. 

Im Rucksack drückt meine Ferienlektüre: Hemmingway, 49 Depeschen. Bescheuert, sowas mitzuschleppen. Am Wegesrand ablegen? Quasi ablaichen? Für die Kröten? Nein, geht auch nicht.

Schmale Straßen, leicht gewellt. Sommerhitze weicht feuchter Kühle. Erstes Großziel: Der Nord-Ostseekanal. Mein Navi wollte mich per Fähre übersetzen lassen; habe den Lapsus rechtzeitig bemerkt. Um diese Zeit kann man lange „Hal öwer!" rufen. 

Mon Dieu, ist das einsam hier. Schleswig-Holstein ist eine verwunschene Gegend. Mehr Kröten als Menschen. Ob ich mal eine Kröte küssen sollte? Und dann stehen vor mir die Filiüsse von Barschel und Simonis. 




Da ist die Brücke, hoch überm Kanal! Ich wuchte mich empor. Kein Auto, kein Geräusch, nichts. In der Ferne nähert sich ein Frachter, auf der anderen Seite weiterhin ein feiner Lichthall.

Ich pinkele von der Brückenmitte hinab in die Tiefe. Ist ja niemand da, der sich dran stören könnte. Meine Stirnlampe schwächelt. Im letzten Atemhauch der Batterie ordne ich meinen Rucksack, nehme einen Schluck aus der Colapulle, esse ein Wurstbrot und knipse, was das Nachtlicht hergibt. Halbzeit. 

Weiter geht’s Richtung Heide. Das Tempo lahmt zusehends, meine Augen fallen zu. Hier ein Reh, da ein Hase. Reicht leider nicht, um mich gründlich wach zu machen. Gegen drei wird’s nachgerade unangenehm. Ich schließe ein ums andere mal die Augen und genieße die Idee, auf der Stelle einzuschlafen. Eine Sekunde später reiße ich alarmiert die Augen auf. Ist einfach kein guter Platz zum Schlafen, so’n Fahrradsattel. Warum bin ich überhaupt um diese Uhrzeit unterwegs? Das Schmidttheater hatte mir ja bereits ein Hotelzimmer reserviert. Tja. Abenteuerlust - das wird’s sein. Mit Übermüdungsgarantie. Hinter Heide rolle ich durch ein Moor, richtiger Sumpf. Es riecht faul, und die Lichtbordüre am Horizont wird langsam wieder breiter. Anhalten, fotografieren. 



Naja, das Bild ist nicht soo stark, aber ich bin schon im Scheu-Stadium, in dem jede Meid-Gelegenheit gerne wahrgenommen wird. Runter vom Rad, kurz den Popo lüften. Zum zweiten Mal schmiere ich mir eine Handvoll Vaseline aufs Sitzpolster. Bleibt unbequem. Tagesform eher mäßig - könnte mit dem Auftritt zu tun haben, der eben auch ein paar Körner beansprucht. In der Ferne sehe ich eine weitere Brücke. Fast ist’s hell, als ich die Schlei überquere. 

Unter der Brücke grasen Kühe. Gut, da kann man gleich für noch eine Fotopause anhalten:


Die Brücke, so lese ich, wurde 1916 fertig gestellt, mitten im Krieg, und dahinter liegt das sagenhaft pittoreske Friedrichstadt. Eine Holländersiedlung, mit Grachten, Amsterdamer Häuschen und allem Pipapo. Wat’s allns gifft! Nie von gehört. Ich könnte ja schon hier in den Zug steigen...ach was, lieber erstmal in die Bäckerei. Die hat nämlich schon auf, um knappe fünf. Moin! Moinsen! Kaffee und Schnecke bitte! Ein Handwerker schneit rein, dessen Tochter ein Pferd hat und ein Pony. Die Bäckerin war wandern im Harz. 

Husum, die graue Stadt am Meer. Schimmelreiter. Müsste man glatt mal wieder lesen. Aber einstweilen schleppe ich ja Hemmingway zum gefühlten Nordpol. Echt grau hier, jedenfalls am heutigen Morgen, kurz nach Wettersturz. 20 Grad kälter als gestern abend. Ich zittere mich durch die Storm-Stadt. Jetzt rollt langsam der Verkehr. Ist das eine Bundesstraße hier? Garstige Töfftöffs. Mist, verfahren. Im Zickzack durch die Windräder. Hui, drehen die sich schnell. Steife Brise hier. Links sehe ich in der Halbferne den Deich. Zug oder Damm nach Rømø? Nein, ichbin für Zug. 40 km weniger Wegstrecke, und vor allem bin ich deutlich schneller bei Teresa und Theo. 

Blöder Gegenwind. Alle fünf Kilometer rechts, dann wieder links. Eine horizontale Treppe durch salzige Wiesen. Ich überquere die Lecker Au. Weia, was haben die für eigentümliche Flussnamen hier? Ob das Wasser schmeckt? Womöglich Süßwasser. Ja, das sind sie, die typischen 7-Uhr-Witze. Immerhin fallen mir die Augen nicht mehr zu, seit dem Kaffee in Friedrichstadt. 

Noch ein paar Mal rechts-links, dann bin ich in Niebüll, stehe am Gleis 3. Proppenvoll mit Zimmermädchen & Zimmermännern, die sich auf der goldenen Insel die Nase versilbern möchten. Zug fährt pünktlich um 8.03, also jetzt. Juhu! Schon mal bei Strava sichern: 187 km in 9:32 Stunden. Durchschnitt unter 20. Motto: Versuch‘s mal mit Gemütlichkeit. 

Hindenburgdamm ahoi. Eine halbe Stunde später debarkiere ich in Westerland und nehme die letzten 17 Kilometer nach List in Angriff, wo sich ja auch der Fähranleger für die Passage nach Rømø befindet. Also alle Ziele so gut wie erreicht. Fabulös, der Radweg durch die Dünen. „Von der Bühne zur Düne" wäre eigentlich der bessere Titel für diesen Text, aber jetzt ist zu spät. Ich fahr doch nicht zurück auf los, jetzt, nach über 200 km.



Noch ein Foto mit jener Wanderdüne, auf der ich 1988 das Video zu „Weine nicht!" drehte, mit dem großen Walter Welke, geboren Thielsch, der leider schon tot ist. Immerhin habe ich zwei Wochen vor seinem Ableben einen tollen Nachmittag mit ihm verbracht, bei der Abschiedsfeier von Horst Königstein im NDR. Danke. Sylt hat uns sozusagen zusammengeführt. Walter, wenn Du dies liest: Ich habe viel von Dir gelernt! Du warst mir eine besondere Inspiration! 


„Weine nicht!"


In List treffe ich meine Lieben, am Spielplatz neben der Tonnenhalle. Erstmal ein Fischbrötchen.



Anschließend nicke ich ein, nachmittags erneut. Auf dem Fussboden. Abends zu müde für irgendwas: Ich schaue bewegungslos „Bauer sucht Frau international". Fun fact am Ende: Dass ich mir zwei Tage hintereinander nicht die Zähne geputzt habe - daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Wahrscheinlich unsere Romtour. Jedenfalls irgendwas mit Fahrrad. 

Nach Rømø setze ich in den nächsten Tagen über - der Vollständigkeit halber. 

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