Donnerstag, 22. März 2018

Kiez, krank, Krosslauf

Die Saisonplanung steht. Ende April werde ich an der „Harzquerung" teilnehmen - das ist ein 51 km langer Dauerlauf über Wanderwege von Wernigerode nach Nordhausen, und Ende Mai reihe ich mich, wenn alles gut geht, in die Sportlerschlange des Rennsteiglaufes ein. Start ist morgens um sechs in Eisenach, und mit etwas Glück werde ich im Rahmen der Sollzeit nach 72 km in Schmiedefeld eintreffen. Gemeldet bin ich für beide Veranstaltungen, die Startgebühr ist überwiesen, und ich pendele zwischen Vorfreude und Einschüchterung. 

Den Rennsteiglauf habe ich schon lange auf der Agenda, nämlich seit 2001. Er ist ein Klassiker alter Schule, so wie Biel und der Swiss Alpin-Marathon in Davos. Zudem bezauberte mich immer die spezielle DDR-Folklore - dass man dort zB an den Verpflegungsstationen traditionell Haferschleim gereicht bekommt. 

Trainingstechnisch bin ich voll im Zeitplan, zumal sich der offenbar unabwendbare jährliche Winterinfekt just meine Ruhewoche ausgesucht hat. Oder habe ich ihn provoziert? Nach meiner letztwochigen Besteigung des höchsten Hamburger Berges lief ich gleich am nächsten Tag 20 km die Elbe rauf und runter, besuchte abends auf St. Pauli die neue NDR-Show von Michel Abdollahi („Der Deutsche Michel", Bild), und wiederum einen Tag später trabte ich mit schwerem Rucksack vom Münchener Flughafen bis nach Oberföhring. Dort waren das Wasser alle, die Speicher leer, und ich kehrte nassgeschwitzt ein, so hungrig, dass ich auf das Anlegen trockener Kleidung verzichtete. 70 km in 3 Tagen waren wohl zu happig - ich sah den Viren bei der Okkupation meiner Schleimhäute mit resignativem Schulterzucken zu. Derlei Doofheitseruptionen gilt es fürderhin zu vermeiden. 

Wenn ich also nicht nur fleißig, sondern auch umsichtig trainiere, könnte es durchaus klappen mit meiner Teilnahme an „Europas größtem Crosslauf". Sport frei! 

Dienstag, 13. März 2018

Auf Hamburgs höchsten Berg

Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Deutschland unsere, meine Heimat ist. Zeit, dieses süßsaure Heimatland einmal neu kennenzulernen. Wie könnte man sich einen besseren Überblick verschaffen als von oben? Zur ISS schaffe ich’s nicht, Drohnen sind zu gewöhnlich für meinereiner, also besteige ich Deutschlands höchste Berge. Oder, genauergesagt, die höchsten Gipfel der 16 deutschen Bundesländer. Sweet little sixteen summits. So beschloss ich‘s neulich in Oldenburg, auf dem Sofa meiner Eltern, studierte allerlei Erhebungen (!) im Internet, und heute war es soweit. Premiere. Hamburg, meine Perle! Gibts denn da überhaupt Berge? Aber ja doch! Und die sind gar nicht soo ohne. 

Gestern noch ridikülisierten Hugo, Hella und ich in Köln gemeinsam vor der Fernsehkamera. Pilotendreh für SAT1. Heute morgen enterte ich den Zug nach HH, ersetzte im Zugklo meinen Gehrock durch eine Wanderjoppe, stieg in Harburg aus und legte los. Erstmal Harburg: Das ist ja die angeheiratete Nichte der stolzen Hansestadt, irgendwie grauer, gebückter, mit Mittelscheitel, man kennt, draußen, in der Welt, höchstens die TH, Mohammed Atta und womöglich die Phönix-Werke. Ist natürlich superunfair, dieses bestimmt auch nette Städtchen auf Pneus und Terreur zu reduzieren, aber so ist eben das Leben: Ein mieser Halunke, ganz besonders, wenn’s um den Ruf wehrloser Landstädte geht. Gunter Gabriel hat auch in Harburg gewohnt, fällt mir gerade ein; sein Hausboot lag im Harburger Hafen (und da liegt es noch heute, wenn es nicht gesunken ist). Ich habe mir neulich, beim Schaubuden-Jubiläumsdreh, eine Kaufimmobilie in Wilhelmsburg angeschaut, weil ich Europas größte Flussinsel theoretisch toll finde (in der Praxis kaufte ich nichts) - an Wohnen in Harburg habe ich hingegen noch nie gedacht.

Herrje, jetzt rede ich schon wieder nur von mir, dabei soll’s bei meinen Bundesbergbesteigungen gar nicht um mich gehen, sondern um die Klippen, Kuppen, sanften Hügel, je nach dem. Also. Vom Harburger Bahnhof durch die Unterführung am Phönix-Center vorbei zum alten Friedhof, auf dem u.a. Johann Heinrich Blohm begraben liegt, Wasserbaudirektor und Träger des Guelphen-Ordens, einer der höchsten Orden, die das Königreich Hannover zu vergeben hatte. Auf blauem Reif steht in goldenen Lettern die Devise „NEC ASPERA TERRENT"- Widrigkeiten schrecken nicht. Ohne Blohm, der den Harburger Tidehafen plante, wäre Harburg völlig unbedeutend geblieben, ohne Phoenix, TH, auch ohne Atta, und womöglich hielte der ICE heute in Tostedt oder Buchholz, und nicht in Harburg.

Weiter geht’s zur Bremer Straße, einer auf einem Damm dahinstolzierenden Fernstraße alten Schlags, mit Mietskasernen und Reihenhäusern, schnurgerade Richtung, äh, Bremen. Trübes Wetter, 6 Grad, schwer schlackert der Reiserucksack auf meinem Rücken. An den Schuhen trage ich Lunge-Laufschuhe. Hamburg ist ja so‘ne Laufstadt, mit dem bezaubernden, bedeutenden Marathonlauf, und auch wegen Ulf Lunge, der hier seine eigene Laufschuhmarke kreierte. Schöner Markenname. So wie ein Restaurant „Magen" oder „Friseur Friedrich Flaum". Glück muss man haben, gerade wenn’s um Namen geht. 


Bald endet die Grossstadt, und ich überquere auf schmalem Steg die Autobahn. Früher, als ich noch in HH wohnte, bin ich hier des Öfteren mit‘m Auto lang gefahren. Navis gabs damals nicht; man hatte den Falk-Stadtplan auf dem Beifahrersitz und musste, um sich zu orientieren , rechts ranfahren. Die Jüngeren können sich ja kaum vorstellen, wie störrisch so‘n Falkplan sein konnte. Patentgefaltet, haha. War er einmal auseinander gefaltet, kriegte man (also ich) ihn kaum wieder zusammen. Dauerte eine Stunde Minimum. Verlängerte so‘ne Autofahrt von HH nach HB also um eine Stunde. Ja. So war das. 

Ein paar waldige Linksrechts-Kombinationen, dann bin ich in Vahrendorf, beim Freilichtmuseum am Kiekeberg. Dieser ist mit 127 m die zweithöchste Erhebung des Harburger Hügellandes (die höchste ist der „Lange Stein", 129 m hoch, und beide nehme ich auf meiner Expedition als Dreingabe mit). Jetzt mag der feine Bayer höhöhö skandieren, von wegen „Berge", aber, liebe Bajuwaren, das Terrain wirkt hügeliger als man denken könnt’. Nachgerade zerklüftet, wie in Karl Mays Land der Skipetaren. Feuchter Laubwald auf sandigem Boden, niedersächsischem Boden wohlgemerkt. Wir haben nämlich Hamburg verlassen, traversieren ein Stück Nachbarland, und erst der Gipfelsturm spielt sich wieder auf Hamburger Gebiet ab. 12 km misst die Wanderung vom Harburger Bahnhof bis zum höchsten Punkt der Hansestadt; wer es mir nachtun will, denke an eine Trinkflasche und Verpflegung, etwa ein hartgekochtes Ei. Letzteres habe ich heute nicht dabei, der Mittag naht nicht nur, er ist fast durchschritten; mein Magen knurrt, der Waldboden ist satt und sumpfig.

Immerwieder lenkt mich mein Navi auf Reitwege. Hier, in den „Schwarzen Bergen" wird viel geritten, eben wie bei Karl May, nur eben auf Niedersachsenrössern. Kurzes Lauschen - nein, da sind keine Indianer, auch keine Cowboys; ich bin alleine hier, in dieser durchnässten Wildnis vor der großen Stadt. Mit „Tor zur Welt" ist ja immer die weite Welt gemeint, also Shanghai, New York, Manila, nicht jedoch Kiekeberg & Co. Am Durchschnittsdienstag um die Mittagszeit ist die Menschendichte jener im Karakorum ähnlich. Niemand stört, und niemand hülfe, wenn ich am Gipfelanstieg umknicken sollte. Darum gebe ich fein acht, als ich - es ist im Verlauf der letzten halben Stunde immer stiller geworden - zum großen Sprung ansetze. 



Auf dem unteren Bild sieht man, welches das Hauptproblem bei dieser Bergtour ist: Waldarbeiten, Tauwetter und Regen haben den Weg nicht eben leichter passierbar gemacht. Wenn ich denn dem geneigten Wandervogel einen speziellen Tipp für diese Wanderung geben müsste: Gummistiefel können nicht schaden. Aber: NEC ASPERA TERRENT. Das ist Blohms und meine Devise. Also aufauf, matschimatschi, der Burg ruft wie ein Koberer von der Reeperbahn. „Kommse rauf, könnse runterkucken"

Nach scharfer Rechtskurve erkenne ich bereits den Gipfelaufbau des Hasselbracks, der stolze 116 Meter misst. Ein Prachtkerl, der. Hamburg, deiner Berge Perle. 


Das mit dem Stolz meine ich gar nicht ironisch; Größe ist nicht entscheidend, schon gar nicht bei Bergen. Für mich als Oldenburger sind 100 Meter schwindelerregend. Sowas hohes gibt es zwischen Bremen und Amsterdam nirgends. Das erhabene Gipfelgefühl durchdringt mich hier jedenfalls nicht weniger als in den Alpen. Doch nicht nur erhaben sind Moment und Ort, sondern das Wagner-Idyll ist: gebrochen. 

Mund und Braue stehen schräg, als ich den graffitisierten Gipfelstein betrachte. Hand vom Zwerg beschmieren Tisch und Berg, wie man so schön sagt. Asi wie die HSV-Fans, deren Feuerwerk ich neulich beim Derby im Bremer Weser-Stadion beiwohnen durfte. Ein besprühtes Gipfelkreuz habe ich in Bayern noch nie gesehen. Aber lassen wir das. Ich will nicht unken, sondern lernen. 


Nachdem ich die Hochebene am Gipfel ausgiebig fotografiert habe, laufe ich nordwärts, Richtung S-Bahn, und durchquere noch ein landschaftliches Schmankerl, die Heide am Falkenberg. Vorne das karge Kraut, hinten die Wohnblocks von Neugraben: das ist ganz nach meinem in den 80ern geprägten Geschmack. 

Damals trug man schwarz, hörte John Zorn und stand auf jene Ästhetik, welche die Musikzeitung „Spex" mal hellsichtig mit „Wave-Schlampe vor Industriegebiet" umriss. Hier, in der saaleeiszeitlichen Endmoräne, hätte man Anne-Clark-Cover shooten können. Sleeper in Metropolis. Ja. 

Fazit: Harburg ist mehr als man meint. Mag Hamburg das Tor zur Welt sein, so befindet sich hier, in den Harburger Bergen, das dazugehörige Tor zum Himmel. Ob man hier wohnen sollte? Könnte? Dürfte? Reizvoller Gedanke! 

Nach knappen 19 km Weglänge mit 300 Höhenmetern insgesamt beende ich meine Expedition am S-Bahnhof Neuwiedenthal. Ab ins Hotel; die Sauna ist schon vorgeheizt. 


P.S. : Auf Facebook kommentierte Thomas Sommerszeit diesen Text folgendermaßen : 

„Harburg, die "angeheiratete Nichte der stolzen Hansestadt" ?- war wohl eher eine Zwangsheirat, mit der der Altherrenclub der Nazibonzen die Schöne aus dem Süden an den gierigen ausufernden Kaufmann an der Alster verschachert hatten. Und wie schlecht es der Schönen in der Folgezeit gegangen ist, wie mies sie seitdem behandelt wurde, wie schlecht ihr die Entmündigung bekam, dass kann man heute nur zu gut erkennen."

...und als ich Thomas Sommerszeit fragte, ob ich seinen Kommentar in meinem Blog zitieren dürfe, antwortete er: 

„Na klar! Nebenbei: Harburg muss einst von unglaublicher Schönheit gewesen sein. Eine wirkliche kleine Perle an der Elbe. Selbst die alte Industriearchitektur spricht einen heute noch an - Die rote Backsteinfassade mit Wildem Wein der Phönix beispielsweise. Und das alte Rathaus, klein, fast familiär, dennoch ein winziges Schmuckstück, das neue Rathaus und die alte Handwerkskammer, klassisch, aber nicht protzig. Und dann die atemberaubende Geologie, wie du bei der Wanderung sicher bemerkt hast. Dieser vielgestaltete Übergang vom moorigen Ursprungstal in die Geesthügel der Endmoränen mit ihren ganzen Landschaftstypen! Stille Heidelandschaft auf den westlichen Plateaus, geheimnissvolle Moore in der Flusslandschaft und die alten lichten Eichenwälder auf den Höhen der Haake. Die Inseln mit Wiesenland um Harburg und die fruchtbare Marsch mit einmaliger Obstlandschaft auf schweren Kleieböden. So, ich höre lieber auf, sonst willst doch noch nach Harburg ziehen um die misbrauchte Schönheit zu retten, wachzuküssen. Geht leider nur im Märchen. ;)"

Montag, 12. März 2018

Oper und O-Beine

„Fahrt ins Blaue" - so nannte mein Papa den Sonntagsausflug im gelben BMW 1802, wenn man mäandernd durch die Landschaft gurkte. So ähnlich machten Teresa und ich es gestern auch, wobei sie nicht BMW fuhr, sondern mich auf pinkem Hollandrad eskortierte, mit öffentlicher Opernbeschallung per Blauzahnbox im Korb. Ja, sie musste einige Arien lernen, für ein Konzert nächsten Freitag. Ich trabte unbejackt nebendrein und studierte die Gesichter der Entgegenkommenden. Abschätziges Kopfschütteln zweimal, ein zarter  Schmunzler einmal, dann war der Akku leer. Ist ja im Smartfon-Zeitalter selten, der Ghettoblaster. Meist vergreist man heutzutage allein, mit Soundstöpseln im Ohr, als Geronticus Eremita. Ghettokids, die gemeinsam Opernarien hören, sind noch seltener, und solche, die dabei joggen, am seltensten. Leere Akkus wiederum sind häufig, nachgerade Kennzeichen unserer Epoche. Vielleicht wird man dereinst vom präelektrischen Zeitalter sprechen, oder auch von der Akkuära. Könnte mir nämlich durchaus vorstellen, dass der Akkumulator gar nicht die endgültige Lösung ist, sondern dass Fahrzeuge, von Ford bis Fahrrad, Fußgänger, Ferbraucher aller Art zukünftig ihren Strom direkt aus der Straße beziehen, per elektromagnetischer Induktion. 

An der Isar entlang ging es nach Unterföhring, dann südwestwärts nach Poing. Finden manche Norddeutsche lustig, diesen Ortsnamen, weil ja Poing, wenn man Norddeutscher ist, an Comicsprache erinnert. Der Bayer spricht natürlich „Po-ing", was wiederum nach einer Sportübung aus dem Bauch-Beine-Po-Kosmos klingt. Also auch nicht 100%ig unlustig. In Poing befindet sich ein Wildpark- Ziel mancher Ins-Blaue-Fahrten in der Kindheit meiner Frau. Irrer Betrieb. Wir bahnten uns unseren Weg durchs Menschendickicht und sahen das Umlauttrio Wölfe, Bären, Lüchse. Dann zurück zum S-Bahnhof Poing, tripptrab. Puh, jetzt, nach 30 km Dauerlauf als Krönung der 94-km-Woche, welche wiederum Krönung des postmauritianischen Zyklus war, laufe ich recht unrund. Oh, Beine, die nunmehrige Erholungswoche habt ihr euch verdient. 


Samstag, 10. März 2018

Der rollende Schnauzbart

Telefonkonferenz auf dem Klapprad. Blöd, dass ich keine Kopfhörer dabei habe, und da ich neuerdings dieses vermaledeite iPhone besitze, dessen Strombuchse gleichzeitig Kopfhörerausgang ist, kann mir auch niemand mit Leihstöpseln helfen, nicht einmal meine Frau. Das bedeutet, dass ich ab neun Uhr einhändig Fahrrad fahre, mit der anderen den Sprechbarren ans Ohr gedrückt. Motorisch bin ich hierzu in der Lage, aber eine Stunde lang? Es geht um die Moderation des Carl-Laemmle-Preises in Laupheim, nächste Woche. Meine charmante Co-Moderatorin ist auf präzise Vorbereitung bedacht, was natürlich gut und wichtig ist, aber mein Arm lahmt. Ich wechsele. Bald lahmt auch der andere. Wieder Arm Nummer eins. Puh. Ich rolle im Schritttempo am Pilsenseeufer entlang, komme vom Wörthsee und will weiter zum Ammer-, dann zum Starnberger See. Vier Seen seh‘n. Und dabei gescheit daherreden.

Bei Strava jibbet bekanntlich „Kudos“ und Trophäen, zB wenn man 100 km am Stück radelt. Lust hätte ich schon. Aber einhändig? Inneres Hadern. Man müsste einen Job haben, bei dem man nie telefonieren muss, sondern immer nur Fahrradfahren. Einen solchen Beruf gibt es durchaus, er heißt: „Radprofi“. Schade, dass mir das Talent fehlt und ich inzwischen 51 Lenze zähle. Aber letzteres sollte man nicht überbewerten; in den kommenden Jahrzehnten wird sich ein neuer Sportlertypus durchsetzen, der Very-Best-Ager, mit eigenen olympischen Spielen, den Oldympics. Da wäre ich gerne dabei. Mein Schnauzer macht mich schon mal deutlich älter. Keine Ahnung, warum ich den trage - wahrscheinlich, weil es mir so viel Spaß macht, ihn mit Wimperntusche einzufärben, hurra. Auf Anfrage sage ich auch, was den Bart betrifft: Ich trüge ihn aus religiösen Gründen - aber das stimmt höchstens halb. Mist, der Arm ist endgültig eingeschlafen. Schnell wechseln, bevor mir das Handy aus der erschlafften Hand fällt. Zu warm angezogen bin ich auch. Skijacke und Wanderstiefel. Im Winter auf dem Klapprad optimal, aber seit dieser Woche ist Frühling. Es winken die Winterlinge, aufgekratzt kondolieren die Kroküsse. Kondolieren, weil ich nicht vorwärts komme. Auf die längliche Konferenz folgen nämlich zwei navigatorische Schlunzenschnitzer, und einmal navigiert mich Komoot in tiefsten Wald mit grundlosem Morast: 


Zum Wandern mag solch ein Weg ja ganz nett sein, aber wenn man auf dem Birdy die 💯voll machen will? Naja. Zunächst gebe ich mich unbeirrt, pflüge mit markigem Kinn gen Seeshaupt, aber etwas später zerbröselt meine Entschlossenheit, und ich steuere den S-Bahnhof in Wolfratshausen an. Immerhin: 75 km einhändig im Skianzug. Die erste ernsthafte Ausfahrt des Jahres. Beim nächsten Radausflug ist die doofe Trophäe fällig, das steht fest. Ich hab’s drauf. Krokuß! 


Montag, 5. März 2018

Großer Zylindertest: Sind Funktionsfasern im Alpinismus tatsächlich unverzichtbar? 

Oder ist ein Schaf, wer denkt, dass Wolle und Maulwurfsfell am Berg nichts taugen? Gestern war ein prima Testtag. Blauer Himmel, 0 Grad in Rottach-Egern am Tegernsee, und meine Gattin bittet um Lesezeit im Panoramarestaurant. Sie fährt also per Bahn voraus. Beziehungsweise: Sie steht ersteinmal an der Talstation der Wallbergbahn Schlange, und zwar eine geschlagene Stunde lang. Ich entledige mich meines Oberhemdes; nur mein Schiesser-Doppelripp-Leibchen bleibt unterm Gehrock (Baujahr 1920). An den Beinen trage ich eine braune Cordhose, darunter ebenfalls Doppelripp. Um den Bereich zwischen Solar Plexus und Kinnspitze zu wärmen, setze ich auf einen Schal aus Schiessmichtot von Mama. Weiß nicht, wie das Gewebe heißt. Ariola? Alabama? Alcantara? Meine Schuhe sind aus Leder, Handschuhe sind heute nicht vonnöten. 

Auf den ersten Metern bergauf alles prima, abgesehen von den etwas zu engen Manchester-Hosenröhren. Der Weg ist zwei Meter breit, wird nach oben hin immer schmaler, der Schnee ist griffig. Parallel zum Weg verläuft die Wallberg-Rodelbahn, eine über sieben Kilometer lange Naturtrasse für Erwachsene, die am heutigen Prachttag bestens besucht wird. Die Geräuschkulisse ähnelt einem Freibad während der Hundstage. Davon abgesehen ist es still; mit jedem Höhenmeter wird die Bergeinsamkeit konturöser. Der erste Teil des Weges verläuft im Schatten, mein Temperaturempfinden registriert den üblichen Übergang von „Neutral“ zu „Rotbäckchen“ und weiter zu „Ofenkommainnerer“. Nach einem Viertelstündchen vermerke ich die erste Manifestation einer Schweißtröpfchenbildung, und zwar am inneren Vorderrand der Zylinderkrempe (naja, äußerlich wäre ja auch sonderbar. Da würde man eher auf Regentropfen tippen). Aufreizend langsam läuft der Tropfen über meine Schläfe. Ganz Detektiv, lüfte ich den Hut und stelle fest: Meine Haare sind nass wie nach einer Ärmelkanaldurchquerung. Oha! Nun kommt der Mama-Schal ins Spiel. Ich wische mein schütteres Haupt trocken und begreife, warum Schal und Zylinder in der europäischen Geschichte so oft gemeinsam getragen wurden: Der Zylinder dient als Wärmesammler, in ihm sammelt sich ein feuchtes Gasgemisch, dass um Entsorgung fleht - im Ottomotor wie auf dem Herrenkopf. Doch während im Motor die Zündkerze das Gasgemisch explodieren lässt, besorgt auf dem Kopf der weiße Schal die Entsättigung. Das Hutlüften zum Gruße könnte also kulturgeschichtlich auch mit dem Kavalierstart verwandt sein: Heute lässt man den Motor aufheulen, früher präsentierte, ja offerierte man durchs Hutheben die körperliche Sammelwärme, Indiz für virile Aktivität, Tatendrang und Fitness.


Eine Lichtung. Welch schöner Tag für einen Textiltest. Weiter. Ein spanischer Tourist bittet um ein Selfi. Fände mich „cool“, behauptet er auf englisch. Das macht der Zylinder, ist klar. Ein anderer (Deutscher) fragt, warum ich den trage. „Aus religiösen Gründen!“ Er nickt ernst, ich eile weiter gipfelwärts. Nun erhöht sich die Tropfenflußgeschwindigkeit, und zudem registriere ich Nässe an Rücken und unter den Achseln. 

An zwei Passagen kontrolliere ich bewusst meine Schritte, ansonsten habe ich nie den Eindruck, mich in Lebensgefahr zu bewegen - was ja bekanntlich auch wieder ein lebensbedrohender Eindruck ist. Ich überhole sie alle: Anorakträger, Polyesterverehrer, Gore-Tex-Mexikaner, auch Skitourengeher lasse ich hinter mir, und zwar mit Genuss. Nach einer guten Stunde erreiche ich die Baumgrenze, ganz ähnlich gekleidet wie die ersten Alpinpioniere, die Erstbesteiger und dekadenten Engländer, hurray. Ich stehe im Spätschnee und freue mich des Lebens. Es gibt ja so viele Arten, sich einen besonderen Tag zu kredenzen. 


Sicher, Teile meiner Kleidung mögen nasser sein als chemisch gestrickte Fasern, aber wer fragt schon nach derlei Kleinigkeiten, wenn er nach knapp 900 Metern solch einen Blick hinab auf den Tegernsee genießt: 


Und also ich an der Bergstation meinen Gehrock zum Trocknen an die Garderobe hänge und mir die von Teresa mitgebrachte Wechselkleidung anlege, muss ich mir nichts schönreden, als ich konstatiere: Funktionskleidung ist enorm überschätzt. So wie Kohlefaser für den Radrahmenbau, Convenience Food, Casting Shows, IPhone X, Flachbildschirme, dieses neue Netzwerk, wie heisst das gleich? „Vero“, genau. Oder früher Minipli. Kann man alles genießen - das Leben lebt sich jedoch auch ohne. Jedenfalls bei gutem Wetter. Und sobald es ordentlich regnet, werden mein Zylinder und ich einen anderen Berg erklimmen - dann folgt Testbericht Nummer 2. 


Sonntag, 4. März 2018

Doppelsieg im Eingehakt-Spazierengehen.


Weltrekordversuch. Start um halb acht in Holzkirchen. Ein blendend heller Tag. Dick liegt der Schnee, zartblö zeigt sich der Himmel, und Dunst lässt am Horizont die Grenze zwischen Flur und Firmament verschwimmen. Ich trage Gehrock und Zylinder, Teresa die merkwürdige Fellkappe, die ich aus Oldenburg mitgebracht habe. Unter anderem, klar. 

Wir haken uns ein, vorschriftsmäßig wie im Lehrbuch für flanierende Paare, und verlassen Holzkirchen über die Thanner Straße, lassen Lochham links liegen und singen das erste Lied aus der „Winterreise“ von Franz Schubert. „Fremd bin ich ausgezogen, fremd ziehe ich wieder ein“. In Oberwarngau verpasse ich, zuständig für die Navigation, einen Abzweig, was die Gesangsstunde enden lässt - Navigieren und Singen, das ist für mich als Mann zuviel Multitasking. Den avisierten Pfad erreichen wir durch einen Privatgarten. Ich erschrecke, wie forsch meine Frau das Gartentor öffnet. Sie ist auch als Hausfriedensbrecherin begabt. Auf weißer Trittspur geht es Richtung Süden, die Luft ist klar, und ich fühle mich immer etwas schneller als meine Gattin, was zu einem gewissen Druckschmerz im Schultergelenk jenes Armes führt, in den sich meine Braut eingehängt hat. Wir wechseln daher regelmäßig die Seite, um Reizungen, Entzündungen oder gar Armabfall zu vermeiden. 

Ein kleines Landsträsschen endet an der Bahnlinie der Bayerischen Oberlandbahn. Laut „Komoot“-App müssen wir nun einem Wanderweg parallel zur Bahnlinie folgen. Der ist allerdings tief eingeschneit, die weiße Pracht entelanisiert unseren Schritt. Weitermachen? Umkehren? Es lockt der Bahndamm - die Gleise sind geräumt, aber Teresa, die eben noch so nonchalant den Garten durchschritt, ängstigt sich, fürchtet, einem heran eilenden Zug nicht rechtzeitig ausweichen zu können. An einem verlassenen Traktor rasten wir und beratschlagen die weitere Wegführung. Ich plädiere für die Bahn und verspreche, sie rechtzeitig zu warnen, per Murmeltierpfiff.


Gespannt in den Wald hineinlauschend trotten wir am Gleiskörper entlang. Ein Fuchs quert in der Ferne, sonst passiert nichts, bis ich nach unendlich erscheinenden acht Minuten ein maschinelles Grollen erahne, woraufhin ich mich mit gellendem Pfiff den Bahndamm hinabstürze, gewandt wie Jackie Chan. Teresa klettert hinterher, ich feuere sie an, es geht immerhin um Leben und Tod. Da nähert sich auch schon der Zug; der Lokführer schaut leicht verdutzt, oder interpretieren wir zu viel in den eher leeren Lokführerblick? 

Wir sammeln uns, klopfen den Schnee aus den Kleidern, lassen unseren Stunt Revue passieren. Dann wird eingehakt, und weiter geht’s nach Schaftlach. Auf einem Schild liest Teresa „Gmund 45 Minuten“ und frohlockt. So nah? Kann doch gar nicht sein. Vielleicht gibts hier zwei Gmunds? 

Wir verlassen den Ort, stapfen an gut besuchten Loipen entlang. Ich betrachte das Treiben ohne Neid. Vorteil am Eingehakt-Spazierengehen ist, dass die Kleidung nicht so durchgeschwitzt wird, nachteilig ist jedoch, wie bereits erwähnt, die Belastung auf den Halteapparat der oberen Extremitäten. „Arm ab“ ist übertrieben, „Arm dran“ nach 15 km jedoch nicht. Als ein bissiger Hofhund uns angeht, zucke ich zusammen, was, eingehakt wie ich bin, fast eine Schulterluxation verursacht. Der blöde Köter trägt auch die Verantwortung dafür, dass ich zum zweiten Mal einen Abzweig übersehe. Verdattert, mit panisch gesträubten Nackenhaaren, ziehe ich meine (hundefreundliche) Frau geradeaus - ins temporäre Verderben. Naja, Verderben ist übertrieben. Zwei Kilometer extra auf stark befahrener Straße. Anschließend erneute Rast, auf Parkbank, mit Loipenblick. Wir essen Oatssnack Riegel, die sich bereits auf den Shetlandinseln bewährt haben, extra starkes Kraftfutter für Einhaksportler. Mittlerweile ist Mittag, die Sonne lacht, aber „Gmund 45 min“? Glatt gelogen, zumal, wenn der Höllenhund einen vom Weg abbellt.

Die nächste Stunde vergeht in Einhak-Trance, ich erinnere mich an wenig, Teresa auch nicht, der Filmriss endet in der Gaststätte „Jennerwein“, schon auf Gmunder Gemeindegebiet. Tolles Wirtshaus, denken wir, stilvoll, rustikal, mit altem Kachelofen, aber dann belehrt und ein ausgelegtes Faltblatt, dass der Laden einem Pfälzer Meisterkoch gehört, der hier seinen Traum eines „bayerischen Wirtshauses“ lebt. Darunter: Beste Kritiken von Ulli Hoeneß, Jupp Heynckes, Fritz Wepper et tutti quanti. Ja, das Tegernseer Tal ist eben doch nur ein Vorort von Hollywood, oder so ähnlich. Blutwurst und Wiener Schnitzel schmecken aber prima (wir essen extra fleischlastig, um die vom Einhakhalbmarathon belasteten Gelenke mit Keratin zu versorgen). 

Zahlen und weiter. Aua. Teresas neue Schuhe scheinen doch nicht gar so gut zu passen, sie humpelt unrund. Da scheint etwas aufgescheuert zu sein. Immerhin schaffen wir es noch nebeneinander bis zum Tegernseeufer, und nach 23 km übergebe ich sie einem Taxifahrer, der sie zum Hotel nach Rottach-Egern fährt (Sohn Leander feiert heute seinen 20. Geburtstag und bat um sturmfreie Bude). Also kein Weltrekord, sondern nur persönliche Bestleistung im Eingehakt-Spazierengehen. Aber die Saison ist ja noch jung. 

Alleine lege ich die die restlichen neun Kilometer am Seeufer zurück, weit ausschreitend, gewiss, einerseits befreit, aber andererseits allein. Mit meiner Frau wandern ist einfach besser. Ankunft am Hotel um fünf, nach knapp 33 km. Tagesfazit: Doppelsieg. 


Freitag, 2. März 2018

Wie sagte meine Oma immer?

„Der März hat sieben Sommertage“. Vorerst wird weiter gefroren, was mir als ehemaligem Shetlandpony besser gefällt als die schlapperte Schwüle auf Mauritius. Ich bin nicht unstolz, dass ich trotz der fürwahr ungewöhnlichen Temperaturen rückstandslos mein Trainingssoll realisiere, nämlich auch diese Woche 80 Lauf- und 80 Rad-Kilometer. Gestern trabte ich 32 kommairgendwas am BND vorbei, dessen Eingang ich ja nur zugerne einmal fotografieren würde - aber ich traue mich nicht, da ja Fotografieren dort verboten ist, und ich seit frühesten Kindheitstagen Verbotsschilder ernster nehme als der Papst die Bergpredigt. Ich bin eben Deutscher durch und durch. Erschwert wurde der gestrige Lauf durch das sofortige Einfrieren des Trinkrucksacks. Zwar blies ich, wie in führenden Foren empfohlen, immer wieder das Restwasser nach Durststillung aus Mundstück und Schlauch zurück in die Gummiblase, aber trotzdem sog ich kurz darauf umsonst, wobei das Schwappgeräusch in der Blase bedeutete, dass das Reservoir keineswegs leer war. Womöglich gefror die Luft. Ja. Tauwillig zog ich mich um, nahm den Trinkrucksack unter meine Jacke, die ich dann jedoch nicht mehr schließen konnte (zu dick). 

Heute fuhr ich die gleiche Strecke mit dem Birdy nach. Fotostopp an der Nussbaum-Ranch (Fotografieren nicht ausdrücklich verboten). Zwar war es deutlich wärmer als gestern, aber immerhin noch so frostig, dass ich gar nicht erst versuchte, mir den Inhalt meiner Trinkflaschen einzuverleiben. Lieber schnell heim und Kaffeesieren. 


Bei Sommersonne wäre ich gewiss bis nach Weilheim geradelt, zurück per Zug, aber damit hätte ich meinen Trainingsplan deutlich übererfüllt. Und ein anderer sehr treffender Satz (nicht von meiner Oma) lautet: So viel trainieren wie nötig, so wenig wie möglich. 

Morgen steht auf dem Plan eine Wanderung mit meiner Gattin, von Holzkirchen bis nach Rottach-Egern am Tegernsee. Gestern besorgten wir ihr neue Wanderschuhe, wobei ja bekanntlich gerade der Ersteinsatz neuer Schuhe größtes Spannungspotenzial beinhaltet. Passen die Pompes (das einzige Wort aus dem Pariser Argot, das ich kenne)? Ich jedenfalls werde im Frack flanieren; im Gehrock sind schon hunderttausende Europäer von Paris bis Moskau getrottet, und (wenn sie Glück hatten) auch zurück. Im dazugehörigen Zylinder sollte auch ein kleines Trinkgefäss Platz finden, dorten vor Frost geschützt. 

Bin gespannt, was wir beim Wandern singen werden. Immer, wenn wir gemeinsam unterwegs sind, lerne ich nämlich neue Lieder. Unvergessen: „Ich bin die Christel von der Post“ auf unserer Alpenüberquerung, gut auch Mozarts „Bona Nox, bist a rechter Ochs“ als Kanon, neulich beim Marsch auf Mauritius‘ höchsten Berg. Zu Winter und Weltlage passte zB etwas aus Schuberts „Winterreise“. On verra.