51 km im 51. Lebensjahr - das klingt passend. Der Oldschool-DDR-Geländelauf steht schon ewig bei mir auf dem Zettel. Zwei Tage vorher drehe ich noch für „History" an „Deutschland, deine Fußballseele" bei Babelsberg 03 und lasse mich zum fröhlichen Mittrainieren einladen. „Ganz leicht" wird mir versprochen, aber was heißt das schon in der 4. Liga? Ich wetze, grätsche, gebe alles, und so reise ich anschließend einigermaßen mürbe per Bahn nach Wernigerode. Aus München kommt meine Frau per Auto hinzu. Wir flanieren begeistert durch das schmucke Städtchen und holen die Startunterlagen ab. Also: meine Nummer sowie einen rudimentär selbstgebastelten Anhänger für die Gepäcktüte. Keine Werbung, nix Sponsorenquatsch, keine Testtübchen, null West-Kommerz-Klimbim. Dass es das noch gibt! Anschließend: Speicherfüllen. In der Kneipe lernen wir ein kölsches Seniorenpaar kennen, das soeben hierher gezogen ist, weil man „in Köln ja nicht mal mehr mit der S-Bahn fahren kann, von wegen Sicherheit". Wir staunen. Dann lese ich meiner Holden noch ein bisschen aus Heines Harzreise vor, und ab in die Heia.
Am nächsten Morgen mache ich mich lauffein, mit allem Drum und Dran, inklusive Nippelpflaster und Vaseline. Leichtes Frühstück, dann zu Fuß zum Start. Kaiserwetter unter Kastanien. Ich stelle mich für allerlei Selfis zur Verfügung (Immer wieder gut: Jemand fragt einen dritten, ob er ein Selfi von uns machen könne). Start um 8:30. Eine lange Läuferschlange trippelt auf schmalem Pfad bergauf und staut sich sogleich wieder an umgenickten Bäumen. Dies wird ein roter Faden des folgenden Laufgewebes sein: Der umgeknickte Baum, quer überm Weg. Je länger man unterwegs ist, desto ungelenker klettert man drüber. Bzw.: Man? Ich. Wie andere, schnellere Leute mit diesen Hindernissen umgehen, ob sie drüberhopsen oder drunterherkriechen, weiß ich nicht. Bin ja eher im hinteren Drittel unterwegs, als erklärter, eingefleischter, echter Genussläufer. Andere rote Fäden: Wurzelwege, auf denen ich bergauf gehe und bergab besondere Obacht walten lasse, schwarze Schieferschottertrassen, matschige Senken und Wald. Dieser lässt sich einteilen in: Buchig, fichtig, hell und halbhell. Immer wieder begegnet man den kindlichen Schienen der Harzer Schmalspurbahn. Seltener kommt man an Lichtungen vorbei, noch seltener an moorigen Hochebenen, und einmal passiert man sogar einen original Schwermetallrasen - ein ganz besonderes Biotop an ehemaligen Erzabbauplätzen, in dem sich im Grunde nur Galmeipflanzen wohlfühlen, etwa die zinktolerante Galmeilichtnelke. Asphalt ist bei der Harzquerung eine Rarität, über Dörfer darf man sich nur selten freuen. Hier im Harz gibt es ihn noch: Den unverdünnten, dichten Tann, den Märchenwald, wo sich Echse und Hexe gute Nacht sagen.
Nach einer halben Stunde ist die Läuferschlange zu pointillistisch in die Landschaft geworfenen Läufertupfern geworden. Ich horche in meine nicht mehr ganz junge Orthopädie hinein. Rechter Knöchel spürbar aber schmerzfrei, dezenter Muskelkater in den Haxen und Armen vom Kicken & Koffertragen. Also nahezu optimale Bedingungen. Nach 10 km die erste Verpflegung. Gefällt mir auch: Kein Mensch muss nach 5 km trinken. 10 reicht. Danach erst wieder nach 20 und nach 30, und anschließend wird die Frequenz erhöht. So ist‘s schlau. Wer mehr trinken will, findet unterwegs sowieso allenthalben Bäche zum Ausschlürfen. Oder nimmt einen Trinkrucksack mit, wie das Gros der Läufer.
Unterwegs passiert man auch immer wieder Wanderer, mitunter halbwinterlich gekleidet, mit Startnummer. Die „Harzquerung" ist nämlich ausdrücklich auch als Wanderung ausgeschrieben, Start in diesem Fall ab 5 Uhr. Zwischendurch denke ich: Was für ein Unsinn, dass man eine solch verwunschene Gegend nicht alleine durchquert, nur begleitet von den zwitschernden Vögeln und den rauschenden Wassern, aber es gelingt mir, diesen defätistischen Gedanken rechtzeitig beiseite zu wischen. Es lebe der Sport, und auch die Geselligkeit hat ja gewisse Vorzüge. Ich plaudere mit netten Leuten. Eine junge IT-Fachkraft, voll im Futter. Lief im November durch irgendeine Wüste, und das Wetter war wohl ähnlich wie hier. Dann der agile Veteran, dessen linker Knöchel ebenso muckt wie mein rechter, darum lässt er’s nicht mehr gar so krachen wie früher und beschränkt sich auf 30-40 Marathonläufe pro Jahr. Armer Kerl, was macht er jetzt mit der vielen freien Zeit? Bergab laufen sie mir davon, aber bergauf hole ich sie wieder ein, und an den Verpflegungsstationen herrscht fast so etwas ähnliches wie Partystimmung.
Der Höhepunkt des Weges ist denn auch der höchste Punkt, nämlich der Gipfel des Poppenberges, nach ca. 40 km Wegstrecke. Neben den Tapetentischen des Lukullus lockt ein Aussichtsturm. Hm. Durch eine Besteigung wird die Strecke zwar nicht eben kürzer, aber wenn ich schon mal da bin, lasse ich mich nicht lumpen und ersteige die paar Treppen zur Plattform. Was für ein großartiges Panorama! Vom Brocken bis nach Wladiwostok reicht die Sicht, und beseelt bannen wir, also ich und ein paar weitere Umweglustige, das Glück des Moments im Bild.
Im Süden erspähen wir auch Nordhausen, das Ziel unserer Bemühungen. Ab hier geht es nur noch bergab, gebe ich den Mutmacher, und freue mich auf die letzte Etappe. Mein Knöchel jedoch freut sich weniger. Er mault. Kaum noch hebe ich den rechten Fuß, und ein schlurfendes Geräusch verrät auch meinen Mitläufern, dass da was nicht stimmt. Besorgt fragen sie nach. Ach was; das sei nur die Neigung des Weges, behaupte ich und beiße die Zehen zusammen. „Genussläufer“ - dass ich nicht lache. Ehe es wirklich heikel wird, neigt sich auch schon der Weg seinem Ende entgegen, wenngleich keineswegs beständig bergab. Nein, bis kurz vor Schluss geht es rauf und runter, was mir durchaus gefällt, denn so kann ich ohne schlechtes Gewissen immer wieder vom Trab in den Spazierschritt wechseln.
Und dann laufe ich auch schon ins Nordhäuser Stadion ein, zum endgültigen Sachsen-Anhalt (das ist die Sorte Witz, über die ich bei km 50 lachen kann), nach knappen 1400 Höhenmetern und 6 Stunden, 3 Minuten, direkt in die Arme meiner Frau. Ich lasse mir einen grafisch erstklassigen Aufnäher als Finisher-Trophäe in die Hand drücken, dann drücke ich wiederum meinen neuen Laufbekanntschaften die Hände und lasse mich von meiner Gattin ins bereitstehende Auto wuchten. Ab nach Hause!
Frage: Wenn man mit 1 bei passender Förderung einen Kilometer schafft und mit 51 51 - was bedeutet das für meine Zukunft?