Samstag, 13. Juni 2020

Gespaltener Abszess

30.5.
Huch, ich bin auf einer Demo! Bzw.: Wir sind zufällig am Rotkreuzplatz, als die Kundgebung der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend startet, unter anderem „gegen Verschwörungstheorien“. 
Einer alten Dame ist der inhaltliche Ansatz völlig egal. „Ja derfen die denn des?“ fragt sie ungehalten eine Polizistin. „Ist angemeldet, sonst würden wir dazwischen gehen!“ Kopfschüttelnd und „mei o mei“ stöhnend wackelt die Seniorin davon. 
Noch zwei weitere Vertreterinnen der Denkrichtung „Best-Agers gegen das Demonstrationsrecht“  beschweren sich, auch darüber, dass die Aktivisten zu eng beieinander stünden. 
Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Minneapolis widmet sich ein Redner aus Afrika dem Problem rassistisch motivierter Polizeigewalt. Er spricht Englisch mit starkem Akzent, so dass ich zunächst rätsele, ob ihm überhaupt einer der Anwesenden folgen kann. Was ich schließlich verstehe, ist der Satz: „Policemen are bastards, idiots, motherfuckers“. Ich stehe direkt neben einem Polizisten, der interessiert zuzuhören scheint, und über dessen Mundschutz rollende Augen erkennbar sind, und als er sieht, dass ich ihn beim Zuhören beobachte, muss er schmunzeln. Glaube ich.
Die Kundgebung hat knapp dreißig Teilnehmer und wird von kaum weniger Polizisten „eingekesselt“, wie ein anderer Redner rügt. 
Vielleicht hätte ich die alten Damen beruhigen können, indem ich ihnen von der neuesten Ausgabe des Drosten-Podcasts erzählt hätte: Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass der übergroße Anteil aller Ansteckungen drinnen stattfindet. Das heißt: Jetzt im Sommer sollte das Leben nach draußen verlagert werden, und über Mindestabstand kann an der frischen Luft getrost neu nachgedacht werden. Vielleicht sind 1,50 m übertrieben, meint Drosten, vielleicht reicht sogar der ganz normale Abstand, in dem man sich zum prä-pandemischen Dinner im Gartenlokal traf, früher, als noch alles aus Holz war. 
Es ist ja nicht so, dass erst die Corona-Krise Politiker zu radikalen Maßnahmen zwingt: In einer Churchill-Biografie lese ich abends über die Niederlage Frankreichs 1940. Ein Teil der französischen Flotte liegt im Hafen von Mers-el-Kébir in Algerien. Um zu verhindern, dass Deutschland sich der Schiffe bemächtigt, lässt Churchill sie beschießen. Die Kriegsschiffe sind auf den Angriff des Bündnispartners nicht vorbereitet und sinken mit 1297 Mann Besatzung. „Die unnatürlichste und qualvollste Entscheidung, die ich je zu treffen hatte“, wie Churchill in seinen Kriegsmemoiren schrieb.
Warum schreibe ich mir das alles auf? Ich weiß es nicht. Aber aus den Sozialwissenschaften kommt die „Grounded Theory“, Chicago, 60er Jahre. Ganz verkürzt: Man beginnt einfach mal mit der Forschung, ohne zu wissen, was man da eigentlich erforschen will. Mein ganzes Leben ist „Grounded Theory“. Schau ma amoi, dann seng ma scho.
Ach ja, bevor ich’s vergesse: Ich habe einen Auftritt, am 13.6. in der Theaterklause in Brandenburg an der Havel. 17 Uhr draußen vorm Gebäude. Mit Jürgilein vom „Institut für Putzpoesie“. Wir dürfen 50 Karten verkaufen. Oder doch 100? (Man kommt ja nicht hinterher). Egal. Ich bin wieder im Business und freue mich wie ein Haselnusscremtortenesel!

31.5.
Gleich vier Studien sollen in Baden-Württemberg klären, ob es vertretbar ist, Kinder wieder in Bildungseinrichtungen zu schicken. Ministerpräsident Kretschmann hat sich zwar schon festgelegt, aber die Ergebnisse dieser Forschungen sind bis auf weiteres nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. 
Was passiert eigentlich, wenn sich am Ende herausstellt, dass Kinder doch ein größeres Infektionsrisiko darstellen als erhofft? Belässt man es dann bis zur Impfstoffeinführung beim Not- bzw. Online-Unterricht? 
Mittlerweile ist Deutschland daran gewöhnt, dass nichts gegen den Rat der Epidemiologen entschieden wird. 
Auch, um den verschreckten Lehrern ihre Angst vor Traditionsunterricht mit Schülerkontakt zu nehmen, wird es notwendig sein, mindestens eine Studie zu präsentieren, die im Titel das Wort „Entwarnung“ trägt. 
Ich hätte vorsichtshalber noch ein paar weitere Studien in Auftrag gegeben - sicher ist sicher. 
Wir verbringen den Nachmittag in Herrsching. Am Ammersee liegen Sonnenanbeter; sie haben sich teilweise entkleidet, tragen aber Mundschutz. Wenn denn am Ende des Sommers alles gebräunt ist, außer Bikinipartie und das Trapez im Gesicht, ist ein neues Schönheitsideal kreiert. „Geule blanche“, „A whiter shade of pale“, „Corona-Strandbart“ - mal sehen, welcher Name sich für diese Mode durchsetzen wird. 
In einem Kloster in der Nähe hat die Leitung versucht, für die Mönche Kurzarbeit zu beantragen. Wurde zwar abgelehnt, aber meine Freude über diesen Vorgang will und will nicht weichen. Ein Mönch in Kurzarbeit: Betet der seltener? Nur einmal statt fünfmal täglich? Und was macht er mit dem plötzlichen Freizeit-Überhang? Wandern, wundern, Weißbier trinken? Köstlich! 
Teresa und ich sind schon einen Schritt weiter und treiben unsere Rückkehr ins Berufsleben voran. Am 19. Juni treten Bernhard Hoëcker und ich mit „Gute Frage“ auf dem Car Watch Festival in Viernheim auf. Autokino ist ja für Humoristen, was der Strandbart für die Sonnenanbeter ist: Le dernier cri. Muss ich mal gemacht haben, alleine schon um zum Publikum sagen zu können: „Du guckst wie ein Auto!“
Heute ist erstmal Pfingsten, das Fest der Ekstase. Teresa darf singen, morgens in St. Achaz (Sendling), abends nochmal in der großen Kirche in Solln. Allzu gerne würde ich dabei sein, auch, um zu gucken, wie so‘ne Messe in diesen Tagen abläuft - aber einerseits hätte ich mich dafür wahrscheinlich schon vor Tagen anmelden müssen, und andererseits ist es eh mein Job, die Kinder während der Eucharistie um den Pudding zu schieben. Merke: Für Väter (und Mönche) jibbet keine Kurzarbeit.
Frohe Pfingsten allerseits!

1.6.
Ich schaue mir auf YouTube „America the Beautiful“ an, gesungen von Ray Charles im Oktober 2001 bei den World Series. Volles Stadion, glühende Liebe. Der elfte September liegt damals kaum einen Monat zurück, und in den stechenden Schmerz mischt sich eine diffuse Hoffnung, dass Amerika, dieser Quell der Kraft und der Neugier, seine inneren Konflikte überwinden kann. Als der Film vorbei ist, habe ich feuchte Augen.
Die Hoffnung trog, all seine Kraft hat Amerika nunmehr gegen sich selbst gerichtet. In Trump bündeln sich die schlechtesten Eigenschaften: Überheblichkeit, Maßlosigkeit... ach, muss ich nicht aufzählen, weiß ja jeder. Vor allem ist er auch völlig unfähig zum Brückenbau. Nein, er WILL gar keine Brücken bauen; lieber lässt er sein Land im Bürgerkrieg versinken und gewinnt die Wahl als umgekehrt. 
Aber: Den Unwillen, miteinander zu reden, gibt es auch bei uns, und er nimmt zu. Hängt vielleicht mit den Filterblasen zusammen, dass Soziotope sich immer mehr voneinander entfernen, immer abschätziger übereinander herziehen. Andere Meinungen werden geblockt, Fall erledigt. 
Und dann ist da der Rassismus. Auch den gibt es bei uns, er ist alltäglich; buchstäblich jedes Kind mit schwarzer Hautfarbe erlebt auch bei uns Hänseleien; Türken in meinem Freundeskreis berichten vom Problem, mit ihrem Namen Immobilienmakler von ihrer Solvenz zu überzeugen usw. 
Ja, wir sind bisher mit weniger Tod und Turbulenz durch die Krise gekommen als andere, aber es wird uns nichts nützen, wenn die Welt von einem Strudel der Gewalt erfasst wird. Auf das Geschehen in USA werden wir kaum Einfluss nehmen können, was wir allerdings tun müssen, ist: die EU zu verteidigen, zu stabilisieren, alle notwendigen Schritte zu gehen, um gewappnet zu sein, wenn Trump zB sein Heil darin suchen sollte, China zu zeigen, wo der Hammer hängt. 
Am Nachmittag überlege ich, wann ein Mitglied der Familie Boning erstmals einem Schwarzen begegnet ist. Verbürgt ist folgende Geschichte: Frühjahr 1945. Soldaten der 7. britischen Panzerdivision erobern die Stadt Wildeshausen und durchkämmen die Häuser auf der Suche nach versprengten Wehrmachtsangehörigen. Meine Uroma sitzt im Keller und wartet auf Frieden. Die Tür öffnet sich, ein dunkelhäutiger Brite stürmt mit vorgehaltenem Gewehr herein. Meine geschockte Uroma hat Todesangst und bettelt um ihr Leben. Der Brite lässt die Waffe sinken. Er nestelt einen Schokoriegel aus seiner Brusttasche, steckt ihn der alten Frau in den Mund und geht wieder. Ende der Geschichte.

2.6.
Erst spät zu Hause. Grund: Der Kugelschreiber, mit dem das Honorar für den Auftritt als Kirchenmusiker per Unterschrift quittiert werden soll, muss laut kirchlicher Hygiene-Verordnung jedesmal desinfiziert werden, bevor er die Hand wechselt. 
Blöd nur, wenn das Desinfektionsmittel nicht da ist, wo es hingehört. Ich schiebe den Kinderwagen vor der Kirche auf und ab. Wo bleibt sie denn, meine Frau? Schubladen, Einbauschränke und Hauswirtschaftsräume werden durchsucht. Schließlich, endlich, gefunden! Der Stift wird von allen Seiten eingesprüht, dann fasst der Schriftführer den Kuli an der Mienenspitze und überreicht ihn meiner Gattin. An der Messe am Morgen hatten 20 Personen teilgenommen, abends immerhin 57 - mehr erlaubten die Bestimmungen nicht. 
Dem heiligen Geist, der Pfingsten in die Gläubigen fährt, ist die Teilnehmerzahl allerdings schnurz; der Atem Gottes schert sich nicht um Aerosol-Risiken.
Die USA haben derweil Brasilien zwei Millionen Dosen Hydroxychloroquin geschickt, jenes Malariamittel, das Donald Trump vorbeugend einnimmt, dessen Wirkungslosigkeit allerdings belegt ist. Aber hängt nicht der therapeutische Wert eines Präparats von jener Intensität ab, mit der der Patient an dessen Wirkung glaubt - hierin dem heiligen Geist verwandt, der die Aposteln zur freien Zungenrede animierte? 
Spötter mag die Praxis allerdings auch an jene Geburtstagsgeschenke erinnern, die auf das Großreinemachen folgen: Da wird etwa der hässliche Fliesentisch, der jahrelang im Keller stand, schamlos Tante Elfriede zum 60. überreicht. Hier in unserem Viertel in München jedenfalls stehen allerlei Pappkartons an der Straße, „zu verschenken“. Ich habe auch schon zugegriffen, einen Sammelband Graham-Greene-Romane, um anschließend daheim in nahezu paranoider Gründlichkeit Buchdeckel und Flunken zu schrubben. 
Nicht nur die Früchte des Ausmistens verzieren unser Stadtviertel, auch wird reichlich wild plakatiert: A0, weiße Schrift auf rotem Grund. „Geisterspiele sind unerträglich und nicht länger hinzunehmen“, dazu das Bild irgendeines DFB-Funktionärs (kenne mich nicht richtig aus). Auf einem anderen Plakat steht: „Die Kröte Saison-Abbruch muss der Fußball-Millionär jetzt schlucken“, und daneben beißt Ulli Hoeneß in eine ihm in die Hand montierte Erdkröte. Kombiniere: Da sind offenbar Fußball-Fans verärgert, weil sie nicht ins Stadion dürfen. Aber würde ein Saison-Abbruch nicht dazu führen, dass die Fans nicht nur nicht ins Stadion dürfen, sondern dass es gar keinen Fußball mehr zu sehen gibt? Oder verstehe ich das Anliegen völlig falsch, und es geht gar nicht um Fußball, sondern um Krötenwanderung? Abbruch der Paarungssaison? Aber was hat Hoeneß mit dem Ablaichen der schwanzlosen Amphibien zu tun? 
Ich fühle mich überfordert und pfeife mit Bob Dylan „The answer my friend is blowing in the wind“- wenn denn dies aerosolistisch vertretbar ist.

3.6.
Ein Geheimtipp für alle Flugreiselustigen: Luftzug hilft. Man könnte die Tür des Verkehrsfliegers einen kleinen Spalt breit offen lassen. Ich habe das mal bei Augsburg Airways erlebt, an Bord einer Fokker 50 auf dem Weg von Köln nach Augsburg: Kurz vor Beginn des Landeanfluges entriegelt sich die vordere Tür. Eine geistesgegenwärtige Stewardess springt zur aeronautischen Türklinke, ergreift sie und bleibt so bis zur Landung stehen. Ihre Blick ist auf uns Fluggäste gerichtet, und sie lächelt unsicher. Die Passagiere, das typische männliche Manager-Klientel, blicken bleich und ehrfürchtig auf die Türsteherin. Nach alpakaweicher Landung brandet donnernder Applaus auf. 
Gut, angelehnte Türen mögen nicht die sicherste Lösung sein, alternativ böte sich eine Perforation der Flugzeughülle an. Ein Loch vorne, eins hinten müsste reichen, um alle Aerosole abzuführen, schneller als man sich mit ihnen infizieren kann. 
In die Diskussion werfen möchte ich auch den Zeppelin. In ihm kann man die Fenster kippen, kurbeln, die Mähne in den Fahrtwind werfen. Aus meiner Sicht sind Zeppeline auch deshalb zukunftsträchtig, weil ihre Hüllen reichlich Platz für Solarmodule bieten, so dass der Ballermann-Törn nicht nur virensicher, sondern auch klimaneutral durchgeführt werden kann. Ich bin mal mitgeflogen, in der „König Pilsener“, ein Rundflug über Nürnberg. Glaubt mir, Zeppelin ist besser als Düse, Turboprop, sogar cooler als Hubschrappschrapp. Man sieht detailreicher und sitzt bequemer.
Vor Kurzem noch schien die Frage nach der post-pandemischen Sommerfrische kapital, aber inzwischen ist der Tiger Corona in den Schatten gestellt von einem noch größeren Raubtier, nämlich Tyrannotrumpus Rex. Während der Saurier auffallend kurze Arme hatte, ist es bei Trump der Verstand, der... oh nein, ich werde auch heute nicht Trumps Defizite thematisieren, es lohnt einfach nicht, sich mit Nullen zu beschäftigen. Gebt mir einen Churchill, gebt mir Mao, gebt mir Karl den Großen, von denen kann man was lernen, aber die Beschäftigung mit Nullen hebt niemanden auf ein höheres Level. Karl der Grosse zB war ein begeisterter Schwimmer, darum zog er samt Hof nach Aachen, wegen des ganzjährig warmen Wassers. Mao schwamm im Jangtsekiang und Churchill besaß immerhin einen schnieken Außenpool - alle drei waren begeisterte Schwimmer. Trump schwimmt auch, aber in einem Meer aus Wut und Verzweiflung. Es stürmt, und die Wellen brechen über seinem Schopf zusammen. Trump omabrüstelt, versucht den Kopf über Wasser zu halten und reckt eine Bibel in die Höhe. Das Meer ist nicht sein Element. Besser kann er Golf spielen, aber auch das kann er nicht so gut wie er weismachen möchte. Kann man bei „Commander in Cheat“ nachlesen, dem besten Buch, das über Trump geschrieben wurde. Trump fährt mit dem Caddy zum Green voraus, um dort die Bälle neu zu arrangieren, auf dass er gewinnt. Sein wesentliches Talent ist das Schummeln, ist der Bluff. Und so hoffe ich, dass auch seine Drohung, das Militär gegen Demonstranten einzusetzen, nur einer dieser Bluffs ist.

4.6.
Seit sechs Jahren trage ich am Rücken einen Knubbel mit mir herum, von dem ich meinte, es handelte sich um ein Lipom. Eine Ärztin riet mir einst, das Ding wie einen lieben Untermieter zu behandeln, der zwar niemals Miete zahlt, aber auch nicht weiter stört. Rauswurf unnötig, es sei denn „sie wollen noch mal in den Pirelli-Kalender“. So richtig angefreundet habe ich mich mit dem Untermieter allerdings nie, kaum je mit ihm ein Wort gewechselt (er wohnt nach hinten raus). Letzte Woche jedoch fuhr ich 300km in etwas enger Radhose ohne Träger, nur mit Scheuerbund, und das Ding hat sich entzündet. Wuchs über Pfingsten auf Baseball-Format, und ich fühlte mich belästigt. Der kranke Typ pochte, von früh bis spät an meine hintere Wand, wie mit einem Besenstiel. Raus mit ihm! 
Entschlossen fuhr ich zum Krankenhaus, füllte ein gelbes Formular aus, in dem ich versicherte, dass ich keinen Husten hätte, meine vom Pförtner gemessene Temperatur betrug 35,7, dann zog ich eine Nummer und wartete. Zwei Stunden später: Im kleinen Behandlungszimmer begrüßte mich die Ärztin mit den Worten: „Wegen mir müssen sie hier keine Maske tragen“. Ihr Freund sei Mathematiker und habe errechnet, dass die Ansteckungsgefahr momentan extrem gering sei, dass aber, wenn ich denn infiziert sei, ich alle in diesem engen Zimmerchen unweigerlich anstecken würde, Maske hin oder her. 
Sodann wurde meine Hausärztin berichtigt: Mein Untermieter sei mitnichten ein liebes Lipom, sondern eine zickige Zyste, bei der ich immer wieder mit Fisimatenten rechnen müsse. Ein Räumkommando sei angezeigt. Erst müsse aber die Entzündung abklingen. Drei Handlanger in Gummischürzen traten hinzu, und mit einem stählernen Rammbock wurde die Wand der Einliegerwohnung geknackt. Die Mietnomadin wehrte sich, in dem sie kübelweise heiße, weiße Soße auf das Räumkommando spritzte, goß, während ich bäuchlings auf der Liege staunenden Ahs, Ohs, „Mein Gott, ist das viel!“, „Hol nochmal einer zwei Handtücher“ und ähnlichen Kommentaren lauschte. Anschließend inspizierte eine Fachkraft für Umzüge und Entrümpelungen das verwohnte Souterrain, wischte feucht durch und hinterließ eine Europalette voller Tamponaden im Loch, ehe sie mich verband und für meine Tapferkeit lobte.
Nun futtere ich artig einen Hafersack voller Antibiotika, darf regelmäßig zur Kontrolle in die Klinik pilgern, ehe dann, in frühestens vier Wochen, Frau Zyste endgültig auf die Strasse gesetzt wird. Ja, ich weiß, die Situation am Wohnungsmarkt in München ist dramatisch. Mir egal, ich klage auf Eigenbedarf. 
Mit Sport ist jetzt erstmal Essig. Stattdessen wird gelesen. „Die Pest in London“ von Daniel Defoe und irgendwas von Jürgen Ploog. 
Und jetzt: Guten Appetit!
Ach ja: Wo, bittschön, kann man sich hier für den Pirelli-Kalender bewerben?

5.6.
Mein Lieblingscafé ist schwer gebeutelt, wie so viele, wahrscheinlich alle Gaststätten weit und breit. Bisheriges I-Tüpfelchen war die Weigerung der Versicherung, die bei Betriebsschliessung wegen Pandemie vereinbarte Summe zu zahlen. 
Im Gegenzug gab es auch eine gute Nachricht: Die Stadt München gab vor Kurzem die Parkflächen vor den Straßencafés zur Bestuhlung frei. Die nette Wirtin hatte jedoch Hemmungen, das Angebot anzunehmen, weil sie die Anwohner nicht um ihre Parkfläche bringen möchte. „Das sind ja auch alles meine Kunden - jedenfalls theoretisch“. Um etwaige Konflikte mit der Nachbarschaft zu vermeiden, beließ sie es also bei wenigen Tischen auf dem Gehweg, just so wie in der „alten“ Normalität. 
Vor einigen Tagen wollte sie morgens ihren Laden aufschließen und traute ihren Augen kaum: Im Zuge der Tramschienen-Sanierung hatte man die Parkfläche vor dem Café aufgerissen und eine Baugrube gegraben. Da sie die Stellplätze nicht für sich deklariert hatte, sprach, so meinte der Bauleiter, nichts gegen die staubige, ohrenbetäubende Maßnahme. Nun agieren Planierraupen und Muldenkipper dicht neben den verbliebenen Tischchen, und eines ist klar: Wer hier einkehrt, ist entweder taub oder treuester Stammkunde oder steht auf Baufahrzeug-Spotting. Auf uns treffen (bisher) die letzten beiden Attribute zu. 
Mein kleines Söhnchen ist, wie die meisten Jungs in seinem Alter, ein Baustellenfan. Stundenlang kann er dem Treiben beiwohnen, und ich fürchte, dass ein täglicher ausgedehnter Besuch in diesem lautesten Straßencafé der Welt auch meinem Gehör gehörig zusetzen wird. Aber wir haben ja Beethoven-Jahr, da muss das so.
Bevor es sich so richtig einregnet, war ich heute morgen noch mal ein Ründchen radeln, schwitzfrei und auf glattem Asphalt, damit der Verband nicht verrutscht. Die Ärztin meint zwar, Sport sei momentan nichts für mich, aber: Bewegungslosigkeit treibt mich zuverlässig in schlechte Laune, ungefähr so wie Diät. Um mopsfidel und puppenlustig zu bleiben, nehme ich ärztlichen Rat nicht als Dogma, sondern lediglich als wertvollen Diskussionsbeitrag, der eben mit allen anderen Lebensaspekten in eine Balance gebracht werden will. 
So sehe ich mich auch außerstande, meine Kinder nicht zu tragen oder mit ihnen nicht zu turnen. So weit kommt’s noch. Kinder gehen vor, und zwar in jeder Lebenslage (diesbezüglich ticke ich anders als die Ministerpräsidentenkonferenz; in Sachen Schul- und Kindergartenöffnungen würde ich die Wissenschaft gar nicht erst konsultieren. Schulbetrieb geht weiter, basta).
Nun gut, vielleicht ist diese Haltung auch Kappes, und ich trage, turne & radle gut gelaunt ins Erdmöbel, wir werden sehen. 
Meine Gattin gab unlängst zu bedenken, dass mein Tagebuch gar zu coronäisch und darum arg eintönig sei. Ja, ich fürchte, da hat sie recht. Und so hatte ich mir gerade vorgenommen, ab sofort kein Wort mehr über die Krise zu verlieren, doch wenige Minuten später flattert die Nachricht herein, dass die Novemberkonzerte meiner Gattin abgesagt worden sind, weil man bis auf weiteres keine Proben durchführen könne. Und so endet das Beethoven-Jahr für sie ohne Beethoven. 
Zum Trost lade ich meine Frau jetzt zum Frühstück ein. Ich kenn da ein tolles Café...

6.6.
Wieder im Krankenhaus zum Tamponadenwechsel. „Ihr Metier hat‘s ja auch ins Fernsehen gebracht“ sage ich zum Arzt, „Dr. Pimplepopper. Kennen Sie die?“ - „Na klar - kenne ich. Allerdings ist das eher unorthodox, was die Frau da macht.“ - „Im Sinne von: unakademisch?“ - „Naja; sie sticht da rein, wo ich eher ausschaben würde. Macht eben optisch mehr her“. 
Diesen Dialog wollte ich den erstaunlich vielen Lesern von vorgestern nicht vorenthalten, die mir Pimplepopper empfahlen. Eine spannende Facette des Eitertainments. 
Keine Frage, dass die Grenzbereiche des Seins zukünftig noch schonungsloser zur Performance gemacht werden. Und während ich mich in der Horizontale pimplepoppern lasse, male ich mir einige Fernsehvorhaben aus, erdacht in unschuldigen Zeiten, bis zu deren Realisierung wohl noch eine Weile vergehen wird: „Das große Promi-Koma“ - Ein Anästhesist versetzt 12 Prominente in tiefen Schlaf, und nur, wer ausreichend Fans dazu veranlasst, die Hotline anzurufen, darf wieder erwachen. Wortwitzmöglichkeiten sind reichlich vorhanden: „Ohne Punkt und Koma“, „Wir schalten jetzt live rüber zum Koma See“ etc. Im Erfolgsfall lässt sich die Show auch auf Tour umsetzen: Die schlafenden Promis werden in den Merchandising-Abteilungen der Handelspartner (Drogeriemärkte/Non-Food-Bereich der Discounter) hinter Glas ausgestellt.
Einen Schritt weiter geht „Jetzt wird eingesargt“, eine lustige Showidee, die ich mir neulich mit Hugo Balder einfallen ließ und die uns in angenehme Albernheit versetzte (vor Wuhan wohlgemerkt). Neckische Spiele auf einem stilisierten Friedhof im Studio, etwa „Anbaggern“, Kommandos wie „Alle an die Urnen!“, und Karl Dall ist in jeder Show dabei, als Untoter. 
Völlig klar, dass derlei Kaspereien momentan von keinem Fernsehsender umgesetzt werden können, schon alleine wegen der Gefahr, sich im Corona-Kontext dem Vorwurf mangelnder Pietät auszusetzen.
Neulich noch wurde über die Zukunft von „Genial Daneben - das Quiz“ gesprochen, eine Show mit einem Saalpublikum, das in der alten Normalität aus 99 Personen bestand. Wie zukünftig verfahren? Mein Vorschlag: Wir gründen eine WG in Köln mit 99 Bewohnern, die, polizeilich gemeldet, zu einem Hausstand gehören und legal ins Studio dürfen, sogar ohne Sicherheitsabstand. Ihr könnt Euch kaum vorstellen, wie schnell ich „Ist nur ein Scherz!“ hinterherschickte, um nicht zum moralischen Bruder Leichtfuß erklärt zu werden. Gelacht hat aber niemand, vielleicht zu recht.
Keine 99, dafür sogar 150 Karten verkaufen dürfen Jürgilein und ich, das „Institut für Putzpoesie“ für unsere Dichterlesung in Brandenburg an der Havel. Nach Rücksprache mit der Stadtverwaltung können wir uns auf der Freilichtbühne auf dem Marienberg austoben. Es gibt Beschallung, Food-Truck, gutes Wetter ist bestellt, Freunde, DAS wird ein Fest! 13.6., 17 Uhr. Tickets über Theaterklause. 
Mein Highlight des Tages: „Alfie“ von Burt Bacharach, vierhändig mit Mathilda aufgenommen und in der Insta-Story hochgeladen. Ja, ich feuere aus allen Rohren, ob beim Hautarzt oder im Netz.

7.6.
„In aller Freundschaft“ wird wieder gedreht. In der „WELT“ las ich, dass die Produktionsfirma den Drehbuchautoren vorab mitteilte, wie man die Krankenhausserie fit für die Neue Normalität machen sollte: Körperkontakte (Küssen, Berührungen, Auffangen bei Ohnmacht), und „Schauspieler über 60 bitte sehr reduziert einsetzen bzw. eliminieren“. 
Risikogruppen, so stellt sich jedenfalls die „Saxonia Media“ die Zukunft vor, gehören nach Hause bzw. ins Heim. Um die Penunzen müssen sich die Betroffenen nicht sorgen, denn es gibt ja diverse Soforthilfen und  „Kraftpakete mit Wumms“ (Olaf Scholz). Oha, schrieb ich soeben Olaf Scholz? Der ist 62 und kann sich, sofern es mit der Kanzlerkandidatur nichts werden sollte, eine Bewerbung bei „In aller Freundschaft“ schon mal sparen. Gleiches gilt auch für Günter Jauch und den Papst. Alle eliminieren. Und wenn die mit der Entwicklung des Impfstoffes nicht ein kleines bisschen Gas geben, bin ich auch bald dran.
Diskussionsthema an der Bushaltestelle : Ob Riesen-Demos, bei denen der Mindestabstand nicht eingehalten wird, weniger verwerflich sind, wenn sie sich gegen Rassismus richten, als wenn sie von Impfgegnern & Verschwörungstheoretikern besucht werden. Spontan konstatierte ich: die Abstandsverordnung gilt für alle, genauso wie das Demonstrationsrecht (es sei denn, Du bist über 60. Dann husch ins Körbchen, bevor dich der Eliminator holt). 
Im weiteren Tagesverlauf wurde ich aber unsicherer; vielleicht gibt es sowas wie „mildernde Umstände“ bei moralisch höher anzusiedelnden Zielen - wenngleich man die Wiederherstellung eingeschränkter Grundrechte womöglich ebenfalls für ein solches Ziel halten konnte.
Apropos Verschwörungstheorie: Beim bevorstehenden Abzug von 10.000 US-Soldaten aus Deutschland dachte ich sogleich an Elvis Presley, der ab 1958 in Deutschland diente und im Film „G.I. Blues“ das Lied „Muss I denn zum Städtele hinaus“ sang. Auch Vico Torriani und Heino nahmen, von ihm infiziert, eigene Versionen auf, so wie Vicky Leandros, Zupfgeigenhansel und Hannes Wader. Die illustre Reihe zeigt die enorme Ansteckungskraft des King, noch bevor er zum Coronavirus transformierte; unabhängig von Alter und Geschlecht ist niemand vor ihm sicher. 
Erstmals wieder mit einem Autokauf geliebäugelt. Allerdings käme nur eine entkernte Corvette in Frage, bzw Opel GT oder ein schöner Wolga oder eine Citroën DS, wohlgemerkt ohne Gekröse, dafür zum Tretauto mit elektrischem Hilfsmotor umgerüstet (letzteres auch, um die Prämie zu kassieren). Weiß jemand, wer solche Erwachsenen-Tretautos herstellt? Gibt es die überhaupt?

8.6.
Neuerdings bin ich als Interviewpartner zum Thema „Wildes Zelten“ gefragt. Scheint, wie mir eine Journalistin am Telefon versicherte, einer der Tourismus-Trends der Saison zu werden. Wenn man „wild“ campieren möchte , so erläutere ich, sei ein Tarp (einfache Plane als Regenschutz) dem Zelt vorzuziehen, da ein „Notbiwak“ zur Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit überall erlaubt ist, allerdings eben nur ohne Zelt. 
Wichtig ist im Grunde nur, dass der Schlafsack trocken bleibt - das geht ja zB auch unter Brücken. Und dann muss ich schmunzeln, weil ich mir ausmale, wie halb Deutschland in dieser Saison nicht zum Ballermann fliegt, sondern das Leben eines Lolli-Bruders führt, und die TUI den neuen Trend entdeckt und professionell vermarktet.
Als ich „Im Zelt“ schrieb, konnte ich die aktuelle Situation nicht erahnen. Eher schon den Klimawandel, auf den ich allerdings damals auch nicht einging. Camping ist ja nicht nur infektionssicher, sondern auch klimaneutral, sofern man zu Fuß bzw. per Rad unterwegs ist. 
Schließlich erzähle ich der Journalistin, dass ich in meiner Walmagen-Zeit erstmal drei Monate brauchte, um draußen genauso gut schlafen zu können wie im heimischen Bett. Und so entsteht ein Gutteil des Camping-Thrills aus jener Nervenschwäche, die mit Schlafmangel einhergeht. Schnell fliegen da die Fetzen. Ehe man sich ehelicht, so empfehle ich jungen Paaren, sollten diese unbedingt zusammen eine Woche zelten gehen - da lernt man den Partner nochmal ganz anders kennen. Teresa und ich haben‘s auch so gemacht. 
An Schlaf mangelt es mir persönlich momentan nicht, aber dennoch ist mein Gemüt nicht in Paradeverfassung. Alle paar Tage muss ich zur Klinik, ausgerechnet jetzt, da man nach den Monaten der Häuslichkeit endlich reisen könnte. Hella von Sinnen kommt mir in den Sinn, von der der Satz überliefert ist: „Wenn die Corona-Kacke vorbei ist, mache ich mir erstmal ein paar schöne Tage daheim.“ 
Apropos Kacke: Die Antibiotika vertrage ich nicht, und Sauna ist mit meinem wuchtigen Verband ebenso unmöglich wie Duschen. Während des Lockdowns habe ich noch gewitzelt: Körpergeruch ist der beste Distanzverstärker, also Finger weg vom Brausebad. Und nachdem ich wochenlang freiwillig geschweißelt habe, hänge ich jetzt ein paar duschfreie Wochen an, völlig unfreiwillig. 
Draußen dauerhaft Dreckswetter, der Milchaufschäumer ist ebenso kaputt wie die Kaffeemühle, und mein Lieblingsverein Werder Bremen gibt meiner Psyche den Rest - es ist zum Heulen.
Spät am Abend erreicht mich die Nachricht vom Tod meines hochverehrten Onkels, 96 Jahre alt, wobei ich ihm doch gerade kürzlich, nach seinem spektakulären Autounfall, das Prädikat „unsterblich“ verliehen hatte.
Teresa war auch schon besser gelaunt: Zu den deprimierenden Auftrittsabsagen kommen reichlich Fernweh sowie ihr ausgeprägtes Bedürfnis nach Geselligkeit. Neulich hat sie einen schicken Mundschutz bei ebay Kleinanzeigen verschenkt, im Grunde nur, um mit der Abnehmerin zu plaudern, und als die Nutznießerin das Ding einfach mitnahm, ohne Smalltalk, war meine Gattin ganz geknickt. 
Ich will nicht dramatisieren, aber wenn wir die Krise zur spannenden Challenge umdeuten, zur Langzeit-Ausdauerprüfung, dann nähern wir uns dem „Mann mit dem Hammer“, wie die Marathonläufer den Gipfel der Kraftlosigkeit bei km 35 zu nennen pflegen. 
Aber wie sang Juliane Werding einst? „Man muss das Leben eben nehmen wie das Leben eben ist“. 
Eine gediegene neue Woche allerseits!

9.6.
Fanfare! Es geht nach Österreich, zu unserer Hütte. Heute ist Almauftrieb, da will meine Frau unbedingt dabeisein. War der rote Faden der zurückliegenden Monate. Mit dem ärztlichen Fachpersonal habe ich vereinbart, dass der nächste Verbandswechsel auch anderswo stattfinden kann, und randvoll mit knisternder Vorfreude packe ich den großen Familienkoffer. Ganz wichtig: Mein Antibiotikum, das ich streng nach Plan dreimal täglich zu schlucken habe. Dann: Ersatzwindeln für fünf Tage, Feuchttücher, Zweit- und Dritthosen für die Kinder, Schlafanzüge, Kinderschlafsäcke, Regenkleidung, das ganze Geraffel, das Eltern in der ersten Welt mit auf die Reise nehmen. Dann, weniger wichtig: Etwas Ersatzkleidung für mich und meine Frau. Natürlich Verpflegung - die Speisekammer dürfte leer sein. Und meine Geldbörse, für alle Fälle.
Die Hütte liegt zweieinhalb Stunden entfernt, in Tirol, auf 1800m, einen ansteckungssichereren Platz wird man in Europa kaum finden. Nachbarn gibt es keine im Umkreis von sieben km. Für Hüttenpächter, so hat sich in Alpinistenkreisen herumgesprochen, sind Ein- und Ausreise unproblematisch. Also packen wir die Kinder ins Auto und fahren zum Grenzübergang Kiefersfelden, wo die Kontrollen eingestellt zu sein scheinen. Wir jauchzen so inbrünstig, wie wir gestern noch niedergeschlagen waren. Es ist, als täte sich mit dem Grenzübertritt ein Tor in eine Parallelrealität auf, in der es keine Viren gibt, kein Trump, keine Zysten, keine Konzertabsagen, dafür immerwährenden Sonnenschein, fliederfarbene Dämmerungen, ein behäbiges Dauerschaukeln in der Hängematte des Lebens mit Blick hinab in die Täler des Seins. Und mit jedem Höhenmeter, den uns Teresas Automobil dem verklärten Ziel entgegen bringt, klopft das Herz schneller, höher, weiter. Und einen kurzen Moment lang denke ich: Hoffentlich wird diese Flucht nicht bestraft, von einer höheren Macht, etwa vom King höchstpersönlich.
Von unten stechen wir in die Wolke ein, dichter, kalter Nebel umfängt ums. Schlagartig ist die Forststrasse kaum noch zu erkennen. Schritttempo. Ein paar Kehren weiter: Prasselnder Regen hämmert aufs Wagendach. Die Sommerreifen kämpfen mit dem Graupel, der sich ins Wasser gemischt hat; wir rutschen Richtung Hangkante. Die Kinder gucken bang, meine Frau räuspert sich. „Ist nur ein lokales Gewitter, das klart gleich wieder auf“ lüge ich, und mir schwant, dass ich mir den Wetterbericht schöngeredet haben könnte. Erst wenige Meter vor dem Ziel gibt ein Vorhang aus Eiswasser die Hütte frei. „Lasst mich die Vorhut machen“ gebe ich gönnerhaft den Patriarchen, dann öffne ich beherzt die Wagentür und renne unters Vordach. Zehn Meter Weg, und doch bin ich völlig durchnässt. Kühe sind keine da, aber in der Ferne hört man ihre Glocken. Den Almauftrieb scheinen wir verpasst zu haben. Schnatternd öffne ich die Tür zur Hütte, drehe die Sicherungen rein, mache Licht. Funktioniert, schonmal gut. Dann renne ich durch den Regen zurück zum Auto, öffne die Kofferraumklappe, um den großen Familienkoffer zu bergen. Nanu, wo ist er denn? Kein Koffer da. Ich wische mir das Sorbet von der Brille, um besser sehen zu können. Nein, da ist kein Koffer. Und wie in Zeitlupe fällt der Groschen, schlägt ins Wasser, so dass es spritzt wie nach einer Arschbombe: Ich habe vergessen, den Koffer einzuladen. Er steht noch zuhause in München, auf dem Gehsteig vor dem Haus. Und jetzt, da ich dies schreibe, steht er - mit etwas Glück - noch immer dort.

10.6.
Daheim haben nette Leute den Koffer schon lange in Sicherheit gebracht. Wäre mir unangenehm gewesen, wenn ein Bombenräumkommando der Polizei angerückt wäre, um das herrenlose Gepäckstück zu entschärfen. 
Knackpunkt: Die Antibiotika sind drin, und ich habe mir den Namen des Präparats nicht eingeprägt. Wer denkt schon an solche Notfälle! 
Es ist wie bei meinem Lieblingsverein: Der Abstieg scheint unausweichlich. 
Kurz versuche ich, die Schuld für die Kofferabsenz auf unser beider Schultern zu verteilen, aber noch bevor meine Gattin reagieren muss, erkenne ich die Sinnlosigkeit des Unterfangens selbst. 
Ein anschließendes Brainstorming stimmt hoffnungsvoll. Wir vereinbaren, uns den neuen Gegebenheiten anzupassen: Anstatt im Schlafsack schlafen die Kinder in zugeknoteten Herrenhemden, zu Verpflegungszwecken wird der Fond des PKWs gründlich nach Krümeln abgesucht. Das Ergebnis dieser Suche bestätigt uns darin, eine Verkürzung des Aufenthalts zu vereinbaren, nämlich auf genau eine Übernachtung. Der Rest des Abends verläuft harmonisch. Gemeinsam lösen wir mit farbschwachen Schreibern schweigend Schwedenrätsel, ehe ich noch eine Viertelstunde mit dem Schürhaken im Kanonenofen rumrühre. 
Um drei Uhr in der Nacht stehle mich aus dem Bett und koche Kaffee. Schlafen kann man auch zuhause, ich habe Urlaub! feuere ich mich an, dann wandere ich im Slalom durch die Altschneefelder rauf zum Schartenjoch. Der Regen hat aufgehört, und hoch über mir vernehme ich das Düsen eines Verkehrsflugzeuges. 
Lange nicht gehört, dieses Geräusch. 
Den Vormittag vergähne ich im Kuhstall, in dem 14 Stück Braunvieh gemütlich vor sich hindösen (erst am Abend kommen die Tiere auf die Bergwiesen, da sie Sommerhitze schlecht vertragen und bereits jetzt an den Rhythmus gewöhnt werden). 
Auf der mittäglichen Rückreise schwärmen wir von der Urlaubsverkürzung. Urlaub - das war gestern (buchstäblich). Corona hat uns nämlich geschult, blitzschnell umzuschalten, von Handschlag auf Winke-Winke, von Lächeln auf Maske, von Geselligkeit zu Social Distancing und zurück zu Demos mit 25.000 Teilnehmern, immer mit vollem Einsatz, meistens gut gelaunt. Ja, unsere geistige Flexibilität ist austrainiert, und da ist es ein Klacks, sich einen banalen Kofferverlust zur Initialzündung für etwas großes, gutes, wichtiges schönzureden: Der Storch hat auch keinen Koffer dabei, wenn er nach Ägypten aufbricht, Koffer sind Ballast, außerdem passen sie schon rein wortklanglich nicht ins Covid-19-Zeitalter, weil sie an „cough“ erinnern.
Vor allem haben wir die Gelegenheit, nächste Woche wieder auf die Hütte zu fahren, besser ausgerüstet, mit Dosenöffner, langer Unterwäsche plus Regenhut - und Vorfreude ist sowieso die schönste Freude.

11.6.
Lese in der Zeitung über den möglichen Abzug der US-Truppen aus Deutschland und denke daran, wie ich als Jugendlicher sehr gerne im „Memories“ tanzen ging, einem Club in Bremen, in dem ansonsten fast ausschließlich schwarze G.I.s verkehrten. Es machte mir Spass, auf der Tanzfläche zu Lionel Ritchie oder James Brown herumzuhampeln, um mich anschließend von den Soldaten loben bzw. auslachen zu lassen. Wenn die Army sich weiter zurückziehen sollte, werde ich eine Kerze entzünden und mich bedanken - für heiße Nächte, aber auch für das eine oder andere Bildungserlebnis. So lernte ich dort eines Nachts einen Sergeant aus Texas kennen, einen breitschultriger Hünen mit gurrendem Barry-White-Bass im schwarzen Nappa-Lederanzug, der einen Gürtel mit original Polizei-Handschellen als Schnallen-Substitut trug. Ich, einen knappen Meter kürzer und eher mittelschultrig gebaut, studierte ihn gründlich und nahm mir vor, eines Tages auch so cool zu werden wie er - und ich arbeite weiter daran.
Samstag habe ich wieder Gelegenheit, eventuelle Entwicklungsschübe vor Publikum zu demonstrieren, in Brandenburg an der Havel. 100 Tickets sind verkauft, 40 dürfen Jürgen Urig und ich vom „Institut für Putzpoesie“ noch feil bieten, und ich freue mich sehr auf meinen ersten Liveauftritt nach gefühlten fünf Jahren. Auf dem Weg zur Bühne werde ich jenen Elvis-Presley-Mundschutz tragen, der heute mit der Post aus den USA geliefert wurde. Vielleicht nehme ich den Lappen auch gar nicht runter; das ist mir in den Tagen mehrfach passiert, dass ich aus dem Supermarkt komme, vergessen habe, dass ich maskiert bin und so noch ein paar hundert Meter weiterlaufe. Soweit haben sie mich also schon gekriegt, Zwinkersmiley. 
Zwecks Schallverstärkung werden wir Headsets tragen. War bisher behördlich untersagt, wegen Ihr-wisst-schon-warum; wir sind die ersten, die wieder dürfen. Ob alle Leute im Publikum auch Mundschutz tragen? Wie in der Straßenbahn? Helge Schneider hat ja bereits angekündigt, nicht vor „Autos und Masken“ aufzutreten, und er hat dafür nicht nur positives Feedback bekommen. Ich will mir den Look dieser Ära zumindest mal von der Bühne aus anschauen, könnte ein imposanter Anblick sein, und wenn‘s mir nicht behagt, kann ich immer noch umschulen, etwa auf Straßenbahnfahrer oder Brotbäcker. 
Roberto Di Gioia und ich, wir haben uns ja mal über längere Zeit ein Duell geliefert, und zwar bezüglich der Frage: Wer backt das bessere Brot? Meistens gewann Roberto, aber auch mir gelangen einige meisterliche Kreationen, zB das Cola-Dinkel-Brot (koffeinhaltig). Auch liebäugelten wir damit, die Brote über unser gemeinsames „Hobby“-Label zu vertreiben. Schon war ein Krustenprägestempel mit unserem Logo besorgt, dann stellte sich jedoch heraus, dass das Gewicht der lebensmittelrechtlichen Auflagen gar zu groß ist und wir unter ihm mit unserer Mittelschultrigkeit ruckzuck einknicken würden. Aus heutiger Sicht natürlich falsch. Die derzeitigen Auflagen für Live-Auftritte stellen jene für Essens-Entrepreneure locker in den Schatten, und Bäcker sind systemrelevant, denn Brot wird immer gegessen. Aber auch Friseuren, Pfarrern und Prostituierten hätte ich totale Krisensicherheit beigemessen. Wer weiß, was das nächste Virus bewirkt? Eine umfassende Cola- bzw. Dinkel-Unverträglichkeit womöglich, und dann stehste da wie ein Weihnachtsbaum auf Bali.

12.6.
Mit Doppelkinderwagen im U-Bahnhof Sendlinger Tor. Aufzug kaputt. Raus, weiter zum nächsten. Auch kaputt. Ab auf die Rolltreppe mit dem Ding samt Lebendfracht.
Im Affekt frage ich mich: Was, wenn man das ganze Corona-Geld in die Infrastruktur gesteckt hätte, statt in den Lockdown? Virologe Streeck sagt neuerdings, man hätte auf ihn getrost verzichten können. 
Naja, antworte ich mir selbst, man wusste ja nicht, wie tödlich die Gefahr wirklich ist, also ging die Politik auf Nummer sicher. Wahrscheinlich die richtige Entscheidung. 
Jetzt jedoch könnte man meinen, Deutschland fühlt sich wie ein Männeken, das in einer schönen, aber verschimmelten Butze haust, die gegen alle denkbaren Elementarschäden versichert ist: Erdbeben, Tsunami, Lavaströme. Und Glasbruchversicherung hat es auch abgeschlossen. Und Hausrat, Fahrrad, sogar der Rechner ist versichert. Aber kein Tsunami rauscht heran, kein Fussball fliegt durchs Küchenfenster, und der Rechner fällt und fällt nicht runter. 
Nein, schüttele ich in der U-Bahn den Kopf, völlig falsches Bild, das ich da notiert habe. Nicht zuletzt der Toten unwürdig. 
Wir haben es bekanntlich mit einer Pandemie zu tun, also weltweit. Schau nach Brasilien: der tumbe Bolsonaro wollte ausscheren, sich die Versicherungen sparen, blökte: „Ein Brasilianer wird mit dem Grippchen problemlos fertig“, und jetzt ist sein Haus verschimmelt, die Dachpfannen fliegen ihm im Sturm um seine Ohren - und niemand zahlt. Um im Bild zu bleiben: Wäre ich Bolsonaro, würde ich Brasilien komplett abreißen und neu bauen; Renovierung lohnt nicht. Oder ich würde gleich zurücktreten - das wäre womöglich sinnvoller.
Neben Brasilien gibt’s gar nicht so viele Länder, die einen ganz eigenen Weg gegangen sind: Nordkorea natürlich, Weißrussland, irgendwo in Mittelasien gibt’s ein Land, wo man „Corona“ nicht mal sagen darf, und natürlich Schweden, aber das ist inzwischen restlos durchgenudelt, darüber will niemand mehr streiten. 
Überhaupt höre ich immer häufiger: „Geh mir weg mit dem Corona-Scheiß! Ich kann‘s nicht mehr hören!“; die Münchener Abendzeitung hat für diesen Überdruss den Begriff „Corona-Grant“ geprägt. 
Die Fernsehsender nehmen hierauf inzwischen Rücksicht und zeigen nicht mehr ausschließlich Viren-Specials, sondern ein diversifiziertes Programm zwischen DFB-Pokal, Andy Borg und Amsterdam-Krimi. Fast wie früher. 
Meine Gattin wiederum wollte gestern wie gewohnt ihre tägliche Info-Dosis zum Thema Covid-19 gucken und war enttäuscht. Nichts! Erst gewöhnen die Sender ihre Seher über Monate an Begriffe wie „asymptomatisch“, „Basisreproduktionszahl“ und „FFP-Maske“ , täuschen vor, Anker der Verlässlichkeit im Meer des Unvorhersehbaren zu sein, und plötzlich wird die Lieferkette unterbrochen. 
RTL plus, 90er Jahre, da kam Columbo, und wenn die Welt unterging, egal, darauf war Verlass. Jetzt jagt ein Thema das andere, und meine Frau rudert haltlos mit der Fernbedienung vor der Glotze herum, wie eine Wünschelrutengängerin auf der Suche nach Wasseradern. 
Wenn es nach ihr geht, sollte jeden Abend ein Corona-Brennpunkt gezeigt werden, bis in alle Ewigkeit - eine Programmgestaltung, mit der auch ich mich anfreunden könnte - sofern anschließend eine alte Columbo-Folge gezeigt wird.

13.6.
Meinen Sohn Cyprian zum Mittagessen getroffen. Wir erzählen uns die besten Denunziationsgeschichten. 
Meine geht so: Highnoon der „Maßnahmen“. Bei uns ums Eck gibt‘s eine Eisdiele, die für einige Wochen auf behördliche Anordnung schließen musste, nachdem Kunden ihr Eis auf dem Gehweg vorm Laden geschleckt hatten. Später bekannte sich eine Anwohnerin im Internet dazu, die Polizei alarmiert zu haben - und erhielt fast einhundert Likes. Nur ein User wandte ein: „Petzen geht ja gar nicht“. 
Cyprians Story: Ein Herr fütterte jeden Morgen die Vögel, knapp außerhalb seines Grundstücks. Seinem Nachbarn passte dies nicht, er ließ Ordnungshüter kommen. Der Fall soll es sogar zu „Antenne Bayern“ geschafft haben. Eigentlich, so meine ich, war sein Verhalten korrekt; im Freistaat war das Verlassen der Wohnung zum Zwecke der Versorgung von Tieren jederzeit erlaubt. 
Mein Sohn hat noch eine auf Lager: Bei Wildsteig im Oberland soll ein Polizeihubschrauber neben zwei Herren gelandet sein, um diese zu kontrollieren, weil sie offenbar wie wandernde Städter aussahen - ein Fall, den ich für höchstens eingeschränkt glaubwürdig halte. Wie will man denn aus der Luft erkennen, was ein Städter ist? Am besonders zünftig aufgesetzten Trachtenhut? 
Verbürgt ist in der Tat, dass die Landrätin des Kreises Ostallgäu dessen Grenzen für Auswärtige (also: Münchener) schließen wollte, um die dort lebende Bevölkerung zu schützen. In einer eilends einberufenen Videokonferenz sollen Granden der CSU jedoch erfolgreich auf ihre Parteifreundin eingewirkt haben, so dass die Schlagbäume am Auerberg geöffnet blieben. 
Wahr ist auch die Geschichte eines hochverehrten Fernseh-Kollegen, der den verordneten Lockdown für „halben Kram“ hielt und in Eigenregie perfektionierte: Acht Wochen lang verließ er überhaupt nicht seine Wohnung, trug rund um die Uhr FFP-3-Maske (wenn nicht gar FFP-4), ließ die Fenster geschlossen, alle Einkäufe und Mahlzeiten ins Haus bringen und beauftragte ein Unternehmen, seinen Müll, den er im Beutel vor die Wohnungstür stellte, abzuholen, um Gänge zu den Mülltonnen im Hinterhof zu vermeiden. 
Fazit des launigen Mittagessens: Da kommt wohl noch einiges an Erzählungen auf uns zu, deren Wahrheitsgehalt mit zunehmender Lockerungsintensität immer weniger verifizierbar ist. Neben Seemansgarn und Anglerlatein wird sich die Infektionsschutz-Schnurre als Flunker-Fach etablieren.
Noch vor dem Kaffee will ich Gscheidhaferl mich in ein Gespräch am Nebentisch einmischen. Es geht um Rassismus, und ich erwähne (wiederholt!) irrtümlich den Slogan „Black matters live“, also „Schwarze Stoffe bzw Sachen leben“, was natürlich völliger Unfug ist. Aus dem Mund eines Modeschöpfers wäre der Satz unter Umständen vielleicht noch einigermaßen sinnig, aber aus meinem? Jedenfalls blicken meine Gesprächspartner alarmiert; plötzlich knirscht der Sand der Peinlichkeit im Getriebe. Will ich mich etwa über den Kampf gegen Rassismus lustig machen? Mitnichten. „Das war jetzt wirklich nur ein Versehen!“ schiebe ich verdattert hinterher, und die Diskussionsteilnehmer nicken gnädig. 
Merke: Die Tauglichkeit zur Teilnahme am politischen Diskurs steht und fällt mit der Konzentrationsfähigkeit. Reicht ja schon, dass ich Koffer auf Gehsteigen vergesse. 
Jetzt erstmal eine gute Tasse Bohnenkaffee!

Freitag, 29. Mai 2020

Eltern und Kinder

15.5.
Im Drogeriemarkt. „Der Gang ist zu eng!“ schimpft eine Mittfünfzigerin, „Abstandhalten unmöglich!“ Die junge Mitarbeiterin nuschelt irgendwas in ihren Mundschutz, à la „Womöglich haben sie recht, aber ich bin für die Innenarchitektur nicht zuständig“ - „Eine Unverschämtheit, ihre Kunden so in Gefahr zu bringen! Ich bin vom Fach, kenne mich aus!“ setzt die Beschwerdeführerin nach. Mit eingezogenem Kopf entferne ich mich Richtung Mundwasserabteilung, brauche Nachschub an lila Listerine, meiner Geheimwaffe im Kampf gegen Corona. 
Als ich wiederkomme, hat die Fachfrau noch eine Schippe draufgelegt: „Wahrscheinlich gehören sie auch zu den Corona-Leugnern!“ keift sie, wobei die schrillsten Spitzen der Tirade vom Vlies ihrer Maske geschluckt werden. Die Verkäuferin bleibt stumm, geht schulterzuckend Richtung Kasse ab. 
Ministerpräsident Bodo Ramelow hingegen macht aus seinem Herzen kein Halunkenloch: Im Pressegespräch gestand er, an der Beerdigung seiner Nachbarin teilgenommen zu haben, obwohl dies de jure nur engen Familienmitgliedern erlaubt war. Ein Verzicht sei ihm „unmenschlich“ vorgekommen - eine Sichtweise, die ich allerdings nachvollziehen kann. 
Die Crux seines Vergehens: Ramelow hat die „Maßnahmen“ selber mit beschlossen. Wie begegnet man da jenen, die während des Lockdowns auf die Teilnahme an Beerdigungen verzichtet haben - oder gar nicht erst eingeladen wurden? Ramelows Offenheit, seine Selbstkritik haben meinen Respekt, aber es wird bei den nächsten Hygienedemos Teilnehmer geben, die sich zur Rechtfertigung ihrer Ordnungswidrigkeiten auf den Ministerpräsidenten berufen. 
Man könnte den Eindruck gewinnen: Je unklarer die Lage, desto mehr meint ein jeder, im Recht zu sein, immer & grundsätzlich. Ich habe von einem gut situierten Finanzdienstleister gehört, der seinen Nachwuchs beauftragte, umgehend Studierenden-Nothilfe zu beantragen („Probieren wir einfach mal“) - und just diese Leute regen sich heute über Sanofi auf, weil die ihre Impfstoff-Forschung von den USA mitfinanzieren lassen und darum die Amerikaner zuerst beliefern wollen. 
„Der Mensch ist des Menschen Wolf“? Man könnte aktualisieren: Homo homini virus. 
Jens Spahn sagt: Der Immunitätsausweis wird kommen, nur nicht so schnell - die Gesellschaft brauche noch Zeit zum Debattieren. Naja, wenn das Ergebnis eh feststeht, können wir uns die Debatte sparen. Wenn es denn so ist, dass man ohne einen solchen Ausweis in bestimmte Länder nicht mehr wird einreisen können, ist der Pass eben notwendig. Habe ich nicht mal von der All-Area-Card phantasiert, in diesem Tagebuch? Noch ist jede krude Phantasie im Verlaufe der Krise irgendwann Wirklichkeit geworden. 
Spaziergang in der Stadt. Ein wuchtiges Mannsbild, Typ Rambo mit Pittermännchen-Bauch, macht einen Riesenbogen um mein kleines Söhnchen. Könnte ja eine dieser Virenschleudern sein, von denen man jetzt so viel im Zusammenhang mit Kita-Öffnungen hört. Ich muss schmunzeln; so ungefähr könnte es aussehen, wenn ein Elefant auf eine Maus trifft. Ob sich diese Furcht wieder verliert?

16.5.
Wünsch Dir was 2020: Wenn ich mich hier+jetzt entscheiden müsste zwischen Lockdown und Tracking App, nähme ich die App. 
Nach derzeitigem EU-Recht muss eine Corona-App zwingend freiwillig sein, aber ich habe gewisse Zweifel daran, dass sich meine Mitbürger in ausreichender Zahl für diese Lösung erwärmen. Was, wenn man EU-weit die Datenhoheit zugunsten einer Zwangsapp opfert? Auch in diesem Fall würde ich, wenn es hart auf hart käme, für die App votieren - weil sie, wie ich finde, mit weniger Grundrechtsverzicht verbunden ist als ein Lockdown.
Als emsiger Nutzer von Komoot, Strava, Google Maps usw wird mein Standort sowieso für allerlei Zwecke aufgezeichnet, von Leuten, die ich noch viel weniger kenne als Herrn Wieler vom RKI. Außerdem: Meine Strava-Aufzeichnungen dienen letztendlich nur der schnöden sportlichen Bauchpinselei, während eine Corona-App immerhin der Volkswirtschaft eine Perspektive schenkt (Meine Frau sieht das übrigens völlig anders, die zöge einen Lockdown jeder App vor, sogar einer freiwilligen. Sachen gibt’s...).
Nächste Runde. Müsste, dürfte ich entscheiden zwischen Tracking App und Impfung, nähme ich die Impfung. Zum einen, weil ein Impfstoff mir einen gewissen Schutz vor Erkrankung gewährt, ein Trumpf, den die App nicht liefert, zum anderen, weil die App ja nur dann ihren Dienst verrichten kann, wenn ich das eingeschaltete Handy mit ausreichend Akku in der Jackentasche mitführe - eine Last, die ich Schussel nur ungerne schultern möchte. Dann schon lieber den bluetoothfähigen Schlüsselanhänger, mit dem Kanzler Kurz zeitweise smartphonophobe Österreicher beglücken wollte. 
Auch wenn ich mich zwischen Zwangs-App und Zwangs-Impfung entscheiden müsste, würde ich die Impfung wählen - sogar dann, wenn der Impfstoff eine schnell zusammengepfuschte, obergärige Plörre wäre. Sofern die Nebenwirkungen Pi mal Daumen zwischen heftigem Kater und 08/15-Grippalinfekt lägen: Immer her mit dem Zeug. Man muss mich nichtmal auf der Liege festschnallen.
Die unerfreulichste Lösung ist und bleibt für mich der Lockdown, selbst in jener weichgespülten Variante, die wir erleben durften. Aber womöglich kommst Du, liebe Leserin, zu einer ganz anderen Bewertung, siehst die Sache zB eher so wie meine Frau.
Ich jedenfalls warte weiterhin sehnsüchtig darauf, dass ich nach acht Wochen endlich wieder in mein Wohnzimmer darf, nämlich das Dinea-Restaurant im zweiten Stock der Kaufhof-Filiale am Münchener Rotkreuzplatz.
Ab Montag ist der Laden theoretisch wieder geöffnet. Aber ob ich mir dort noch lange Kaffee und Mangokremtorte aufs Tablett stellen kann? 
Eines ist klar. Müsste ich mich entscheiden zwischen Lockdown, Zwangs-App, Zwangs-Impfung oder einem Zwangs-Besuch bei Galeria Kaufhof-Karstadt:
Ich nähme letzteres.

17.5.
Die Bundesliga muss sich erstmal eingrooven. Hätte mir gewünscht, dass die Trainer am Spielfeldrand Sätze aufs Spielfeld rufen wie: „Los Männer! Denkt an den Abstand! 1,50m!“ oder „Hän-de-wa-schen! Hän-de-wa-schen! Gerne hätte ich auch die „Stay home!“-Geste häuftiger gesehen, die zum Dach überm Kopf angewinkelten Arme. 
Ich weiß eigentlich gar nicht, was die Trainer auf der Bank verloren haben. Macht man sowas heutzutage nicht vom Home Office aus, per Zoom, mit im Hintergrund durchs Bild krabbelnden Gören?
Dass überhaupt gespielt wird, finde ich gut. Weniges ist mir momentan pieper als Profisport, aber ich freue mich über jedes Unternehmen, das die Pleite abwenden kann, umso mehr, wenn dies ohne Staatsknete klappt. 
Wie wichtig ein lochfreier Sparstrumpf ist, musste ich schon früh lernen. Mein erstes selbst verdientes Geld kassierte ich am 14.1.1983, kurz vor meinem 16. Geburtstag. Ich spielte mit der Punkjazz-Band „KIXX“ im Jugendzentrum Papenburg, und die Gage betrug 400 DM, einen Hunni pro Nase. Auf der Rückfahrt nach Oldenburg ging unser Bandauto, ein hellblauer Opel Kadett, kaputt, und die Reparatur kostete genau, tatatata: 400 DM. Wie gewonnen, so zerronnen, und ich lernte: Junge, was immer passiert, du brauchst 'nen Notgroschen! Kommt mir jetzt zugute, in Zeiten des Berufsverbots. 
Wobei, Pardon, ich habe mir eigentlich vorgenommen, nicht von „Berufsverbot“ zu sprechen - das klingt so verbiestert. „Berufsverbot“ - diesen Begriff verbindet man mit dem Radikalenerlass von 1972, der die Beschäftigung von Verfassungsfeinden im Staatsdienst verhindern sollte, und kein betroffener Lehrer, Richter oder Sozialarbeiter hätte sein Berufsverbot für eine Notwendigkeit gehalten, die man schulterzuckend hinnehmen sollte. 
Meine Gauklerehre hingegen gebietet es sogar, dass ich dem unausweichlichen coronesischen Entertainer-Schicksal nicht nur fatalistisch, sondern sogar bestens gelaunt entgegen trete.
Meine Eltern durften heute mal wieder auf eine Beerdigung - die erste Corona-Tote im Bekanntenkreis. 84 Jahre alt, recht hinfällig, angesteckt bei ihrem Pfleger. Einspruch! mag da so mancher einwenden, sie starb sicher nicht „an“, sondern „mit“ Corona. 
Diesen Spitzfindlern sei gesagt: Leider steckte sie wiederum ihre - vormals - mopsfidele Tochter an, die daraufhin zwei Wochen im künstlichen Koma verbrachte, 18 Kilo Gewicht verlor und der Beerdigung im Rollstuhl beiwohnen musste. 
Ja, diese Starb-an/starb-mit-Diskussionen fühlen sich mittlerweile etwas ausgeleiert an. Ist nicht das ganze Leben eine „Vorerkrankung“? 
Wer kann, sollte nicht über Details streiten, sondern sich vor allem freuen, dass er oberirdisch mitstreiten darf, juchhei - das ist nicht nur eine Sache der Gauklerehre. 
Wie konstatierte Franz Léhar in „Giuditta“: Freunde, das Leben ist lebenswert! Oder, ums mit Opus zu sagen: „Live is life, nana-na-nana“

18.5.
Im ICE. Isch dreh dorsch. Zwei kleine Kinder, zwei Taschen, ein großer Koffer, ein Kinderwagen. Meine Frau will ins Mutter/Kind-Abteil. 
Erstmal Mundschutz-Konfusion: Letzte Woche war es noch so, dass in unterschiedlichen Bundesländern unterschiedliche Trageverordnungen herrschten. Da konnte man in Köln losfahren, und wenn man NRW verlassen hatte, durfte der Mundschutz runter. Inzwischen wurde vereinheitlicht, aber für unfähige Altnormalisten gibt es eine Hintertür: Wer etwas isst oder trinkt, braucht keinen Mundschutz zu tragen. Also einfache Lösung: Kaffeebecher in die Hand und gut. Nach Umstieg in Hannover ein schreiendes Kind, kein Alibiverzehr möglich, dafür die bohrenden Blicke der Vollmaskierten. Klimaanlage defekt, Prost Mahlzeit. Oberhemd, Knickerbocker, Babytrage: alles schweißnass. Als beide Kinder schlafen, guckt meine Frau die „Heute-Show“ vom letzten Freitag im Handy, ich schiele mit rüber, und in mir gärt der Unmut. Man macht es sich doch sehr leicht, alle Protestierenden mit Hirnis wie Atilla Hildmann in einen Topf zu werfen. Es ist unbestreitbar, dass Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden, um mit fester Stimme das Hohelied der Solidarität zu singen. Da muss man doch nicht rumeiern, verehrter Kollege Welke. Und wenn man es für nötig hält, darf man nicht nur, nein, dann sollte man sich sogar gegen die „Maßnahmen“ engagieren, verdammt nochmal! Das ist doch eine Frage der Hygiene, wenigstens der seelischen. Puh, ist das heiß in diesem Waggon; am liebsten würde ich mich nackig ausziehen. Was guckt ihr alle so unmimisch? 
Dabei sind Demos eher nicht mein Ding, nachdem ich Anfang der 80er auf einer Rekrutenvereidigung im Oldenburger Marschwegstadion von einem äußerst emotionalisierten Polizeiwachtmeister einen beherzten Tritt in den Allerwertesten erhielt. „Unerhört!“ platzte es damals aus mir heraus, dann ging ich empört nach Hause und demonstrierte nie wieder. 
Wiederum Wiedersehen mit meinen Eltern in Oldenburg, nach langen Wochen. Aller Unmut weicht der Freude. Wie geht es Euch, was gibt’s Neues in der Familie? Spektakulärste Info: Mein Lieblingsonkel hatte einen Autounfall, mit 96 Jahren. Landstraße, Dämmerlicht. Ein Reh lief ihm vor den Kühlergrill. Der Wagen rotierte, kam von der Fahrbahn ab und landete im Graben. Auto Totalschaden, mein betagter Onkel unverletzt. Jetzt überlegt er, ob er sich ein neues Auto zulegen soll, und wenn ja, welches. Ich tippe mal auf Mercedes-Benz; er ist Stammkunde. Man würde ihn gerne beraten, aber er hört nicht mehr so gut. Immerhin kann sich die deutsche Autoindustrie schonmal auf einen potentiellen Neuwagen-Kaufinteressenten einrichten - das ist doch eine herausragend schöne Nachricht in diesen schweren Zeiten!

19.5.
Wir schlendern durch mein liebes Oldenburg und wundern uns über die Atmosphäre, die sich doch sehr von jener in Bayern unterscheidet. Im Straßenbild wird Maske eher wenig angelegt, die Verkäufer und Verkäuferinnen müssen keine tragen, dafür die Kellner in der Gaststätte. Schönes Gefühl, einzukehren, Tapas am Markt. Wir bestellen deutlich zu viel, so groß ist die Freude, wieder gemeinsam auswärts zu essen. 
Mir gefällt auch das Ausfüllen der Meldescheine; sowas ähnliches habe ich schon mal gemacht, nämlich bei der Fußball-WM in USA vor einem Vierteljahrhundert. Biergarten in Dallas County, Olli Dittrich war auch dabei. Bible-Belt, sittenstrenge Gegend. Outdoor-Alkohol war eigentlich verboten, aber man konnte ein auf jedem Tisch ausliegendes Formular ausfüllen, in dem man bekannte, Alkoholiker zu sein und darum des Gerstensafts dringend zu bedürfen. Morgen, so versprach man per Unterschrift, würde man sich bei den Anonymen Alkoholikern melden und dem Suff abschwören. Zum Wohle! 
Ja, gemessen an dieser Sitte ist die niedersächsische Praxis völlig unauffällig. Alle sind entspannt und freundlich, es fehlt jene intensive Grundspannung, die wir in München in allen Verästelungen des Gesellschaftslebens verspürten. Im Bus sitzen auch Unmaskierte, und wir machen große Augen. 
Aus privaten Zuschriften weiß ich, dass ein Treffen zwischen Großeltern und Enkeln von so manchem Abonnenten mit Skepsis beurteilt wird. Bei uns war es so: Eines Tages erhielt meine Mama eine Push-Nachricht aufs Handy, die empfahl, dass Großeltern weiterhin auf Besuch ihrer Enkel verzichten sollten. Wir überlegten damals am Telefon, bis wann man denn diese Art der Enthaltsamkeit durchhalten sollte, und als einziges plausibles Krisenende fiel uns die Einführung eines Impfstoffes ein. Unter Tränen sagte Mama: „Nein, solange warten wir nicht, wir treffen uns, sobald man wieder reisen kann.“ 
Die Entscheidung lag sozusagen bei meinen Eltern - die sich inzwischen allerdings auch wieder mit ihren Freunden treffen, und zwar in der Gaststätte, inhäusig. So machen das hier viele, von Tag zu Tag mehr, auch in den sogenannten Risikogruppen. 
Um meine Eltern nicht zu gefährden, waren Teresa und ich durchaus diszipliniert. Ich habe in den letzten acht Wochen genau einer Person die Hand gedrückt, und zwar meinem Sohn Cyprian, im Affekt, mit anschließendem schlechtem Gewissen.
Gestern durfte ich mich „infantil“ und „unsozial“ nennen lassen, weil ich den Eindruck erweckt hätte, die Maskenpflicht nicht mit dem notwendigen Enthusiasmus zu unterstützen. Womöglich bin ich tatsächlich unsozial, indem ich diesem Tagebuch möglichst unfrisiert meine Gedanken anvertraue. 
Ich verstehe mich weniger als Truppenbetreuer, als Marlene Dietrich des Coronakrieges, denn als Ethnologe in der Feldforschung. 
Tatsache ist: Ich halte mich zu 100% an alle demokratisch beschlossenen Regeln, weil ich mir wünsche, dass wir alle gesund und zahlungsfähig diese Krise überstehen, mit dem notwendigen Respekt und ohne Beleidigungen. Nun ja, letzteres klappt noch nicht bei allen so ganz (nehme mich selber nicht aus), aber grosso modo sind wir auf einem guten Weg. Weitermachen!

20.5.
Mein 84jähriger Papa, der ansonsten durch bizarre Hygienewitze besticht („Hund-Hasen-Schutz“), verblüfft mit relativer Humorlosigkeit, wenn es an das Thema Fußball geht. Seinen Status als Fan hat er vorläufig auf Eis gelegt. „Theater, Musiker, Künstler dürfen nicht auftreten - nur bei den Fußballern machen die eine Ausnahme“. „Fußball ist eben systemrelevant“, seufze ich, „außerdem könnte auch unsereiner evtl in leeren Hallen performen, mit ausgeklügeltem Hygienekonzept. Die Fußballer desinfizieren den Ball, wir das Mikrofon“. 
Und dann denke ich an den Anfang der Krise, vor der Ausgangsbeschränkung, als ich mit Teresa bei Tommy Krappweis die neuen Fälle von „Rufus T. Feuerflieg“ als Hörspiel aufgenommen habe. Heidiwitzka, was da an Desinfektionsmittel verbraucht wurde! Damals wusste man noch nicht, dass Schmierinfektionen eher seltene Übertragungswege sind, und darum wurde das Studio der Bummfilm nach jedem Take bis knapp unter die Decke mit Sagrotan geflutet. 
„Rufus T. Feuerflieg“ ist übrigens ausnehmend gut gelungen, namentlich meine Frau, im Hauptberuf Opernsängerin, hat sich erstaunlich schnell zum Hörspiel-Crack gemausert. Erhältlich ist der Spaß bei Audible. 
Voilà, den notwendigen Reklame-Satz hätte ich hiermit integriert. Eigentlich bin ich nicht der emsigste Werber in eigener Sache, aber die Wüstenei, die sich zwischen den Deckeln meiner Auftragsbücher erstreckt, erfordert besondere Maßnahmen. 
Gestern erhielt ich aus Kirchenkreisen den Tipp, bei SAT1 & Co doch mal ein Sendekonzept zum Thema Glauben einzureichen - da habe ich mich vor Verblüffung verschluckt und musste minutenlang husten (alle haben geguckt). Anschließend erklärte ich, Fernsehsender hätten momentan ganz andere Probleme, etwa die Schwäche des Werbemarktes. Oder ist so‘ne Reli-Show hot stuff? Hm. Ich versuche ja bereits seit 20 Jahren enorm erfolglos, eine Fahrradsendung im TV zu platzieren. Radeln im TV könnte durch Corona realistischer geworden sein - allerdings gilt dies ebenso für Sendungen mit Autos, die zwar keine gesundheitsförderliche Bewegung bieten, dafür jedoch einen umso besseren Schutz vor äußeren Gefahren - vom Virus bis zum randalierenden Nilpferd. 
Ganz tief in der Schublade liegt auch noch ein Konzept zum Thema „Kacken around the world“, das wollte ich mal mit Hella von Sinnen angehen, vor vielen Jahren. Könnte in Anbetracht der sichtbar gewordenen Klopapier-Obsession auch interessant sein.
Wann habe ich mich das letzte Mal so ausschließlich mit einem einzigen Thema beschäftigt? In meiner Jugend hatte ich eine Jazz-Infektion. Schwerer Verlauf. Das ging mindestens drei Jahre lang so: Schule, Mittagsschlaf, dann Saxophon üben in der Kellersauna, Platten hören, Joachim Ernst Berendt lesen und zum Festival nach Moers. In der Rückschau wie ein langer, pulsierender Fiebertraum. Ich müsste immer noch reichlich Antikörper im Blut haben. Allerdings kann man auch vom Jazz nie ganz kuriert werden. Ja, man kann nach akuter Entzündung auch „normal“ musizieren, wird dabei aber regelmäßig von einem chronischen Juckreiz gepeinigt.
Impfstoffe und Medikamente sind weiterhin nicht auf dem Markt. Tests mit Improbufen verliefen nicht überzeugend (Der könnte sogar meinem Papa gefallen - schnell Schlussakkord!)

21.5.
Auf Mamas oller Hollandgurke radle ich morgens um sechs durch die Heimat - von den Eltern über Bümmerstede nach Sandkrug, um vor Wardenburg die Hunte zu überqueren. Rechterhand befindet sich einer meiner absoluten Herzensorte, nämlich der Magdalene-Früstück-Platz. Diesen wohlklingenden Namen trägt eine zur Preziose umgebaute ehemalige Parkbucht, mit Kanueinstiegsstelle und Sitzgelegenheit am Ufer. Frau Früstück, so lese ich, war eine Wardenburger Organistin, Klavier- und Schwimmlehrerin, die von 1909-2005 lebte. 
Etwas unterhalb, an der Lethe, wurde ich als Zwölfjähriger mehrfach beim Schwarzangeln erwischt. Papa zahlte für mich das Bußgeld, beim letzten Mal mit der Auflage, mich einer Anglerprüfung zu unterziehen. War bald darauf erledigt, aber seitdem ich den Angelschein besitze, habe ich nie wieder etwas gefangen. Nicht die kleinste Sardelle. Nüscht. 
Das ist natürlich ungünstig, wenn man sich ausmalt, dass das internationale Finanzsystem eines Tages zusammenklappen könnte, die Lieferketten reißen, und ich die Familie als Selbstversorger durchbringen muss. 
Im Garten wachsen sechs Erdbeerpflanzen, Petersilie und ein Hochbeet voll mickrigen Grünkohls, außerdem sind da Zwiebeln und eine Paprika. Könnte knapp werden, wenn der Angelschein-Fluch nicht rechtzeitig durchbrochen wird. 
Ob mir mein Lieblingsonkel verrät, wo ihm neulich das Reh vor den Benz gelaufen ist? Für Wildgulasch? In der Wildeshauser Zeitung las ich gestern einen Artikel über den Unfall, gleich auf Seite eins: „96-jähriger Autofahrer überschlägt sich“ - und wurde doch nur leicht verletzt. Mit solchen Leuten in der Familie muss man sich generell keine Sorgen machen. 
Nun gut, da sind auch andere in der Sippschaft: Ein Schwippschwager zweiten Grades ist Lehrer und hat sich aus Angst vor diesem Dings, Ihr wisst schon, krankschreiben lassen. Naja; kann ich auch verstehen: Wochenlang verdeutlichen dir dramatische Bilder im TV den Ernst der Lage, und nach Wochen des beflissenen Bibberns sollst du frohgemut vor eine Schulklasse treten. 
Wie nimmt man den Eingeschüchterten die Angst? 
Ein Weg könnte ein täglicher Test aller Schulkinder sein, morgens vor Unterrichtsbeginn. Überhaupt aller Menschen, direkt nach dem Aufstehen. Müsste so’ne Art Kontrollstreifen sein, wie beim Schwangerschaftstest. Noch bevor der Kaffee durchgelaufen ist, hat man Gewissheit und legt sich gegebenenfalls gleich wieder hin. 
Wo war ich? Ach ja, in Sachen Selbstversorger sind wir noch nicht optimal aufgestellt. Teresa stillt weiterhin unsere beiden Kinder, und manchmal überlegen wir, halb im Scherz, ob wir die reichlich vorhandene Muttermilch nicht auch für unsere eigene Ernährung nutzen könnten, etwa für die Zubereitung von Speiseeis. 
Richtig ist: Die Milchproduktion wird durch die Nachfrage geregelt, aber ohne Kraftnahrung kann das maximale Potential nicht ausgeschüttet werden. Woher nehmen, wenn die Geldautomaten erstmal eingerostet und efeuumrankt sind? 
In der Nähe kenne ich eine idyllische Verkehrsinsel, ganztägig besonnt, gut geeignet für Kartoffeln und Wintergerste. Man könnte dort ein Zelt aufbauen und den Spaten schwingen. 
Urlaub im Ausland ist ja heuer eh so‘ne Sache; Söder predigt regelmäßig, man solle sich in Bayern erholen - und eine dünn besiedelte Verkehrsinsel ist für den Aktivurlaub im Dienste der Versorgung der Ehefrau nachgerade ideal. Hühnergegacker komplettiert das Glück. Wie sagte Oliver Kahn? "Wir brauchen Eier!". "Postkapitalistischer autonomer Agrar-Anarchismus gegen die Angst" - klingt nach einem Manifest, auch für meinen Schwippschwager.
Jetzt Früstück.

22.5.
Liebe Leute, die Ihr mir Videos schickt, in denen dargelegt wird, dass Bill Gates die WHO gehört und er die Weltherrschaft anstrebt: Lasst es bleiben! Ihr seid auf dem völlig falschen Dampfer. Jeder, der sich wirklich eingehend mit der Materie beschäftigt, stößt irgendwann unweigerlich auf die Tatsache, dass nicht Gates, sondern Elvis Presley hinter bzw. in den Viren steckt.
Wie ist zu erklären, dass die von mir bereits vor geraumer Zeit enthüllten Zusammenhänge noch nicht den Weg in Eure Hirne, auf Eure Demos gefunden haben? Ihr seid Schafe, Ihr glaubt den falschen Verführern! Die Bill-Gates-Geschichte soll Euch nur ablenken von der Wahrheit. Ihr sollt, Ihr wollt nicht erkennen, dass Elvis lebt. 
Was ist schon the WHO gegen den King of Rock‘n Roll, der in jedem einzelnen der Biester steckt? 
Lasst Euch doch nicht von den Systemmedien hinters Licht führen - und „Systemmedien“ erkennt man daran, dass die die Urheberschaft Elvis‘ für die Coronakrise standhaft verschweigen. ARD/ZDF: Kein Wort drüber. Maulkorb. Jebsen&Co: Auch kein Wort drüber. Auch Maulkorb. Vertrauenswürdige Medien erkennt man daran, dass sie die Wahrheit schreiben. Willkommen auf meiner Seite. 
Ein Freund am Telefon: „Ich mache mir Sorgen! Du erhältst Applaus von der falschen Seite!“ Das ist ein zwar lieb gemeinter, aber dennoch problematischer Satz. Eine Meinung hat und verkündet man ja nicht, um Anschluss an ein bestimmtes Soziotop zu erhalten, sondern weil man diese Meinung für so überzeugend hält, dass man sich immerhin schon mal selber damit überzeugt hat - es sei denn, man braucht dringend Geselligkeit, etwa, weil man den Lickdown in totaler Isolation verbracht hat. Oh, habe ich etwa Lickdown geschrieben, mit i statt o? 
Spontan sehe ich vor mir eine sehr, sehr große Eistüte, die ich in beherzter Züngelei binnen weniger Minuten vernichte, so dass schließlich nur noch ein feuchter vanilliner Fleck am Boden von der Schmelze kündet.
Wusstet Ihr, dass es eine Eissorte gibt, die nach Elvis benannt ist? „Elvis Ice Cream Sundae“ vereint die größten geschmacklichen Vorlieben des King: Erdnuss, Banane und Schinkenbrot. Nein, wusstet Ihr nicht? Aber ihr glaubt an Bill Gates, nach dem noch nie eine Eissorte benannt wurde? Fällt Euch was auf? Wenn einer hinter Corona steckt, dann gewiss kein Software-Kasper, sondern nur ein ganz, ganz großer. Ein Eissorten-Namenspate. Der King halt. 
Ein Kommentator aus Braunschweig wundert sich, dass ich mich immer noch mit Corona aufhalte - für ihn existiere das Thema schon kaum noch, und er glaube, das habe mit dem Unterschied zwischen Stadt und Land zu tun. Ich glaube eher, dass es davon abhängt, in welchem Maße man persönlich betroffen ist. Beamte haben keine Einkommenseinbußen durch Corona, Gastronomen und Künstler hingegen haben Glück, wenn sie mit einem Bein in der Pleite stehen, wieder andere liegen bereits coronabedingt in der Kiste - die halten sich mit dem leidigen Thema auch nicht mehr auf. 
Aber ich will nicht unken - sonst bekomme ich noch Applaus von der falschen Seite.
Wie schrieb mir Hugo Egon Balder unlängst? 
„Wenn immer ALLE nur meckern, können wir sowas wie Corona eben nicht mehr machen!!!“

23.5.
Kaffee mit Krankenhausärztin. Ob sie das Ganze für einen Fehlalarm halte? Überhaupt nicht. Es gäbe zwar weiterhin Intensivkapazitäten, aber man habe durchaus viel zu tun gehabt. Ob die Gefahr übertrieben sei? Auch das nicht. Das Krankheitsbild sei ganz anders als bei der Influenza, mehr Richtung Gefäßkrankheit, mit nicht übersehbaren Folgeschäden. Wichtigster Risikofaktor: Fett. Weil man den beatmeten Patienten dann nämlich nicht umdrehen könne. Fürs erste sei die Sache wohl vorbei - bis zum Herbst. Womöglich handele es sich bei Corona um ein Saisongeschäft, hierin der Grippe ähnelnd. Hurra, endlich wieder Lockdown - der Sommer wird lang werden. Ein zweites Stück Kuchen verschmähe ich; winke-winke und Good-bye. 
Zeit für ein Fazit? 
Ma was et net. 
Worüber ich noch nicht geschrieben habe: Schweden. Für die einen die Nation der Verantwortungsbanausen, knapp an der fahrlässigen Tötung vorbei. Für die anderen ungefähr das, was das kleine gallische Dorf bei Asterix ist: Der Hort das Widerstands. Da ist man Mensch, da darf man’s sein. Ein differenziertes Bild, in feinen Grautönen, wird seltener gemalt, wenigstens in Deutschland. Sicher ist, dass ich bei Schweden in Zukunft nicht nur an Julklapp, Nils Landgren und den Wasalauf denken werde, sondern auch an Anders Tegnell, den nachdenklichen, etwas zerknitterten Staatsepidemiologe der Schweden. 
Auch andere Orte haben nunmehr ein verändertes Image. Ischgl zB. Nie wieder wird es Gäste im „Kitzloch“ geben, die sich ausschließlich übers Wetter unterhalten oder das Streicherarrangement auf der neuen Single von DJ Ötzi. Vielleicht entsteht auch noch das Verb „ischgln“, als sprachlicher Vetter von „donisln“ oder „über den Löffel balbieren“. 
Und sollte jemals jemand den Schlager „Karneval in Heinsberg“ schreiben, wird man diesen gewiss mit anderen Ohren hören als Ernst H. Hilbichs „Karneval in Kyritz an der Knatter“.
Nachmittags überlege ich, wie ich zu Elvis Presley Kontakt aufnehmen könnte. Anfang 1977, im Alter von 10 Jahren, ging ich an einem Samstagvormittag in den Waschkeller. Auf der dort abgestellten blauen Wickelkommode stand ein alter Schallplattenspieler sowie genau eine LP. Ich nahm sie aus der Hülle, legte sie auf den Teller, setzte den Saphir auf und hörte „Hound Dog“. Ein Moment ungefilterter Magie; ein mintgrüner Blitz durchzuckte mich, und auf der Stelle war ich verliebt. Bald darauf gründete ich den EEPFCOO, den ersten Elvis-Presley-Fanclub Oldenburg-Osternburg, ich wurde erster, Klassenkamerad Oliver zweiter Vorsitzender. Weitere Mitglieder gab es nicht. Am 16. August desselben Jahres starb Elvis (angeblich). Ich befand mich mit meinen Eltern im Urlaub auf Mallorca, in einem Hotel, das auch bei schwedischen Touristen sehr beliebt war. Mit einem von ihnen freundete ich mich an, ein nachdenklicher, schon damals etwas zerknitterter junger Erwachsener, der auch sehr gerne Elvis hörte und mir erzählte, dass er Arzt werden wollte. Sein Name: Anders Tegnell. Ich weiß noch genau, wie wir nebeneinander am Strand Sandburgen bauten und er mir zuraunte: „Elvis is not dead. He just prepares to reincarnate as a microbe”.

24.5.
Nachdem ich gar kein Homeoffice habe, weil ich damit auch gar nichts anzufangen wüsste, verbringe ich meine Tage im Wesentlichen mit meinen kleinen Kindern, was abends zu gediegener Bettschwere führt. 
Mir wurde schon früher, am Ende langer Tage mit meinen mittlerweile erwachsenen Söhnen klar, warum die Belange der Kinder (und ihrer Familien) in der Politik keine Rolle spielen („Gedöns“): Die dauermüden Eltern haben schlichtweg keine Kraftreserven, um abends auf Parteiversammlungen zu antichambrieren. 
Wenn man die Power der Autolobby mit jener der Familien vergleicht: Au Backe! 
Die einen reklamieren höchste Systemrelevanz, lassen sich zum Autogipfel ins Kanzleramt bitten, und wenn’s supergut läuft, wird der Absatz ihrer technologisch abgehängten Dreckschleudern auch noch mittels staatlicher Kaufprämie angeheizt. 
Und die anderen, die Eltern? Haben ja selber Schuld, dass sie ganz Deutschland mit ihren lärmenden Blagen, frechen Kostgängern, systemirrelevanten Virenschleudern nerven. Konnten sich offenbar im entscheidenden Moment nicht zusammenreißen, und das Resultat dieser Disziplinlosigkeit muss jetzt eben homegeschoolt werden. 
Darum gibt es Auto- aber keine Kindergipfel im Kanzleramt. Letztere sind jedoch eh überflüssig, weil Schule und Kindergarten grundsätzlich überbewertet werden - sonst hätte die Politik Bildung schon lange so ernst genommen, wie man in Sonntagsreden allenthalben hört. 
Man stelle sich nur mal vor, Deutschland würde sich um Kinder ähnlich entschlossen bemühen, wie es der Coronagefahr entgegen trat: Kein Kind darf unter die Räder kommen, kein Kind Gewalt erleiden, alle Potentiale sollen voll ausgeschöpft werden, egal, was es kostet, und wenn der Lufthansi die Flügel hängen lässt: so what. Schwer vorstellbar. Woran liegt’s? 
Regelmäßig taucht die Idee auf, Eltern eine zusätzliche Wählerstimme für jedes Kind zu übereignen. Hierüber habe ich vor einigen Jahren bei Steffen Hallaschkas „Letzter Instanz“ mitdiskutiert. Ich glaube (hoffentlich erinnere ich mich richtig), Kalle Schwensen war eher dagegen, Micky Beisenherz eher dafür, ich sehr dafür - und Ina Müller echauffierte sich königlich dagegen. 
Hängen blieb an diesem Abend: Das Thema ist ein wunderbarer Trigger, um die Kinderlosen zur Weißglut zu bringen. Mehr aber auch nicht, denn, wie gesagt, für ein echtes Engagement auch in dieser Sache fehlen Eltern die Ressourcen. 
Und mit diesem Gedanken gähne ich herzhaft, scheitere in meiner Kraftlosigkeit am Versuch, eine Chipstüte aufzureißen, sinke mit Tüte neben meine Frau auf das Canapé und schlafe lächelnd ein, noch bevor ich dessen Federkern mit meinem Gesäß vollständig komprimiert habe.

25.5.
Hirschgarten München. Hui, ist das voll. Im Biergarten biegen sich die Bänke - jedenfalls sieht dies in der Supertotale so aus, als wir uns mit Tretroller und Kinderanhänger nähern. Ein Menschenmeer, wie eine Luftspiegelung, eine Fata Morgana. Der Check-In-Bereich mit Sagrotanspender, Formularstapel und Virensammelstift erinnert an ein Roter-Teppich-Event à la Bambi-Verleihung (passt ja zum Hirschgarten). Nebenan spielen die Leute Basketball, das „körperlose“ Spiel. Naja. Im Boulodrome stehen sich die Senioren gegenseitig auf den Füßen, und das dichte Treiben auf dem Kinderspielplatz komplettiert den Eindruck, dass die „Neue Normalität“ nunmehr Vergangenheit ist. Doktor Drosten würde weinen, Teresa und ich reiben uns immerhin ungläubig die Augen. Eben war doch noch Lockdown! Drei Kleinbusse der Polizei kreuzen durch die Menge, die Lautsprecher bleiben aber stumm. Scheint also alles mit rechten Dingen zuzugehen. 
Uff, wir kommen emotional nicht mehr mit. Ist die Pandemie etwa ad acta gelegt, has Elvis left the building? Ich hatte mich doch gerade erst an Abstand gewöhnt, mir erfolgreich eingeredet, dass nur keine Gesellschaft eine feine Gesellschaft, dass Maskentragen die Wucht in Tüten ist. 
Und jetzt: Volle Kraft zurück. Nicht Hammer und Tanz, sondern Hammer und Hammer. 
Wir sind psychisch überfordert, trauen dem Braten nicht und sparen uns den Biergartenbesuch. Wäre schön, wenn meine Frau bald wieder auf einer Bühne stehen und singen darf - das fehlt ihr nämlich sehr. 
Der neue Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, sieht keine Beeinträchtigung der Grundrechte. Sie würden auch weiterhin gelten, aber „anders“. Als ich dies im Radio höre, muss ich herzhaft lachen, weil es mich an die „Radio Eriwan“-Witze meiner Kindheit erinnert - „...im Prinzip ja, aber...“
Kleine Fußnote: Früher haben Teresa und ich sonntags gerne „Tatort“ geschaut. Mit Beginn der Ausgangsbeschränkungen stellte die Realität jedoch jede Fiktion in tiefsten Schatten. Dabei kann man auch Ministerpräsidenten als Jäger gerissener Halunken begreifen, und jeder von ihnen hat seinen eigenen Stil. Und dann gibt es beim Tatort diese Mundart-Kalfaktoren, meist Mitarbeiter in den Kommissariaten. Die gibts in der Realität auch, und der beste unter ihnen ist unzweifelhaft Hubert Aiwanger. „Im Biergarten mit Kumpels“, „Das halbe Hähnchen von der Versicherung“ - Für seine Kabinettstückchen hätte er einen Bambi verdient.

26.5.
Pflichtlektüre ist eingetroffen, Fachliteratur über internationale Toilettenbauten für das Projekt „Kacken around the world“, mit Hella. 
Mir schwebt eine Sendung vor, in der es ganz seriös über sämtliche Aspekte eines universellen Menschheitsthemas geht, oder, ums mit Helmut Kohl zu sagen: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt“. 
Von Hella weiß ich, dass sie diesem Thema einerseits ein außergewöhnliches Interesse entgegen bringt und andererseits in einer Weise drüber sprechen kann, die man durchaus unverkrampft nennen darf. 
Ich würde den wissenschaftlichen Blick beisteuern, traue mir, ganz ohne Scheiß, Interviews auf Augenhöhe mit Proktologen, Entsorgungsingenieuren und Zellulose-Zwischenhändlern zu. 
Unsere Berghütte bietet schon mal einen tauglichen Drehort, nämlich das sogenannte Winterklo, ein heimeliges Plumpsklo, dessen Fallgrube vom Misthaufen des benachbarten Kuhstalls aus zugänglich ist. Schlau konzipiert. 
Ramelow will in Thüringen alle Verordnungen außer Kraft setzen, die mit Corona zu tun haben; aus Verboten sollen Gebote werden. Der Gedanke ist mir natürlich sympathisch, aber ob das so funktioniert? Dagegen spricht, dass es Leute gibt, die Vorsicht nur dann walten lassen, wenn der Staat sie dazu anhält. Ob der Anteil der Unvernünftigen groß genug ist, um sich epidemiologisch negativ auszuwirken, wird man in Thüringen studieren können - das ist ja ein kapitaler Trumpf des Föderalismus, dass man parallel verschiedene Konzepte ausprobieren kann. 
Gut möglich, dass Ramelows Weg falsch ist. 
Ihn deshalb in die Nähe von Verschwörungstheoretikern zu rücken, wie dies Lars Klingbeil in der Bildzeitung tat, ist jedoch wenig hilfreich.
Dass in der Flüchtlingskrise zeitweilig jeder, der nicht mit Merkels Grenzöffnung einverstanden war, als „Nazi“ beschimpft und jeder, der dafür war, als „Gutmensch“ verächtlich gemacht wurde, verhärtete nur die Fronten. 
Ich rege hiermit höflichst an, dass wir uns diesmal phantasievoller und vor allem nuancierter beleidigen. 
Besten Dank, auch an die Händeschüttler und Sagrotan-Jakobiner. 
Ob eine zweite Infektionswelle im Anmarsch ist, lässt sich übrigens besonders gut an der Virenkonzentration im Abwasser erkennen, wie ein Team um den Virologen Sébastien Wurtzer in Paris herausfand, und zwar noch bevor die ersten Krankheitsfälle Praxen und Kliniken füllen. 
Ein Frühwarnsystem könnte in thüringischen Kläranlagen installiert werden, um rechtzeitig Alarm zu schlagen und betroffene Kommunen zu isolieren. 
Das große Geschäft im Dienste der Prävention - auf jeden Fall ein tolles Thema für Hella und mich. Wird sofort notiert.

27.5.
Und wenn in diesen Tagen die Zukunft der Schule beginnt? 
Vor einigen Jahren lernte ich auf einer Party einen Beamten aus dem bayerischen Kultusministerium kennen, der behauptete, das Schulsystem des 20. Jahrhunderts sei eines Tages nicht mehr finanzierbar. Privatschulen würden dann zur Regel werden, und öffentliche Schulen seien (analog zu Hartz 4) den Kindern sehr armer Schlucker vorbehalten. Mich fröstelte, als ich dies hörte, aber dann dachte ich: Party Talk halt; vielleicht will er sich wichtig machen. Ich erzähle ja auch manchmal, ich würde Anders Tegnell vom gemeinsamen Mallorcaurlaub in den 70ern kennen. 
Manchmal habe ich in diesen Tagen jedoch den Eindruck, Online-Unterricht werde strategisch glorifiziert. Als wolle man die Gelegenheit zur Durchdigitalisierung der Bildung nutzen. Die Schüler bleiben einfach daheim und lernen am Bildschirm. Billiger wäre es allemal: Man braucht keine Schulgebäude mehr, keine Busse auf dem Land, man spart Heizkosten, und diese ganzen lästigen Ärgernisse wie schmutzige Schultoiletten entfallen. Es gibt auch keine Prügeleien mehr auf den Schulhöfen, Lehrer können sich nicht anstecken, und Klassenfahrten werden per VR-Brille erledigt. Studienreisen sind für Schulen momentan sowieso nicht machbar. 
Dabei erwacht so manche Destination gerade wieder zum Leben: Südtirol zB versucht, mit Coronatests als Dreingabe Touristen in den Urlaub zu locken. Ob das Beispiel Schule macht? Fischmarkt in Hamburg. „Nicht ein Aal, nicht zwei Aale, ich geb dir für zwanzig Euro drei Aale und einen Corona-Test obendrauf!“ Yps mit Gimmick. Zum Muttertag ein Mon Chéri plus Coronatest im Schmucketui. 
Und nun zu den wichtigen Dingen. 
Jimmy Cobb ist tot. Er starb mit 91 in New York. 
„Kind of Blue“ ist die beste Schallplatte, die ich kenne. Seit 40 Jahren ist sie mir so eine Art Vademecum in allen Lebenslagen. Da ist einerseits Miles Davis’ Satin-Erotik, mit synästhetisch imaginierten ernst dreinblickenden, etwas blasierten Beauties in mottenlochfreien Negligés. 
Wenn makellose Schönheit überhaupt sexy sein kann, dann auf diesem Album. 
Und andererseits ist da die verhaltene Ekstase John Coltranes. Meditation, Andacht, Himmelfahrt - Trane zuzuhören, wie er auf dem Tenorsax Rosenkränze betet, war mein erster, bis heute gangbarer Weg zu Gott. 
Weitere lebenslange Prägungen: Denke ich an Introversion, denke ich sofort an Bill Evans Klavierspiel bei „Blue in Green“, und höre ich Jimmy Cobbs Beckenspiel, sehe ich unwillkürlich einen frei im Raum rotierenden, spindelförmigen, bläulich schimmernden Diamanten. 
Jimmy Cobb war der letzte Überlebende, und, klar, sein Tod ist traurig, wie eben jeder Tod traurig ist, aber der Diamant wird sich weiterdrehen, so lange, wie Musikfreunde „Kind of Blue“ hören - und das kann noch eine ganze Weile andauern, und irgendwelche Viren werden daran nichts ändern. 
Ach ja: Der Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen fordert die Wiedereröffnung der Bordelle. Bei der Frage, was ein denkbarer Schlusspunkt der Krise sein könnte, fielen mir, neben Impfstoff-Einführung, bundesweit null Neuinfizierte und die folgende Abschaffung von Mundschutz/Mindestabstand auch immer die Bordelle ein. Wenn die aufmachen, endet die Krise mit einem Puff!

28.5.
Meine Frau schlägt vor, den Großeinkauf per Fahrrad zu erledigen. 
Mit Kindern, Anhänger und dem übergroßen Rucksack aus meiner Camping-Ära gehen wir ans Werk und befüllen den Einkaufswagen, ulkigerweise vornehmlich mit Tiefkühlkost, obwohl wir gar keine Tiefkühltruhe besitzen. 
Kombiniere: Der blinde Hamster-Wahn hat nun auch uns ergriffen, etwas verspätet. 
„Der letzte Hamsterer“ könnte auch als „Film Film“ bei SAT1 taugen. Muss ich bei nächster Gelegenheit den Redakteuren vorschlagen (wann immer die kommt). 
Immerhin lerne ich durch den Einkauf, dass Kettenriss, Leisten- und Kühlkettenunterbruch, dass Auto- und Tiefkühltruhen-Kultur aufs engste miteinander verbunden sind. Ja, Kraftfahrt und Fischstäbchen sind Geschwister im Geiste. 
Dass mir schwere Lasten allerdings Spaß machen, weiss ich ja eh. 
Im Nachhinein ärgerlich, dass ich die Spargelsaison ungenutzt habe passieren lassen; Stechen liegt mir bestimmt auch. Außerdem will ich unbedingt herausfinden, warum für diesen Job angeblich nur Polen taugen. Bin ich als Schrumpfgermane zu doof? Zu weich? Um dieses Geheimnis zu lüften, vereinbare ich mit meiner Managerin Steffi, dass sie mich bei der nächsten Welle in den Ernteeinsatz schickt und während meiner Arbeit in einem Klappstuhl am Feldrand Platz nimmt, mit Thermobecher und Schirmhütchen. Und ihre übliche Provision kassiert - Steffi muss ja auch von was leben. 
Am Nachmittag berichtet mir ein befreundeter Reeperbahn-Gastronom von seinem ritterlichen Kampf gegen die coronesischen Windmühlen. Mit Schanklizenz dürfte er seinen Laden öffnen, und zwar für genau 10 Personen, die sich jedoch allabendlich aufs fürchterlichste besaufen müssten, um wenigstens die Kosten für Raumpflege und Bierkühlung reinzutrinken. Als Besitzer einer Lizenz für „Tanzlustbarkeiten“ 
(Behördenhamburgisch, kein Witz) muss mein Freund momentan jedoch die Füße stillhalten. Er hat schon versucht, die Lizenz in eine solche für „Tanzunlustbarkeiten“ umzuwandeln (müdes Wippen zu Brit-Pop der 80er), aber der Herr vom Amt nestelte nur kurz an seinen Ärmelschonern, verzog ansonsten keine Miene. Antrag abgelehnt. 
„Wer auch nur den leisesten Zweifel an den behördlichen Maßnahmen äußert“, so der Reeperbahnwirt, „gilt heutzutage ruckzuck als Verschwörungstheoretiker. Das erinnert mich an die Bildzeitung in den 60ern, die belegte alle Andersdenkenden mit dem Spruch „Lange Haare, kurzer Verstand!“ Haha, stimmt. Aus der Kategorie „Geh doch rüber!“ Phrasi passati, so wie „Frauen und Kinder zuerst“. 
Schönen Tag allerseits!

29.5.
Professor Drosten. Es gibt überhaupt gar keinen Zweifel daran, dass er Deutschlands Corona-Fachmann Nr. 1 ist. Bei Kekulé, der gewiss auch ein großartiger Wissenschaftler ist, muss ich offen gestanden immer ein kleines bisschen an Sigmar Solbach denken, als „Der Arzt, dem die Frauen vertrauen“, RTL, 90er Jahre. Hoffentlich nimmt er mir diese Assoziation nicht krumm. Vielleicht schmeichelt sie ihm sogar ein bisschen - hat er doch selber in Filmen mitgespielt, etwa 1968 unter dem Pseudonym ‚Sascha Urchs‘ in „Bübchen“ von Roland Klick. Den Streifen habe ich nie gesehen, aber Drostens informativen Podcast haben meine Frau und ich vollständig durchgehört, mehrfach, der läuft bei uns als Dauerbeschallung von morgens bis abends; die Nachbarn denken bestimmt, der Drosten wohnt bei uns im Gästezimmer. Dass Bodo Wartke eine Lobeshymne auf ihn sang, empfand Drosten als besondere Ehre, die Morddrohungen sind die düstere Kehrseite der Medaille. Und obendrein die Bildzeitung: Alles ein bisschen viel. 
Was ich nicht verstehe: Warum man überhaupt twittert. Spätestens seit Habeck sollte sich doch rumgesprochen haben, dass twittern nicht erholt, sondern stresst, dass Triebabfuhr per Giftpfeil nicht lindert, sondern zerstört. 
Instagram kann gut lange Beine, hohler Kopf, Facebook ist perfekt für mäandrierende Selbstgespräche magenkranker Senioren, und Twitter ist Trump. Wo will man sich da einsortieren? Ich hätt’ gern das Selbstgespräch. 
Ach ja, dann ist da ja noch Hendrick Streeck („Heinsberg-Studie“), auch ein exzellenter Forscher. Und Prof. Melanie Brinkmann von „Hart aber fair“. Ein bisschen schade, dass der Beef in dieser Szene manchmal an Oliver Pocher erinnert, oder an Deutsch-Rapper. Kekulé kritisiert MC Platzhirsch und wird dafür auf Twitter gedrostet, dass er „erstmal was publizieren soll“, um ernst genommen zu werden. Die Bildzeitung lacht sich dann natürlich ins Fäustchen - das ist genau ihr Timbre. 
Ich bin ja so froh, dass ich nicht Virologe geworden bin, denn ich mag es nicht, von Kollegen gedisst zu werden, und könnte selber niemals über Kollegen herziehen. Ich finde die netten nett, und die anderen nehme ich gar nicht wahr. Ich bin auch sehr froh, kein Bildzeitungs-Mitarbeiter zu sein; ich stelle es mir enorm anstrengend vor, von Berufs wegen Leute erst auf den Heldensockel zu hieven, um sie anschließend per Kniekehlentritt wieder runter zu befördern. Seit 68 Jahren geht das so, immer rauf und runter. 
So’n Chefredakteur bei der Bildzeitung hat ein schweres Los; man möchte ihn mal feste drücken, ihm nachts die Tränen aus dem Gesicht wischen und Mut zusprechen. 
Die Virologen würde ich nicht weniger innig umarmen, ihnen danken für den phantastischen Job, den sie da machen, und als der Lebenserfahrenere würde ich ihnen raten: Widmet Euch Forschung und Lehre, das reicht völlig aus, ansonsten gut essen, trinken, schlafen, und, um Himmels Willen, meidet Twitter. 
Wir sitzen alle in einem Boot und rudern durchs Dämmerlicht - Ihr aber auch! 
Und jetzt erst fällt mir auf, dass Ihr Euch garantiert alle nicht von mir umarmen lassen wollt, von wegen Infektionsschutz. 
Wahrscheinlich werde ich niemals ernst genommen werden.
(gepostet ohne peer review).


Donnerstag, 14. Mai 2020

Auf zur Hygienedemo

30.4.
„Wir werden, in ein paar Monaten, wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen“ - das sagte vor drei Tagen Jens Spahn, und seither geht mir das Statement nicht aus dem Kopf. Nein, ich für meinen Teil habe ihm nichts zu verzeihen. Ob ich anders gehandelt hätte als er? 
Vorab: Wahrscheinlich hätte ich, länger noch als er, die herannahende Gefahr abgetan, mit  überheblichem Achselzucken. Bin privat auch nicht unbedingt jemand, der Versicherungen gegen dit&dat sammelt. 
Als dann die Bilder aus Italien aufrüttelten, gab es im Grunde drei Handlungsoptionen: 
1.: „Das schwedische Modell“. Kein Lockdown, Ausbau der Krankenhauskapazität, Appell an die Vernunft. Charmante Lösung, aber mit hohem, schwer kalkulierbarem Risiko.
2.: „Modell Südkorea“. Einzelfallverfolgung, Handyapp flächendeckend. Hierfür fehlten bei uns sämtliche Voraussetzungen. Keine Behörde mit ausreichender Mitarbeiterstärke, keine App. Dafür Datenschutz als EU-Recht, demzufolge eine solche App zwingend freiwillig sein muss. 
3.: „Hammer und Tanz“. Lockdown, so wirksam und gleichzeitig so schonend wie möglich, mit anschließender Impro. 
Was macht man vor dieser Auswahl als Minister? Man lässt sich von Fachleuten beraten, sortiert Prioritäten. Oberstes Gebot: Überlast der Krankenhäuser vermeiden. Risiko für Leib und Leben minimieren - damit scheidet Schweden aus. Modell Südkorea: Schlichtweg unrealistisch, jedenfalls momentan - wenn überhaupt jemals (da unklar ist, ob auf freiwilliger Basis ausreichend Apps installiert werden). Bleibt nur Option Nummer drei: Man schwingt den Hammer, so schnell wie möglich, und tappt anschließend mit beschlagener Brille vorsichtig durchs Unterholz. 
Ja, ich hätte im wesentlichen nichts anders gemacht als unsere Entscheidungsträger - von ein paar Petitessen abgesehen. Wie sagte Klaus Boullion, der saarländische Innenminister? „Grenzschutz ist Menschenschutz?“ - ein solcher Spruch käme mir selbst volltrunken nicht über die Lippen, gerade an der Grenze zu Frankreich. Auch die Durchsetzung von Exportverboten für medizinische Hilfsgüter hätte ich wohl eher nicht verantwortet - ich hätte den Eindruck gehabt, mich unterlassener Hilfeleistung schuldig zu machen.
Aber das ist ja auch gar nicht Spahns Zuständigkeit. Er hat nichts getan, was ich ihm verzeihen müsste, und mir muss er eh nichts verzeihen. Ich war, bin seit Beginn der Ausgangsbeschränkung im Wesentlichen brav daheim oder habe den Kinderwagen um den Pudding geschoben. 
Und mich geärgert. Gestern, über mich. Darüber, dass ich der vermeintlichen Zusammenfassung einer Doktorarbeit Glauben schenkte, in der es um angeblich gesundheitsgefährdende Effekte von Atemschutzmasken ging. Ich war zu faul, die Dissertation in Gänze zu lesen, freute mich darüber, dass „das Internet“ diese Arbeit offenbar für mich bereits erledigt hatte. 
Wir lernen daraus: Auch im Netz lauern Infektionsgefahren; schnell hat man sich bei Fake News angesteckt und trägt das Pixel-Aerosol weiter. Anschließend konnte ich in den Kommentaren meinen eigenen nervlichen Zustand gespiegelt sehen. Wie lange haben wir Lockdown? Fünf Wochen? Am Anfang war die Chose noch spannend; mal sehen, wie sich das anfühlt, endlich mal in Ruhe den Badezimmerschrank aufräumen und das Kräuterbeet bepflanzen. Inzwischen jedoch überwiegen Fernweh, Frust und das demütigende Gefühl einer umfassenden Unmündigkeit. Um meine Tage zu strukturieren, schreibe ich dieses Tagebuch. In ihm dokumentiere ich plan- und arglos Begeben- und Befindlichkeiten, Höhe- und Tiefpunkte dieser Krise. Meine persönliche Coronik. 
Von mir aus könnt‘s ewig so weitergehen.
Uff.

1.5.
Ab heute sind Menthol-Zigaretten in der EU verboten. Es heißt ja, Helmut Schmidt habe 200 Stangen „Reyno“ gehamstert, als 2013 das Verbot beschlossen wurde. Nachdem unlängst das Institut Pasteur in Paris darauf hinwies, dass Nikotin eventuell gegen Corona helfen könnte, stellt sich natürlich die Frage, ob das Verbot jetzt wirklich zu einem passenden Zeitpunkt kommt. Nikotin plus Menthol: Womöglich verzichten wir ohne Not auf ein Top-Therapeutikum. Wo hat Schmidt seine Bestände gebunkert? Im Keller in Langenhorn?
Die Lufthansa droht mit Insolvenz, falls die Hürden für staatliche Hilfen zu hoch sind. Als Fluggast kann man zur Zeit nur versuchen, die positiven Aspekte zu sehen: Niemand muss sich momentan über Verzögerungen des Flugbetriebes wegen Eis, Sturm, Fluglotsenstreik, Vogelschlag oder Terror ärgern. Als Mitarbeiter steht einem der Sinn womöglich weniger nach humoristischem Tiefflug. Ich kann ihnen lediglich helfen, indem ich sie in mein heutiges Gebet in der Gartenkapelle einchecke - so wie auch alle anderen Bangenden. 
10,1 Millionen Kurzarbeiter. Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise gab’s einskommairgendwas. Gut möglich, dass Deutschland sich verhebt und dereinst nichtmal seinen Internetanschluss bezahlen kann. Ende aller Skype-Konferenzen. Das Gute an einer Pandemie: Die ganze Welt sitzt in einem Boot, mangels Liquidität als blinder Passagier. Ich setze meine Hoffnung auf eine internationale Schuldenkonferenz, auf der man sich gegenseitig alle krisenbedingten Verbindlichkeiten erlässt. Bester Ort für die (analoge) Coronferenz: die Cook-Inseln, laut Selbstauskunft der einzige infektionsfreie Ort der Welt. Kann man auch gut mit besagtem Boot hin rudern. 
Apropos Rudern: Dachte heute mehrfach an Ultramarathon und Langstreckenradtouren. Meine Strategie bei 24h-Rennen: Zwei Stunden Bewegung, dann Kaffee und Kuchen, dann weiter, so dass man am Ende 20 von 24 Stunden unterwegs ist. Erfahrungsgemäß lässt bei mir die Disziplin im dritten Drittel nach - ich schiebe Pinkelpausen vor, die gar nicht nötig sind, halte Pläuschchen oder stehe einfach nur ein Weilchen rum. Der Schlendrian liegt in meiner Natur, ist nahezu unausweichlich und wird von mir von vornherein einkalkuliert. Was heißt das übertragen auf den Corona-Marathon? 20 von 24 Stunden Sofa, vier Stunden Beine ausschütteln, hintenraus auch mal, ganz frivol, ein Stadtbummel. Und: Man darf nicht zu streng mit sich sein, hadern, wenn man zB einem Sohn begegnet und ihm aus Versehen die Hand reicht.
Rennstrategien sind natürlich leichter durchführbar, wenn das Ziel einigermaßen definiert ist. Wann endet das Race? Bei Grenzöffnung? Bei 0 Neuinfizierten pro Tag? Mit Impfung? Aus meinem Sportlerleben weiß ich, dass ein allerletzter Motivationsschub aus der Vorfreude aufs Laisser-faire hinter der Ziellinie erwächst. Da lass ich’s krachen: Social statt distancing, sogar mit Zuprosten! 
Aber soweit sind wir noch lange nicht. Momentan radeln wir durch die Nacht, jeder für sich, es ist warm, und die Trinkflaschen sind voll. In der Ferne öffnen die Spielplätze. Irre ich, oder schimmert da das erste zarte Morgenrot?
Noch hält die Disziplin. 
Nur der imaginierte Muskelkater vom Tanz in den Mai verunrundet meine Motorik.
Schönen Feiertag allerseits!

2.5.
Trister Tag. Äußerst schwerer Krankheitsfall im engsten Freundeskreis (nix virales). So bitter, dass mir zunächst die Knie ganz weich werden und ich lange nach den richtigen Worten suchen muss. Einstweilen hocke ich im Walmagen und lasse meinen Blick vom kleinen Klappaltar zur Spinne im Zeltgiebel und zurück wandern. Gebete verbittet sich mein Freund. „Da gehts auch nur um Kontrolle, und die gibt’s im Moment nicht - nirgends“, schreibt er. Zunächst heißt es, niemand dürfe in der Intensivstation zu Besuch kommen, coronahalber. Später geht doch was. 
Regen prasselt auf die Zeltplane, eigentlich ein heimeliges Geräusch. Bin normalerweise ja ein begnadeter Schönredner, aber heute finde ich ihn nicht, den positiven Dreh. „Jede Krise macht uns stärker“, „der Mensch trennt sich vom Egoismus, findet zu sich selbst“. Pah. Mag ich heute alles nicht lesen. Aber ständig stolpere ich drüber; alleine in der Süddeutschen Zeitung: „Die Chancen der Krise“ - Blabla. „Verzicht kann einen erfüllen“ - Blablabla. Und obendrein diese Leute bei Facebook, die mir allen Ernstes erklären wollen, wie ich mein Tagebuch zu führen habe. Mir, der Tagebücher seit seinem 10. Lebensjahr führt, mit äußerst eingefahrener Methodik. Leute, die sich daran stören, dass ich irgendwas anders sehe als sie. Mal zu unkritisch, mal zu kritisch - Frechheit! Ich denke dann: Artikel 5 GG ist - im Gegensatz zu anderen Grundrechten - vom Infektionsschutzgesetz unberührt, ihr Sagrotan-Jakobiner...Ihr...Ihr Westentaschen-Revolutionsgarden...Ihr...
Stopp! Sofort aufhören! Heute nicht in Wallung reden. Ich bin ungerecht. Viele meiner Leser hier bei fb kenne ich seit vielen Jahren, einige sogar persönlich, und ich empfinde es als Privileg, dass ich meinen Blick auf diese seltsame, anstrengende Episode mit Euch teilen darf. Meine Ursprungsidee war ja: Facebook hat den Brexit mitverursacht, Trump in die Puschen geholfen, ich bin mit den Resultaten, die Zuckerbergs Kreatur erbracht hat, nicht gerade zufrieden (Wieder in der Spur. Konziliant, sachlich, diplomatisch. Weiter so) Und so kombinierte ich: Facebook ist oll, doof, fb will keiner - genau wie Corona. Passt also bestens zusammen. Und heute korrigiere ich: Stimmt gar nicht. Facebook ist (jedenfalls für mich) ein wunderbares Forum, mit vielen nachgerade wohltuend neugierigen, aufmerksamen, gebildeten Nutzern. Fast könnte ich mich jetzt in ölige Elogen hinein fabulieren, mit feuchten Augen und Jeder-umarmt-jeden, aber dies wäre denn doch zu dick, außerdem sind Umarmungen polizeilich verboten (paranoider Schulterblick). 
Oha. Ihr merkt: Meine Nerven haben Spliss. Ob ich nicht doch ein wenig beten soll? Heimlich? Das würde mich beruhigen, und dass meine Gebete irgendetwas objektiv messbares bewirken, würde ich nicht einmal meiner Oma erzählen - wenn sie denn noch lebte. Trotzdem komme ich der Bitte meines Freundes nach; ist ja Ehrensache. 
So, jetzt guck ich Kulturona. Aus dem Uwe auf der Reeperbahn. Das hebt meine Laune zuverlässig.

3.5.
Gartencenter: Eine der beiden Achillesfersen der gelungenen Häuslichkeit (die andere: Baumärkte). Es gibt da die dollsten Geschichten, zB waren in Bremen die Gartencenter noch geöffnet, als sie in Niedersachsen schon lange geschlossen waren. Dies führte, so berichtet meine Mama, zu überbordender, ungesunder Betriebsamkeit in der Hansestadt. Tout Westerstede went Richtung Roland - die dornige Macchia des Föderalismus. 
Als wir das letzte Mal Pflanzerde besorgten, kurz vor Ausgangsbeschränkung, war die Stimmung gestresst. Mehrfach wurde ich damals angepampt wegen angeblicher Distanzunterschreitung (dabei habe ich die Leute lediglich mit meinem Einkaufswagen beiseite geschoben, und die Dinger sind verdammt lang). 
Heute ist alles entspannt. Die lange Schlange vorm Eingang kommt schnell voran, routiniertes Personal desinfiziert sichtbar die Handgriffe der Einkaufswagen. Man durchfährt einen Parcours mit wenig Gegenverkehr, und das Publikum fühlt sich hinter der Maske sicher und scherzt. Besonders dringend benötigen wir Spielsand. Für Theo war die kleine Sandkiste im Garten in den letzten Wochen Lebensmittelpunkt, was zu einem mysteriösen Sandschwund geführt hat. Wahrscheinlich wurde er verblasen. Oder ins Haus getragen. Oder verzehrt - für den Fall einer zweiten Welle werden wir jedenfalls Sand hamstern.
In der Terrarienabteilung betrachten wir ausgiebig Rotbauchunken und ein Chamäleon, und alle Misslichkeiten geraten in Vergessenheit. Mit einem Seufzer konstatieren wir: Man sollte viel häufiger Rotbauchunken und Chamäleons betrachten!   
Im Saarland wurden die Ausgangsbeschränkungen vom Verfassungsgerichtshof gekippt. Sonderlich überraschend finde ich die Entscheidung nicht, zumal in Bayern ein Verwaltungsgericht ähnlich geurteilt hat - dort allerdings wurde die betreffende Klage trotzdem abgewiesen, da aufgrund der Vielzahl der Ausnahmen gar keine echte Ausgangsbeschränkung vorgelegen, der Kläger also keine Nachteile gehabt habe. 
Mir kam die Vorgehensweise in Bayern von Anfang an halbseiden vor: Man markiert Härte, untermauert von allgegenwärtiger Polizei und an „Fahrenheit 451“ erinnernde Lautsprecherdurchsagen, wer jedoch raus will, findet immer einen Grund. Etwas kasperletheatral, aber wirksam. Immerhin! Das ist nicht wenig - wenn man sich die Verhältnisse zB in USA anschaut.
Erste Urlaubsplanung: Tandem mit Anhänger zu viert plus Zelt und Gaskocher. Route unklar. Vielleicht braucht man aber auch gar keine „Route“, kein Ziel, sondern fährt einfach solange, bis man pleite ist. Ganz wie im richtigen Leben. Notfalls radeln wir bis Impfingen (das liegt bei Tauberbischofsheim). 
Am Montag machen die Friseure auf, aber der größte Triumph des Frisörhandwerks gelang im tiefsten Tal der „Neuen Normalität“, als nämlich meine Frau Teresa mir einen klassischen Topfschnitt verpasste. Ihre erste Arbeit als Hairstylistin schaffte es, tatatata, tatsächlich in die Tagesschau. Vorvorgestern, 14 Uhr. Ich dachte, ich seh nicht richtig. Im letzten Beitrag, über Promis mit verunglückten Homemade-Frisen. Olaf Scholz, Andreas Scheuer und ich. In der Tagesschau war ich noch nie. Und in so edler Gesellschaft erst recht nicht.

4.5.
Frühsport in der Dämmerung: Ich radle gedankenverloren durch Lochhausen, und plötzlich schießt ein Eichelhäher neben mir erdwärts. Sein Sturzflug ist mit heiserem Krah-Krah untermalt. Der stattliche Vogel schlägt zwei Meter neben mir hart auf den Asphalt der schmalen Straße auf, zuckt noch einmal - und ist tot. Ungläubig suche ich den Himmel ab. Ist er von einem Greifvogel attackiert worden? Erlitt er einen Schlaganfall? Da ist nichts, nur Frühlingsbläue. Ich ziehe die Stirn in Falten und rolle langsam weiter. 
Wieder daheim längere Skyperei mit einer Freundin meiner Frau in Frankreich. Sie wohnt bei Nantes und ist seit neun Wochen eingesperrt. Raus dürfen sie und ihre Familie nur mit Formular, für dringende Erledigungen im Umkreis von 1 km. Jeder kenne haarsträubende Geschichten von Gendarmen, die Einkäufe auf ihre Dringlichkeit hin kontrollieren. Es hagele harte Strafen. Die Stimmung ist brenzlig, und in geharnischten e-mails der Gewerkschaften manifestiert sich der Ärger. Der FN reibt sich die Hände. Die EU habe versagt, weg damit - so der Tenor auch bei jenen, die bisher überzeugte Macronistes waren. Dass Frankreich so am Rad dreht, während in Deutschland Intensivbetten leer stehen, ist mir furchtbar peinlich. Hätten wir das nicht besser anstellen können? Rheinland-Pfalz und Saarland haben je 10 Franzosen übernommen, ja, aber diese Hilfe scheint mir jetzt nicht gerade übermäßig generös. Oder bin ich nicht auf dem Laufenden? Ich erröte jedenfalls kräftig vor Scham, sehe im Skypekontrollbild aus wie Uli Hoeneß, wenn er sich aufregt (Melinda Gates im Interview: „Wäre ich Bürgerin von Deutschland, wäre ich schrecklich stolz“ - Mir geht es heute genau andersrum).
Immerhin, so die Freundin, habe man die Departments in „grüne“ und „rote“ aufgeteilt, und für die grünen gibt es demnächst Erleichterungen. Die Bekanntgabe im Fernsehen habe etwas von der „Ziehung der Lottozahlen“ gehabt, und man sei in Nantes bei den Gewinnern gewesen. 
Wenn der Quatsch noch länger geht und sich auch bei uns die Idee der lokalen Ausgangsbeschränkungen durchsetzt, erscheint mir eine glamouröse Show zu diesem Thema nahezu unausweichlich, live aus Tirschenreuth. Oder als Big-Brother-Relaunch, letzter Versuch.
In München stehen bekanntlich überall Verkaufskästen der Boulevardpresse herum. Die Bildzeitung titelt: „Die Wut der Wirte“, die TZ, direkt daneben: „Die Angst der Älteren“. Angesteckt vom Alliterations-Aerosol. 
Ich freue mich auf „Das Heulen der hungrigen Humoristen“. 
Wenn wir Kinder uns langweilten, fragten wir die Eltern: „Was sollen wir machen?“ - „Auf dem Kopf stehen und lachen“. Weiß nicht, warum mir das gerade einfällt. 
Den ganzen Tag über erscheint mir die Sekunde, in der der Vogel hart aufschlägt, vor dem inneren Auge. 
Hermann Löns nannte den Eichelhäher den „Wächter des Waldes“: Mit seinen Schreien warnt er die Bewohner seines Reviers vor herannahendem Unheil. 
Nun ja; man muss den Vorfall ja nicht unbedingt mythologisch überhöhen.

5.5.
Widerstand 2020 - mein Dichterfreund Jürgen Urig fragt mich, was ich davon halte? - Keine Ahnung, was das ist. Konnte ich mich noch nicht mit beschäftigen. Habe nur die „Seitenmanager“-App, ohne eigene Timeline, bin also völlig ahnungslos. 
Wie mir Jürgen erzählt, gibt es bei fb immer häufiger das, was man „lebendige Diskussionen“ nennt, über Gott und die Welt und die Viren. Jürgilein berichtet zB von einem (vermeintlichen) Atheisten, der mit äußerstem Pathos bekennt: „Ich glaube an das Robert-Koch-Institut!“. Und jeder, der etwas anderes sage, sei ein Verschwörungstheoretiker. Dabei sollte sich doch langsam auch bis zum RKI, bis zum letzten Atheisten herumgesprochen haben, dass nur einer hinter Corona steckt, nämlich Elvis Presley. The King lives on!
Jürgen hat mich befördert; ich bin ab sofort Generaldirektor des von uns beiden gegründeten „Instituts für Putzpoesie“, und Jürgen ist dessen Präsident. 
Die Idee zum Ifpupo kam uns bereits im zurückliegenden Spätsommer, und jetzt ist mir, als habe uns eine Vorahnung ans Ziel geführt, nämlich zur institutionellen Vermählung von Hygiene, Häuslichkeit und Lyrik. 
Aus unserem - bisher- privaten Dichterwettstreit sind viele farbige Verse hervorgegangen, die nunmehr auf Begutachtung warten, und vielleicht dienen sie auch dem einen oder anderen überhitzten Gemüt zur Abkühlung. Hier ein Beispiel aus meiner Feder mit aktuellem Bezug:

Gevatter Tod

Wenn man erstmal tot ist,
Dann bleibt's so bis auf weiteres
Dann ist nix mehr mit heiteres
Beruferaten, Halma oder Mühle
Unterm feuchten Friedhofssand
vertrocknen die Gefühle
Man liegt gestreckt im Kasten,
Ganz ohne Hasten Rasten, Fasten
Darf man, ach, I wo, man muss
Oben kriecht der Autobus
Hier unten nur der Regenwurm
Oben toben Schnee und Sturm
Hier unten liegt man gut geschützt
Weder geärgert noch geblitzt
Wird man in diesem Souterrain
Die Dunkelheit schmeichelt dem Teint
Wenn man erstmal tot ist
Dann bleibt's so bis auf weiteres.

Die Anschrift der Euch hiermit ans Herz gelegten Seite lautet: www.ifpupo.de

Mein Maskenproblem habe ich endgültig gelöst. Der geniale Torsten Sträter hat mir vor geraumer Zeit ein 50er-Jahre-Einstecktuch aus leichter Seide geschenkt, das, olala, mit Pin-up-Girls verziert ist. Per Wäscheklammer befestige ich die Enden des Erotikschals an den Brillenbügeln, so wie man einen Putzlumpen zum Trocknen aufhängt - fertig. Unter dem flatternden Stöffchen kann ich endlich frei atmen, fast wie gewohnt. Natürlich ist das Tuch 100% sexistisch und man erntet im Supermarkt potentiell tadelnde Blicke. Da man aber die machistische Motivik nur dann studieren kann, wenn man die gesetzliche Mindestdistanz unterschreitet, verebben eventuelle kritische Diskurse nach entsprechendem Hinweis noch vor der Fleischtheke. Über die von mir (Kollege Sträter?) womöglich betriebene „Degradierung der Frau zum Lustobjekt“ habe ich jedenfalls in den letzten Tagen nicht streiten müssen, was aber vielleicht auch daran liegt, dass meine mich zum Netto begleitende Frau Niqab trug, ein bekanntlich für manche Mitmenschen nicht weniger diskussionswürdiges Kleidungsstück. 
Porno meets Pakistan - Als Paar sind Teresa und ich in diesen Tagen schwer zu kategorisieren.

6.5.
„Vorsicht ist die Mudder der Borzellangiste“ - das ist das Motto der Söderschen Schleichtaktik raus aus der Erstarrung, nachdem Niedersachsen und NRW vorlegten, mit Kita- und Gastronomie-Öffnung. Danke, ihr wackeren Nordlichter! Ich trug und trage die „Maßnahmen“ gerne mit, aber jetzt muss es weitergehen. Und ich habe dabei gar kein Problem damit, dass die Bundesländer nicht mit einer Stimme sprechen - entstammt dieser Wunsch doch nur der alten deutschen Sehnsucht nach dem monolithischen Volkskörper à la „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“.
Wenn Gesundheit Ländersache ist, dann sollen die Länder auch ihrer Verantwortung nachkommen - zumal das Infektionsgeschehen ja sehr ungleich verteilt ist. Die Vorstellung, dass die verängstigte Deutsche Mähre ohne straffe Zügelführung durch einen Kutscher, der den Weg wie seine Westentasche kennt, scheut, ausbricht, stürzt und notgeschlachtet werden muss, ist antiquiert. Ich, die Mähre, weiß auch ohne einstimmig sprechende Ministerpräsidentenkonferenz einen Huf vor den anderen zu setzen. Als mündiger Hengst würde ich, hoho, sogar ganz ohne Zaumzeug durch die Krise finden.  
Bester Moment an Söders Pressekonferenz, die wir mit einer befreundeten Cafebesitzerin gucken: Als er persönlich seinen Vize Hubert Aiwanger für die von ihm eingebrachte Idee lobt, mit Mundschutz ins Lokal zu kommen, diesen zum Essen ab- und wieder anzulegen, wenn man auf Toilette muss. Bravo, Hubert! 
Die Wirtin des Cafés berichtet, dass sie vor 10 Jahren eine Versicherung gegen Betriebsausfälle abgeschlossen hatte. Zwar gilt diese Versicherung auch für Pandemie-Fälle, nicht jedoch für SarsCoV19. Klar, als die Versicherung abgeschlossen wurde, gab’s das ja auch noch nicht. Die Police kostet 2000€ pro Jahr, und mit dem Ausdruck großer Bitternis berichtet die Wirtin, dass die Versicherung angeboten hat, aus Kulanzgründen 1000€ zu zahlen. Auch nicht schön.
Nachmittags essen wir ein großes Blech selbstgebackenen Rhabarberkuchen nach original Dangaster Rezept. Und freuen uns darauf, bald höchstpersönlich vorm Kurhaus zu sitzen und auf die Ölraffinierie in Wilhelmshaven zu blicken, zusammen mit meinen Eltern. Ja, wir werden mit dem Wiedersehen nicht warten, bis ein Impfstoff gefunden ist. Darauf könnt ihr Gift nehmen, hätte ich fast geschrieben, aber das klingt missverständlich, gerade auch für mitlesende Impfgegner.
Im abendlichen Twitch-„Ferngespräch“ mit Tommy Krappweis und unterschiedlichen Wissenschaftlern bekennt eine Ethnologin, welche unterschiedlichen Stadien sie durchlaufen hat: Verharmlosen, Ernstnehmen, emsiges Übererfüllen („Vernunft“), Angst, Langweile, Wut, Freude, Nicht-wahr-haben-wollen, Schlendrian, Depression... ich pflichte ihr bei, und wahrscheinlich kennen wir alle diese Gemengelage. Momentan frohlocke ich und jauchze, aber dabei weiß ich: Das Thema bleibt heiß; noch ein, zwei Jahre lang wird sich das Virus in unsere Leben einmischen. Vielleicht sollten wir uns in der Zwischenzeit mit ihm anfreunden?

7.5.
„Heute gehen wir auf den Spielplatz! Weißt Du noch, was das ist? Mein Sohn, eindreiviertel Jahre alt, guckt unsicher. „Da gibt’s eine Rutsche, eine Schaukel, ein Klettergerüst...“ Er scheint im Hinterstübchen nach Erinnerungen zu suchen, offenbar mit mäßigem Erfolg. Umso größer die Freude, als wir bald darauf am Grünwaldpark in Neuhausen eintreffen. Sonne, Sand und begeisterte Kinder. Der Filius gerät schnell in einen Konflikt um eine kleine Schaufel, es wird im Diskant geschrien, das wesentlich größere Mädchen wirft sich, als die Sache mit Hilfe ihrer proaktiv erziehenden Mutter zu ihren Ungunsten ausgeht, bäuchlings in den Sand und rudert theatralisch mit den Armen durch die Frühlingsluft. Ich schließe die Augen und genieße. Endlich wieder Tränen, Terz und Schimpftiraden. Kennt ihr den alten „Keine Staus, keine Hektik, keine Termine“-Werbespot von Jever Pils? So fühlt sich das an!
Mittagessen holen wir uns vom Italiener nahbei und verspeisen die Nudeln mit Blick auf das brütende Schwanenpaar am Nymphenburger Kanal, ehe wir Kartonage und Silberbesteck wieder in der Taverne abgeben. Es scheint eine Entwicklung stattgefunden zu haben: In den ersten Wochen quollen die öffentlichen Mülleimer über, und ich brauchte lange, bis ich den Grund begriff. Dachte zunächst, der Krankenstand der Stadtreinigung sei so hoch, dass man nur selten leeren könne. Dann dämmerte mir: Es ist die plötzliche To-Go-Kultur, auf die das Eimernetz nicht eingerichtet ist. Inzwischen sieht man die überquellenden Eimer seltener - womöglich haben die Stadtwerke sich auf die Neue Normalität eingestellt. 
Zwei Stunden lang versucht, beim Österreichischen Generalkonsulat anzurufen, um nähere Informationen zu den Sonderregelungen für Jagdpächter einzuholen (nein, ich habe keinen Jagdschein, Teresa wäre aber bereit, sich den Lehrstoff einzubimsen, wenn er uns einen Weg zur Hütte eröffnete). In der Warteschleife läuft Mozart. Keiner geht ran.
Stellte mir vor, Söder, Merkel und Tschentscher kommen zur Pressekonferenz und verkünden eine neue Strategie: Ab sofort wird notgeschlachtet. Montag gehts los mit dem Buchstaben A, Dienstag bin ich schon dran. Ich weiß, sowas darf man nicht denken, von wegen Menschlichkeit & Co, aber ich hangele mich seither vom Hihi zu Haha und zurück. Ein vierter Stuhl bei der Pressekonferenz bleibt zunächst leer, er ist für den Bundesnotschlachter reserviert. Wer wird das neue Amt bekleiden? Boris Palmer? Salomon Kalou? Nein, nach einer Weile macht es bumms, ein Lichtblitz durchzuckt dunklen Nebel, und dann schlurft der leibhaftige Karl Dall an der Kanzlerin vorbei zu seinem Platz, gewandet in eine schwarze Kutte. Und endlich, nach sieben Wochen Krise, packt mich echte, nackte Angst.



8.5.
Keiner Partei, die sich Grenzöffnungen innerhalb der EU widersetzt, werde ich zukünftig meine Stimme geben können. 
Nie fühlte ich mich als Bürger Europas so verhöhnt wie heute von Innenminister Horst Seehofer, der der Forderung von 12 Europa- und Bundestagsabgeordneten der Union, die Grenzen zu öffnen, eine knappe, kalte Absage erteilte. 
Meine Wut auf diesen geschichtsvergessenen Nationalismus ist so übermächtig, dass ich mich sogar dazu versteige, mich jetzt und hier für immerdar festzulegen, keine Partei, die diesen Kurs mitträgt, jemals wieder zu wählen. 
Die CDU, stolze Europa-Partei, die Partei von Konrad Adenauer, der in Colombey-les-deux-Églises mit De Gaulle den Grundstein zur Aussöhnung meißelte, die Partei von Helmut Kohl, der als junger Mann Schlagbäume zerstörte: Diese Partei ist für mich fortan lebenslang unwählbar. 
SPD: die Partei, in der man singt (sang?): „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht“, die Partei eines Helmut Schmidt, der in seiner Kellerbar mit Valéry Giscard d‘Éstaing den Ecu ersann: für mich lebenslang unwählbar. 
FDP: die Partei von Hans-Dietrich Genscher, der auf dem Balkon der Prager Botschaft sprach: „Ich bin hier hergekommen , um ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise...“: verdruckst, kleinlaut, ebenso wie Linke, Grüne, wahrscheinlich alle gar zu verängstigt, infiziert vom Gesundheit-über-alles-über-alles-in-der-Welt-Patriotismus. AfD sowieso indiskutabel. 
Verdammt, wen soll ich in Zukunft wählen? 
Nur eine Partei, die ohne Wackeln, ohne Zaudern standhaft europäisch denkt, hat mein Wohlwollen. 
Ich weiß: Ich bin nicht alleine. In allen demokratischen Parteien gibt es die wackeren Streiter für offene Grenzen. 
Ihr müsst hörbarer werden! 
Lasst Euch nicht einschüchtern von den Apokalyptikern, den Chauvinisten, denen, die überheblich und arrogant den Weltmeistertitel der Deutschen in Sachen Corona-Bekämpfung feiern und denen, wenn's hart auf hart kommt, der Rest Europas völlig egal ist. 
Wir, liebe Mitstreiter, müssen wieder die Oberhand gewinnen! 
Es gibt keine sachlichen Gründe mehr für Grenzschließungen (wenn es jemals welche gegeben hat); ich habe auch nach ausgiebiger Recherche nicht einen Epidemiologen gefunden, der sie im jetzigen Stadium für ein sinnvolles Werkzeug hält. Abstandhalten ist das Ding, nicht Grenzschließungen; sie sind eine lupenreine Machtdemonstration. 
Boah, ich bin soo sauer auf diesen narzisstischen H0-Potentaten. 
Geh nach Hause, spiel mit Deiner Eisenbahn.
Wie sagt man in Italien?
Ich habe fertig.

P.S.: 16:51 Uhr. Bin mehrfach darauf hingewiesen worden, dass Christian Lindner im Zeitungsinterview noch gestern Grenzöffnungen forderte. Ich freue mich, ihn bzw die FDP von meiner übrigens unangenehm ungebügelten, unbegührlichen Kritik ausnehmen zu können.


9.5.
Aus einer emotionalen Aufwallung heraus habe ich mich gestern am armen Horst Seehofer abgearbeitet, bei dem ich zunächst einmal herzlich um Entschuldigung bitten möchte. Injurien haben in der politischen Auseinandersetzung keinen Platz, und es ist mir ungemein peinlich, dass ich auf dieses dünne Eis geraten und darin eingebrochen bin. Auch an alle Miniatureisenbahner richte ich ein flehentliches Pardonnez! Als sei ein H0-Potentat etwas schlechtes! Im Gegenteil, die Beschäftigung mit Schmalspurlandschaften kennzeichnet den Individualisten; nur wer auch kleinste Dampflokomotiven lieben kann, kann auch sich selber lieben, und nur wer Minitrix beherrscht, hat auch das Zeug dazu, die größten Reiche zu regieren. 
Und dann: Natürlich ist es Unsinn, nur wegen eines schrägen Vogels eine Partei nicht zu wählen, noch dazu lebenslang - das ist, mit Verlaub, schrecklich unreif! Absolut zurecht wurde ich Vollidiot genannt, geistesgestört, Wutbürger, Abos wurden gekündigt, und vor allem wurde ich mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass die FDP die Europäischen Grenzen öffnen will (von den anderen Oppositionsparteien weiß ich das ehrlich gesagt gar nicht genau). 
Interessante Rüge auch: „Öffentliche Personen“ sollten im Internet nicht ihre Meinung kundtun, da sie „dumme Menschen leicht manipulieren könnten“. Hm. Mein Gefühl sagt mir, dass jeder Bürger seine Meinung äußern sollte, immer frisch heraus damit, sogar Promis, die man im Alphabet eher mittig einsortieren würde, etwa mich. Nachvollziehbar, dass man gerade in anspruchsvollen Epochen wie dieser flirrende, unkonkrete Oberflächen bevorzugt, in die jeder hineinprojizieren kann, was er will - das dient der Entspannung.
Aber, ach, ich persönlich bevorzugte immer das freie, naive Bekenntnis, ob bei Uschi Glas, Roland Kaiser, Dietmar Dath, weil der Bekennende dem Publikum vermittelt: Ja, man darf eine Meinung haben, trau Dich auch Du! Aber, ich weiß, viele sehen das ganz anders (vielleicht verwechseln sie „öffentlich“ mit „öffentlich-rechtlich“? Das würde ich sofort nachvollziehen können, klar). 
Was lernt man nun daraus? Wir alle stehen mitten im Neuland, jeder ringt um Erkenntnis, Drosten, Merkel, Du, ich, Uschi Glas, Benjamin Blümchen, wir alle. Und kaum kommt man mit einer These ums Eck („Social Distancing tut not - Grenzschließungen nicht (mehr)“), hagelt es Antithesen. Einer der Begriffe des Jahres drängt sich auf, nämlich: „Hammer und Tanz“. Gestern: Das war der Hammer, unerbittlich, ungerecht, brutal. Und heute kommt der Tanz; ich relativiere, schlage Räder, tröste, suche nach der Synthese, und wenn die „zweite Welle“ käme, würde ich womöglich wieder Hammer bzw feinere Hämmerchen auspacken müssen. 
Wäre kein schlechter Nebeneffekt der Coronakrise, wenn Rechthaberei durch wissenschaftlichen Diskurs ersetzt werden würde: Jeden Tag dazulernen, was eben ohne Widersprüche und Korrekturen nicht denkbar ist. Ich bin jedenfalls für jeden Einwurf, für jede Beleidigung dankbar. Wir befinden uns alle in einem großen Labor, und das Experiment ist in vollem Gange.

Roy Horn ist tot, gestorben an Covid-19. Er kam aus Nordenham, meine Ecke also. Aber nicht nur landsmannschaftlich habe ich mich ihm immer verbunden gefühlt: Als Erstklässler konnte ich einen Zaubertrick, den ich am Straßenrand in Oldenburg feilbot. Vor mir lag ein selbstbeschriftetes Stück Pappe: „Ein Zauber eine Mark“. Magie meets money. Der Zauber der Viren ist deutlich teurer. 
Hol di fuchtig, lieber Roy!

10.5.
R wieder > 1. Un’ nu’? 
Am Abend sehe ich die Venus am Himmel, als gleißend hellen, großen Stern im Westen. Und ganz in der Nähe müsste Merkur sein. Scheint nah, so nah, dass man meint, bis Pfingsten hinreisen zu können, zB mit dem neuen Tandem, wenn man ein paar Carbon-Flügel dran klebte. Nein, natürlich wäre man doch etwas länger unterwegs; die Sonde „BepiColombo“, von der ESA 2019 losgeschickt, wird 2026 am Merkur eintreffen. Sieben Jahre, die den Konstrukteuren des Antriebs alles abverlangten, da nicht nur immens viel Energie für den Vortrieb vonnöten ist, sondern ähnlich viel für ein sattes Fuder Extra-Bremskraft, das einen Sturz in die Sonne verhindern soll. 
Teresa und ich, wir würden uns aufteilen: Ich mache den Vortrieb, sie bremst, und die Kinder im Anhänger wachsen heran, würden irgendwann groß genug sein, um den Flug pedalierend zu unterstützen. Schule fällt ja bis auf weiteres eh aus (sagt Karl Lauterbach). Vielleicht kommen auch meine großen Söhne mit? Cyprian ist in Topform, nachdem er sich Bubble Balls zugelegt hat. Das sind durchsichtige, aufblasbare Plastikbälle im Format eines kleinen Öltanks bzw. großen Heuballens, in die man hinein schlüpft, so dass man beim Fußball immer ordentlich Abstand zum Gegenspieler hat. Nach den ersten Tests sagt Cyprian: Schweißtreibend, aber ein ernstzunehmendes Modell für die Fußballbundesliga. Kontaktlos ins Geisterspiel. Vielleicht taugen Bubble Balls auch als Raumanzüge auf dem Tandem? Wobei: Da sie aus Plastik sind, müsste man ihren Schmelzpunkt ermitteln; auf dem Merkur beträgt die Tagestiefsttemperatur gerne mal 450 Grad Celsius - könnte knapp werden. 
Ich will jetzt keine Werbung für so‘n Fun-Firlefanz machen, aber: Wären Bubble Balls nicht eventuell auch eine gute Anregung für die sogenannten„Hygiene-Demos“? Die Polizei kann aufatmen, da Abstand garantiert ist, das Material ist ähnlich virensicher wie Plexiglas...ich merke, wie ich von Euphorie erfasst werde; ist das nicht überhaupt ein Konzept für uns alle, uns „Neue Normale“? Hat man die Dinger erstmal übergestülpt, kann man leben wie anno dunnemals, und die Viren, ätschibätschi, gucken in die Röhre...wie? Ach so....ich höre gerade, dass sich dieses Konzept bereits der „Postillion“ ausgedacht hat, eine der wenigen wirklich verlässlichen Informationsquellen unserer Ära. 
Zwei interessante neue Fakten aus der Wissenschaft. Erstens: Eine Corona-Infektion wird bisweilen von blauen Frostbeulen an den Füßen begleitet. Das passt allerdings bestens zu meiner Hypothese, ach was, zu meiner Erkenntnis, dass es sich bei den Viren um den reinkarnierten Elvis Presley handelt, denn er sang ja: “Don’t step on my blue suede shoes”. 
Zweitens: Norman Swan, australischer Arzt und Podcaster, weißt darauf hin, dass SarsCoV2 auch durch Fürze übertragen werden kann, via Tröpfeninfektion - jedenfalls, wenn der Überträger unbekleidet ist und man den Mindestabstand unterschreitet. Die Hose, so Swan, habe die Funktion eines Mundschutzes. Im Zweifelsfall (nach Besuch in Risikogebieten, Kontakt mit Infizierten) sollte man auf sie nicht verzichten. 
Schönen Sonntag allerseits, auch und gerade den Müttern!

11.5.
Man könnte meinen, zum 300. Geburtstag von Baron Münchhausen haben sich am Wochenende illustre Festgemeinden in München, Stuttgart und anderswo versammelt, teilweise ohne Maske, manchmal sogar ohne Abstand (weil: „ist ja nicht so schlimm“). 
Münchhausen hat sich bekanntlich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen; er ist quasi ein früher Superheld der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung, und er schreckte dabei auch vor eher riskanten Unternehmungen nicht zurück, etwa dem Ritt auf einer Kanonenkugel. 
Heute würde er womöglich täglich Coronapartys beehren, oder zumindest mit deren Besuch prahlen. 
Natürlich waren nicht nur gläubige Fans von Lügengeschichten auf den Demos am Start, nicht nur trübe Tassen, thüringische Kurzarbeiter im Amt des Ministerpräsidenten, Nazis und Anarchisten, sondern auch „ganz normale“ Leute - denen es ans Leder geht, die sich fühlen wie der Münchhausensche Windhund, der sich die Beine so lange ablief, bis er im Dachsbau eingesetzt werden konnte.
Wir haben in unserem Freundeskreis gleich mehrere Gastronomen, die mit dem Rücken zur Wand stehen, die zB mit sieben Angestellten per improvisiertem Bringdienst einen Tagesumsatz von 50€ erzielten und bereits zum 1. Mai aufgeben mussten, womit nicht nur die eigenen Existenz, sondern obendrein auch das Darlehen der Eltern futschikato war. Die staatlichen Nothilfen reichten nicht aus. 
Bei den darstellenden Künstlern sieht die Lage ähnlich bitter aus: Der „Kulturstaat“ Bayern hat sich zwar vor Wochen - als einziges Bundesland - bereit erklärt, in Not geratenen Musikern zu helfen, aber die Anträge für 1000 € monatliche Soforthilfe sind noch immer nicht online („Softwareprobleme“). 
Dies schreibe ich als jemand, der sämtliche Abstands- und Hygieneregeln ernst nimmt und einen Großteil der „Maßnahmen“ befürwortet(e) - um Verständnis zu erbitten.
In den letzten Tagen hörte ich nämlich manchmal Sätze wie „Was regen sich die Leute eigentlich so auf, wenn sie mal ein paar Wochen lang nicht in den Urlaub fahren können“ - für manche Leute geht es in dieser Krise, bei der temporären Einschränkung der Grundrechte eben nicht um schnöden „Urlaub“, sondern um das genaue Gegenteil: um ihre Arbeit, die wirtschaftliche Existenz. 
Mit Heiopeis oder gar Nazis sollte man sich trotzdem nicht auf einer Demo tummeln - damit schadet man nur dem eigenen Anliegen und unterliegt womöglich einer gewissen Ansteckungsgefahr. 
Beliebtes Twitterthema vor dem Hintergrund der auf über 1 gestiegenen Reproduktionszahl: Warum hat man die „Maßnahmen“ nicht noch zwei Wochen durchgezogen? Meine Vermutung: In Anbetracht der vielen Kurzarbeiter (weit mehr als prognostiziert) wäre die von Epidemiologen empfohlene Verlängerung schlichtweg zu teuer. Wir haben quasi nur einen Schuss, und ich hoffe, eben der wird von allen gehört. 
Im Deutschlandfunk angenehm skurriles Interview mit einem Leipziger Studenten, der soeben aus seiner Geburtsstadt Wuhan nach Deutschland zurückgekehrt ist. Was denn seine Mutter ihm zum Abschied gesagt habe? „Pass auf deine Brieftasche auf!“ Und was er in Leipzig vermisse: „Die vielen guten Gerichte, die wir in Wuhan essen. Manches gibt es in Leipzig gar nicht!“

12.5.
Draußen gewittert‘s gleich, die Kinder sind noch mit Teresa in der Sandkiste beschäftigt, und ich nehme die Gelegenheit wahr, mich gedanklich in ein Virus hineinzuversetzen. 
Also los: Viren verhalten sich im Alltag passiv. Lebensäußerungen, etwa in Form hektischer Betriebsamkeit, aber auch Freizeitsport, Zeitunglesen oder Knöpfe annähen sind von ihnen nicht zu erwarten, zumal sie gar keine Lebewesen sind, sondern lediglich „dem Leben nahestehend“. 
Ich habe mich aufs Sofa geworfen, mein müder Blick fällt durchs Fenster auf die Sandkiste. Ja, da ist Leben in der Nähe, die Kinder glucksen. 
Auf Stoffwechsel können Viren verzichten; weder können sie Proteine herstellen, noch Energie umwandeln, noch sich selber replizieren. Hm; so richtig energetisch fühle ich mich heute auch nicht gerade, bin eher schlappert. Klar, ich könnte mir einen Kaffee kochen, bin aber zu faul. Mich selber replizieren? Dafür wäre ich womöglich auch zu faul, wenn ich’s denn ohne Partnerin hinkriegen würde; einstweilen reicht es bei mir nur zu Selfies. Aber sind Selfies echte Replikationen, im virologischen Sinn? Falls ja, könnte ich mir ein Ei drauf backen - aber das mit den Proteinen ist sicher auch anders gemeint. 
Für sein Wohlergehen braucht ein Virion eine Wirtszelle, sozusagen eine Gastwirtschaft. Erst dort blüht das Virus auf, ohne dass da eine Blüte zu sehen wäre - es gerät ja lediglich in die Nähe des Lebens. Und lässt die Wirtszelle für sich malochen. Spontan denke ich an die „soziale Hängematte“. Da kann man mal sehen, wie schäbig ich geprägt bin, von Thatcherismus, Glotze und Bildzeitung, dass ich bei einem Virus an eine Art Tunichtgut denke. Womöglich hat so’n Virus noch nie ernsthaft gearbeitet, aber dabei Handy mit Netflix-Account. Manche Viren tragen bis zum Beginn der Replikationsphase eine Virushülle - da sehe ich sogleich stonewashed KiK-Jeans mit sehr vielen Löchern vor mir, und Bruno-Banani-Unterhosen, die aber zur Replikation ausgezogen werden, klar. 
Der Durchmesser eines Virions kann 15 bis 440 nm betragen. Habe keine konkrete Vorstellung, was das bedeutet, aber das ist klein. Sehr klein. Irgendwas zwischen Bernhard Hoëcker und mir. Die Form des Proteinkapsids kann ikosaederförmig, helikal oder geschossförmig sein. Ich schaue an mir herunter und entscheide mich für das Geschoss. 
Gähn. Teresa ist mit den Kindern in die Küche umgezogen. Ich höre, wie drei Eier aufgeschlagen und in die Pfanne gehauen werden. Gleich wird meine Gattin mir sicher ein leckeres Rührei kredenzen. Ich öffne den obersten Hosenknopf und fühle, dass ich zwar noch menschliche Züge aufweise, ja, mich aber einem Virus unzweifelhaft annähere. Eine Folge meiner autosuggestiven Kraft? Habe ich mich in den letzten Wochen gar zu sehr mit dem Thema beschäftigt?
Am Abend lese ich, dass chinesische Forscher den genetischen Code von Sars-CoV2-Viren im Sperma junger Corona-Patienten nachweisen konnten. Viele Einzelheiten sind noch ungeklärt, aber vorsichtshalber wird Genesenen empfohlen, Kondome zu benutzen. 
Mir dämmert: Wenn die Krise so weitergeht, werde ich ganz und gar zum Virus. Bin ich eine Gefahr für uns, für Euch? 
Man könnte beim RKI nachfragen, aber die haben ihre regelmäßigen Pressekonferenzen eingestellt. Schade. Warum eigentlich?

13.5.
Fünf Uhr wach. Rauf aufs Tandem, alleine (50 % Belegung, wie im Restaurant). Am Dantebad vorbei zum Olympiapark. Immer noch eines der schönsten Gebäudeensembles, die es gibt. Kurt Edelhagen schrieb die Musik zum Einmarsch der Nationen - lebenslang Gänsehaut, wenn ich das Album höre. Weiter zum Radweg hinterm Rangierbahnhof. Flatcurviges Auf und Ab. Wenn man oben ist, kann man bei guter Sicht die Alpen erspähen. Am Lußsee ein trockener Luftkuss zur eisernen Kirche; Luftküsse trenden. Lochhausen und Aubinger Lohe. Über den Teufelsberg zum Geschichtspfad, am Biedersteiner Kanal zurück. Luxus ist, wenn man morgens 40 km radeln kann, und man begegnet kaum je einem Auto. 
Freund am Telefon: „3000 Demonstranten - die machen alles kaputt, was wir geschafft haben. Wieso wird sowas erlaubt?“ Ich: „Ja, ärgerlich. Aber so ist das im Pluralismus. Muss man akzeptieren.“ Stille in der Leitung. Ich überlege, ob ich ihm die entsprechenden Artikel im Grundgesetz erläutern soll, fürchte aber missverstanden zu werden und sage nichts.
Im Tante-Emma-Laden. Verkäuferin: „Bald werden wir wissen, was hinter den Maßnahmen steckt“. Ich: „Was denn?“ Sie, achselzuckend: „Na die Wirtschaft auf null bringen“. Ich nicke bedeutungsschwer. Und überlege, ob ich nachfragen soll, wer ein Interesse daran haben könnte, die Wirtschaft vorsätzlich zu ruinieren - fürchte aber die Antwort und sage nichts.
Bei Twitter inzwischen alles haargenau wie in der Flüchtlingskrise: Auf der einen Seite die „Covidioten“, auf der anderen jene, die sofort milchsuppig aufschäumen, wenn irgendjemand die Zahlen des RKI hinterfragt. Ihr Vertrauen in die Wissenschaft (und die Regierung) ist total. Wenn man aber darauf hinweist, dass in der jetzigen Situation kein Epidemiologe Grenzschließungen in der EU empfiehlt und daraufhin deren Öffnung anmahnt, werden sie pampig. Ich versuche mich dann in Milde und sage mir: Wir sind eben Deutsche. Wollen stets bestmöglich erledigen, womit der Kaiser (bzw seine Rechtsnachfolger) uns beauftragen. 
Auch über all die armen Seelen, die absurderweise Ken Jebsen für den größten Aufklärer seit Immanuel Kant halten, versuche ich milde zu urteilen. Alles ist zZt neu, unklar, schwammig. Der Mensch sehnt sich aber nach Verlass. Und wenn gesicherte Erkenntnisse fehlen, müssen Phantasie und Glaube herhalten, wie im Mittelalter, wie bei einem windschiefen Schuppen im Nirgendwo, der in der Not mit Opas Gehstock abgestützt wird - weil eben nichts anderes da ist. 
Langsam, ganz langsam dämmert mir, was Jens Spahn meinte, als er sagte, in ein paar Monaten hätten wir alle einander viel zu verzeihen. 
Friede sei mit Euch!

14.5.
Angst, ich? Schon lange nicht mehr, bin abgestumpft. Genau genommen seit 1977, denn mein lebenslänglicher Angsthöhepunkt erstreckte sich über mein komplettes zehntes Lebensjahr. 
In der „Hörzu“ hatte ich einen Artikel über Hodenkrebs gelesen, und fortan war ich davon überzeugt, selber betroffen zu sein. Unter anderem bildete ich mir ein, ein Hoden sei größer als der andere. Meinen in Bälde bevorstehenden Tod malte ich mir in mattesten Farben aus, und auch ein Besuch beim Kinderarzt konnte mich nicht beruhigen. 
Was, wenn der Herr Doktor mich anlog, weil er nicht den Mumm besaß, mir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen? 
Just in dieser Zeit litt ich außerdem furchtbare Qualen, wenn meine Eltern mich abends alleine daheim ließen, um zB ihr Theaterabo zu nutzen. 
In meiner Phantasie kamen Mama und Papa bei grausamen Unfällen ums Leben oder verschwanden unter mysteriösen Umständen, und in den tiefsten Tränentälern verknüpfte ich die peinigenden Szenarien: Erst sind die Eltern weg, und bald darauf, als Vollwaise, erliege ich meinem Karzinom. 
Nicht nur einmal telefonierte ich, von Heulkrämpfen geschüttelt, die Nachbarn aus ihren Betten, wenn meine Eltern sich mal wieder a weng verspäteten. 
Und etwa ein Jahr nach Beginn dieses dämonischen Gedankenballetts verflog die Angst, ohne besonderen Anlass, genau so plötzlich, wie sie gekommen war. „Du hattest keine Tränen mehr“, sang Peter Maffay; ja, ich hatte die Angst ausphantasiert, restlos. Nichts könnte an die entsetzliche Pein der Angstsaison 77/78 heranreichen. Ein Virus könnte mich töten, klar - aber mir Angst einjagen? I wo. 
Wie komme ich überhaupt auf dieses Thema? Weil Tommy Krappweis mich im Twitch-„Ferngespräch“ fragte, ob ich bereit wäre, mich mutwillig mit SarsCoV-2-Viren zu infizieren. Ich, perplex: „Warum sollte ich das tun?“ Tommy schmunzelte nur und wartete auf meine Antwort. „Da ja der von Jens Spahn in die Debatte gebrachte Immunitäts-Ausweis vom Tisch ist, hat man keine Vorteile als Genesener, etwa Freizügigkeit. Wenn der einzige Weg in andere Länder über eine Infektion führen würde, könnte man - ganz eventuell - über den Besuch einer Corona-Party nachdenken, aber da dies nicht der Fall ist, erübrigt sich der ganze Gedankenansatz - und aus Spaß an der Freud‘ angelt man sich ja noch nicht einmal einen schnöden Schnupfen mutwillig“ 
Ab heute haben die Schlagbäume Lampenfieber; bald werden die Grenzen geöffnet, und Tommys Frage hat sich (hoffentlich endgültig) erledigt. Uff!

The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

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