Sonntag, 29. April 2018

Harzquerung 

51 km im 51. Lebensjahr - das klingt passend. Der Oldschool-DDR-Geländelauf steht schon ewig bei mir auf dem Zettel. Zwei Tage vorher drehe ich noch für „History" an „Deutschland, deine Fußballseele" bei Babelsberg 03 und lasse mich zum fröhlichen Mittrainieren einladen. „Ganz leicht" wird mir versprochen, aber was heißt das schon in der 4. Liga? Ich wetze, grätsche, gebe alles, und so reise ich anschließend einigermaßen mürbe per Bahn nach Wernigerode. Aus München kommt meine Frau per Auto hinzu. Wir flanieren begeistert durch das schmucke Städtchen und holen die Startunterlagen ab. Also: meine Nummer sowie einen rudimentär selbstgebastelten Anhänger für die Gepäcktüte. Keine Werbung, nix Sponsorenquatsch, keine Testtübchen, null West-Kommerz-Klimbim. Dass es das noch gibt! Anschließend: Speicherfüllen. In der Kneipe lernen wir ein kölsches Seniorenpaar kennen, das soeben hierher gezogen ist, weil man „in Köln ja nicht mal mehr mit der S-Bahn fahren kann, von wegen Sicherheit". Wir staunen. Dann lese ich meiner Holden noch ein bisschen aus Heines Harzreise vor, und ab in die Heia.


Am nächsten Morgen mache ich mich lauffein, mit allem Drum und Dran, inklusive Nippelpflaster und Vaseline. Leichtes Frühstück, dann zu Fuß zum Start. Kaiserwetter unter Kastanien. Ich stelle mich für allerlei Selfis zur Verfügung (Immer wieder gut: Jemand fragt einen dritten, ob er ein Selfi von uns machen könne). Start um 8:30. Eine lange Läuferschlange trippelt auf schmalem Pfad bergauf und staut sich sogleich wieder an umgenickten Bäumen. Dies wird ein roter Faden des folgenden Laufgewebes sein: Der umgeknickte Baum, quer überm Weg. Je länger man unterwegs ist, desto ungelenker klettert man drüber. Bzw.: Man? Ich. Wie andere, schnellere Leute mit diesen Hindernissen umgehen, ob sie drüberhopsen oder drunterherkriechen, weiß ich nicht. Bin ja eher im hinteren Drittel unterwegs, als erklärter, eingefleischter, echter Genussläufer. Andere rote Fäden: Wurzelwege, auf denen ich bergauf gehe und bergab besondere Obacht walten lasse, schwarze Schieferschottertrassen, matschige Senken und Wald. Dieser lässt sich einteilen in: Buchig, fichtig, hell und halbhell. Immer wieder begegnet man den kindlichen Schienen der Harzer Schmalspurbahn. Seltener kommt man an Lichtungen vorbei, noch seltener an moorigen Hochebenen, und einmal passiert man sogar einen original Schwermetallrasen - ein ganz besonderes Biotop an ehemaligen Erzabbauplätzen, in dem sich im Grunde nur Galmeipflanzen wohlfühlen, etwa die zinktolerante Galmeilichtnelke. Asphalt ist bei der Harzquerung eine Rarität, über Dörfer darf man sich nur selten freuen. Hier im Harz gibt es ihn noch: Den unverdünnten, dichten Tann, den Märchenwald, wo sich Echse und Hexe gute Nacht sagen. 

Nach einer halben Stunde ist die Läuferschlange zu pointillistisch in die Landschaft geworfenen Läufertupfern geworden.  Ich horche in meine nicht mehr ganz junge Orthopädie hinein. Rechter Knöchel spürbar aber schmerzfrei, dezenter Muskelkater in den Haxen und Armen vom Kicken & Koffertragen. Also nahezu optimale Bedingungen. Nach 10 km die erste Verpflegung. Gefällt mir auch: Kein Mensch muss nach 5 km trinken. 10 reicht. Danach erst wieder nach 20 und nach 30, und anschließend wird die Frequenz erhöht. So ist‘s schlau. Wer mehr trinken will, findet unterwegs sowieso allenthalben Bäche zum Ausschlürfen. Oder nimmt einen Trinkrucksack mit, wie das Gros der Läufer. 

Unterwegs passiert man auch immer wieder Wanderer, mitunter halbwinterlich gekleidet, mit Startnummer. Die „Harzquerung" ist nämlich ausdrücklich auch als Wanderung ausgeschrieben, Start in diesem Fall ab 5 Uhr. Zwischendurch denke ich: Was für ein Unsinn, dass man eine solch verwunschene Gegend nicht alleine durchquert, nur begleitet von den zwitschernden Vögeln und den rauschenden Wassern, aber es gelingt mir, diesen defätistischen Gedanken rechtzeitig beiseite zu wischen. Es lebe der Sport, und auch die Geselligkeit hat ja gewisse Vorzüge. Ich plaudere mit netten Leuten. Eine junge IT-Fachkraft, voll im Futter. Lief im November durch irgendeine Wüste, und das Wetter war wohl ähnlich wie hier. Dann der agile Veteran, dessen linker Knöchel ebenso muckt wie mein rechter, darum lässt er’s nicht mehr gar so krachen wie früher und beschränkt sich auf 30-40 Marathonläufe pro Jahr. Armer Kerl, was macht er jetzt mit der vielen freien Zeit? Bergab laufen sie mir davon, aber bergauf hole ich sie wieder ein, und an den Verpflegungsstationen herrscht fast so etwas ähnliches wie Partystimmung.


Der Höhepunkt des Weges ist denn auch der höchste Punkt, nämlich der Gipfel des Poppenberges, nach ca. 40 km Wegstrecke. Neben den Tapetentischen des Lukullus lockt ein Aussichtsturm. Hm. Durch eine Besteigung wird die Strecke zwar nicht eben kürzer, aber wenn ich schon mal da bin, lasse ich mich nicht lumpen und ersteige die paar Treppen zur Plattform. Was für ein großartiges Panorama! Vom Brocken bis nach Wladiwostok reicht die Sicht, und beseelt bannen wir, also ich und ein paar weitere Umweglustige, das Glück des Moments im Bild. 


Im Süden erspähen wir auch Nordhausen, das Ziel unserer Bemühungen. Ab hier geht es nur noch bergab, gebe ich den Mutmacher, und freue mich auf die letzte Etappe. Mein Knöchel jedoch freut sich weniger. Er mault. Kaum noch hebe ich den rechten Fuß, und ein schlurfendes Geräusch verrät auch meinen Mitläufern, dass da was nicht stimmt. Besorgt fragen sie nach. Ach was; das sei nur die Neigung des Weges, behaupte ich und beiße die Zehen zusammen. „Genussläufer“ - dass ich nicht lache. Ehe es wirklich heikel wird, neigt sich auch schon der Weg seinem Ende entgegen, wenngleich keineswegs beständig bergab. Nein, bis kurz vor Schluss geht es rauf und runter, was mir durchaus gefällt, denn so kann ich ohne schlechtes Gewissen immer wieder vom Trab in den Spazierschritt wechseln. 


Und dann laufe ich auch schon ins Nordhäuser Stadion ein, zum endgültigen Sachsen-Anhalt (das ist die Sorte Witz, über die ich bei km 50 lachen kann), nach knappen 1400 Höhenmetern und 6 Stunden, 3 Minuten, direkt in die Arme meiner Frau. Ich lasse mir einen grafisch erstklassigen Aufnäher als Finisher-Trophäe in die Hand drücken, dann drücke ich wiederum meinen neuen Laufbekanntschaften die Hände und lasse mich von meiner Gattin ins bereitstehende Auto wuchten. Ab nach Hause! 


Frage: Wenn man mit 1 bei passender Förderung einen Kilometer schafft und mit 51 51 - was bedeutet das für meine Zukunft? 

Dienstag, 24. April 2018

Auf Berlins höchsten Berg

Die Reise beginnt in Mitte, am Oranienburger Tor. Recht kompliziert mutet an, was mir die BVG-App empfiehlt, und ich Provinzpossler scheitere zunächst am Ausfindigmachen des passenden Bahnsteigs für die Metrotram 1 zur Schillerstrasse. Zerstreut irre ich Döspaddel zwischen Dönerbuden und Dussmann herum, ehe ich im Tritt bin und ablege. Nach Dreiviertel Stunden Nordfahrt verpasse ich glatt den korrekten Ausstieg und bemerke dies erst an einer Strassenbahnendhalteschleife. Meine freundliche Frage, wo man denn hier umstiege, quittiert der Fahrer mit einem landesüblich geknarzten „Hier jibtet keene Busse". Auf eigene Faust marschiere ich also rückwärts Richtung Pankow, die Straßenbahnschienen entlang, bis zur Haltestelle des Busses 107. Kurzes Warten und ab an den Stadtrand, vorbei an der Nordendendarena, Heimat des FC Concordia Wilhelmsruh, dessen Fußballmannschaft 1950 in der neugegründete DS-Klasse spielte, so‘ner Art DDR-Zweitliga, und von dort erbarmungslos nach unten durchgereicht wurde, weil es an einem potenten Träger-VEB fehlte. 

An der Haltestelle „Blankenfelde Kirche" weicht die Stadt schläfriger Dörflichkeit. Unwillkürlich gähne ich herzhaft und verlasse den Bus, gemeinsam mit einem multinasal gepiercten, vollschultrig tätowierten Best-Ager sowie einem Doppelgänger des dicken Klaus von Klaus & Klaus, allerdings aufgepeppt mit einer besonders großen Messerspitze Obelix - also mit hautengen Leggings und ketchuppigem Henna-Haar. 

Auf der „Hauptstraße", die als solche nicht unbedingt zu erkennen ist, wandere ich bergwärts. Bald folge ich dem „Graben 33 Blankenfelde", die Spannung steigt, und nach weiter Linkskurve zeigt sich in der Ferne mein Ziel: Ein breiter Buckel, ein Ayers Rock in Frühlingsgrün. Aprilfrische. Grüner wird’s nicht. Eine lange Schottergerade führt mich an den Fuß des Berliner Bergmassivs Nr. 1, das Häubchen der Hauptstadt, den K2 der Kapitale. Oder ist‘s nicht eher der Kilimanscharo, an den man denkt? Dessen Gletscher wird seit Jahren immer kleiner, und auch die Arkenberge präsentieren sich heute schneefrei. Keine Lawinengefahr. 

Erschwert wird die Besteigung nicht durch die Launen der Natur, sondern durch einen Zaun, der das gesamte Gelände umschließt. Ob man Alpinisten wie mich vor der Gefahr schützen will? Sind die Arkenberge kontaminiert? Kurz zur Geschichte: Eigentlich bezeichnet der Name einen natürlichen Höhenzug mit bis zu 70 Metern Höhe, die aber im Laufe des 20. Jahrhunderts sukzessive abgebaggert wurden, bis der Bau des Berliner Außenbahnrings dem Minigebirge endgültig den Gar aus machte. Ab 1984 wurde westlich des Ex-Gebirges eine Bauschutt-Deponie eingerichtet, die im Jahr 2015 die 122-Meter-Marke überragte und somit den Teufelsberg als bis dahin höchsten Punkt Berlins entthronte. 

Auch der Teufelsberg ist ein Schutthügel, und man kann natürlich die Frage aufwerfen, ob Menschenwerk überhaupt qualifiziert ist, wenn‘s um den Titel „höchster Berg von Schießmichtot" geht. Als höchste künstliche Erhebung der Welt gilt, dies nur zur Einordnung, die Sophienhöhe in der Nähe von Jülich, eine derzeit etwa 290 Meter hohe Abraumhalde des Braunkohletagebaus Hambach. 

Die höchste natürliche Erhebung Berlins ist jedenfalls der große Müggelberg, 114,7 m hoch. Kann ich ja bei Gelegenheit nachschieben.


Die Komoot-Navigations-App führt mich zur Schlüsselstelle meiner Unternehmung, einer Ausbeulung im Zaun; ich klettere hinüber, balanciere über einen Wall aus Ästen, springe über einen Graben und halte inne. Wie illegal ist, was ich hier tue? Stehe ich mit einem Bein im Gefängnis, gar im Grab? Blicke links und rechts. Die Luft ist rein. Jetzt nichts wie rauf. Eine ausgewaschene Mountainbike-Spur führt mich mit 23 % Steigung den baumlosen Hang hinauf. Sogleich ändert sich meine Seelenlage: Es klingt verrückt, aber augenblicklich wähne ich mich im Hochgebirge, atme freier, fühle mich dem Himmel näher. Der Blick weitet sich, und mit ihm mein Herz. Ich gehe extra langsam, um den kurzen Gipfelsturm maximal auszukosten. Mein Motto: Wandere immer so, als gingest Du zum allerletzten Mal. Aber auch im Schneckentempo ist der höchste Punkt nach wenigen Minuten erreicht. Eine weite Hochebene, in deren Mitte ein Findling ruht. Kein Kreuz, na klar, wir sind im gottlosen Berlin. Im Norden eine Datschenkolonie, im Süden Fernsehturm und Co, im Osten die Blankenfelder Seenplatte. 


Farbige Steinquader fesseln meine Aufmerksamkeit. Das könnten Sie sein, die legendären Ur-Legosteine, nach deren Vorbild das beliebte Spielzeug geformt ist. Ihr Ursprung ist Dänemark; prähistorische Wikinger haben die Steine mit Runen verziert. Während der letzten Eiszeit wird der skandinavische Gletscher die Eratiker nach Pankow geschoben haben; aber wie gelangten sie auf die künstlichen Arkenberge? Oder gehören sie zum hier deponierten Bauschutt? Noch ehe ich dieses geologische Rätsel lösen kann, zwingt mich Proviantmangel zum Abstieg. Es ist 11:03, und mein Magen knurrt. Kein essbares Tier, keine Pflanze bietet sich dem Forschungsreisenden in dieser kargen Wildnis. Also huschhusch westwärts, ins Tal, ans Tegeler Fließ, den Grenzfluss zum Land Brandenburg. Unten ein neues Problem: Der Zaun zur Datschenkolonie ist intakt und auf einer Breite von Hunderten Metern unüberwindbar. Ehe ich einen Fluchttunnel graben kann, werde ich von jenseits des Zauns durch ein Eingeborenenpaar erspäht, beide gekleidet in Ballonseide, einen Schäferhund an der Drosselkette. „Dit is Privatjelände!" herrscht der Mann mich an, und seine Frau droht mit dem Dududu-Finger. Sekunden später erkennen Sie in mir die Fernsehfachkraft, und der Blockwartblick weicht herzensgoldigem Lächeln. Ich erkläre, dass ich die Gipfel der deutschen Bundesländer sammeln würde, und dass mich kein Zaun von diesem Vorhaben abbringen könne. Wozu denn der Zaun überhaupt gut sei? frage ich. „Dit soll vielleicht ma‘n Freiluftkino wer‘n", erklärt der Hundehalter, „aba es fehlt een Investor. Jetz such‘n se 10 Millionen. Wir woh‘n hier und wollen dit aba nich. Denn komm‘ se alle her und machen Rambazamba. Am schlimmsten sind die Drohnenfliejer. Furchtbar, dit Jeknatter, und denn spucken se uns von oben in die Soljanka.  Früher war‘n dit Gartenjrundstücke, und wir ham 400 Pacht pro Jahr bezahlt, jetze ham wa Hausnummern un zahlen 90 pro Monat. Janz schön teuer, wa? Wenn wa so viel Geld zahlen müssen, wollnwa wenigstens unsere Ruhe haben!" Die Frau fragt noch, ob ich tatsächlich ganz bis zum Gipfel gelaufen sei, das sei doch sicher sehr anstrengend. Ich bejahe mit leichtem Schmunzeln, und sie blickt ungläubig. 50 Höhenmeter, naja. Durchaus machbar, auch für diese baffe Dame. Dann verspreche ich, nichts kaputtzumachen, verabschiede mich und umwandere die Arkenberge, um das Gelände durch die bereits erprobte Zaunfurt wieder zu verlassen. 

Als ich mit Kollege Bernhard Hoëcker am nächsten Tag auf der Autobahn Richtung Hamburg die Arkenberge passiere, grüble ich, wie ich sie als Investor gestalten würde. Freiluftkino? Papperlapapp. „Arkadien - Europas kleinstes Hochgebirge" male ich mir aus, mit Almbetrieb, Murmeltierbestand und Steinadler - immerhin Preußens Wappentier. Einmal pro Woche Heimatabend mit der autochthonen Bevölkerung, den Berglinern. Ballonseide statt Lederhose, Schwof statt Schuhplattler. Aber erstmal müsste der Zaun weg. Berg heil!