Mittwoch, 31. Juli 2019

Ein Tag im Leben von...



Ein typischer „Genial Daneben - das Quiz"-Produktionstag: Ich erwache im Appartment 024 im Hotel Savoy. Es ist 6:30. Kurzes Studium der sozialen Netzwerke, des Guardians und der Süddeutschen Zeitungs-App. Dusche, runter in den Frühstücksraum. Eine Schale Birchermüesli, ein Lachsbrötchen mit viel Meerrettich. Dann wieder ins Appartement, eine Kanne Rauchtee kochen. Auf dem Balkon lesen („Apollo 11" von James Donovan). Mit dem Tretroller nordwärts am Rhein entlang, je nach Lust zwischen 15 und 34 km Arbeitsweg nach Ossendorf. Weintrauben und Wasser in der Garderobe. 13:45 Mittagessen. Nickerchen. Am Kleiderständer hängen 3 Hemden mit Nummerierung. Maske. Armin macht die Haare schön (jeden 2ten Tag). Nickerchen. 16 Uhr erste Show. Gemeinsame Liftfahrt. „Melde mich zum Dienst!" Ich komme rein, drücke Balder die Hand und sage „Morgen Abend!" Hinsetzen. Illustrieren von „ZDF-Applaus mit Sat1-Gesicht" (Drehstuhlzirkulation). Teaser, Show. Auf Vorspannbeginn lauter Schrei, dann wechselnde Sitztanzfiguren. Noch im Abspann abkabeln, raus. Nochmal warm essen. Nickerchen. 18 Uhr zweite Show. 20 Uhr die dritte. Rauf, umziehen, kurzer Weg zum Hotel rollern (8,1 km). 22 Uhr Ankunft. Daheim anrufen, ab ins Bett.

Exotisches Lebensgefühl: Irgendwas zwischen Industriearbeiter und Kosmonaut auf dem Planeten Ossendorf (Langzeitmission). Kommandant ist HE Balder, Hella v Sinnen gibt Wally Schirra auf Apollo 7. Heute ist letzter Produktionstag des Sommerblocks 2019. Auf der Party werde ich eine kleine Rede halten, meine lieben Freunde preisen, mit denen ich bereits so viele schöne Erlebnisse teile, viele hundert Sendungen gemeinsam bestritt. RTL Samstag Nacht. TV-Quartett. Hitgiganten. Der Klügere kippt nach. 

Ein Keller voller Vauhaessen. 

Durch Dick und Dünn.

Unzählige Umrundungen des Fernsehorbits.

Ihr seid die Besten.

Danke!


Zum Beleg ein Fund von 2001: 

tv quartett

Dienstag, 30. Juli 2019

Gastkommentar für „Die Welt"




Zu meinen bedeutendsten Leseerlebnissen gehören die Lebensbilder Englischer Exzentriker von Edith Sitwell. Besonders genoss ich die Biografie Lord Rokebys, eines Landadeligen des 18. Jahrhunderts. Rokeby war begeisterter Dauerschwimmer, der immer größere Teile seines Lebens im Wasser verbrachte. Er ließ sich einen bis zu den Kniekehlen reichenden Bart wachsen und durchweichte diesen täglich in seinem privaten Hallenbad. Sein Lieblingselement verließ Rokeby, diese „menschliche Amphibie", laut Sitwell ausschließlich, um seinen Freunden enorm langatmige Gedichte vorzutragen. 
Nicht nur weckte diese Lektüre mein Interesse am Langstreckenschwimmen, nein, sie entfachte auch meine Bewunderung einerseits für die englische Spezialität, bei Bedarf aus dem eigenen Leben ein Kunstwerk zu formen, und andererseits für die Bereitschaft der Mitmenschen, auch solchen Unika zu applaudieren, die jenseits des Ärmelkanals womöglich pathologisiert worden wären. 
Die Sehnsucht nach dem spezifisch englischen Mix aus Toleranz, Humor und Understatement hat auch mein politisches Denken geprägt: Ich verschrieb mich dem Liberalismus, dem ich bis heute verbunden bin. 
Natürlich hat auch Boris Johnson Edith Sitwell studiert: Die von ihr porträtierten Charaktere werden ihn womöglich zu eigenen Marotten inspiriert haben, etwa zu seinem jüngsten öffentlich gewordenen Hobby, dem Doppeldeckerbus-Modellbau. Seine verschwurbelten Ausflüge in die Altphilologie, kombiniert mit überraschenden Punchlines und der selbstbewussten Attitüde des Kammverächters, ließen mich sogleich frohlocken: Da war ein echter Solitär am Werke, keiner von diesen glattgebügelten Karrieristen. 
Vollends verfiel ich seinem Charme, als er das Fahrrad zum Symbol seiner Tätigkeit als Londoner Bürgermeister erklärte. Da ich selber kein Auto besitze und praktisch alle einigermaßen radelbaren Wege pedalierend zurücklege, meinte ich endgültig einen Bruder im Geiste gefunden zu haben. Ja, ich wurde sein Fan und schwärmte jedem von ihm vor, der nicht bei drei auf‘m Baum saß.
Umso irritierter war ich, als er die Brexit-Kampagne anführte. Was war da passiert? War ihm sein Fahrradhelm samt Pony vor die Klimperklüsen gerutscht? Jedenfalls radelte er plötzlich, so mutmaßte ich, unbeleuchtet auf der falschen Straßenseite. „Obacht, Boris!" wollte ich ihm zurufen, aber dann kam auch schon das Referendum und überfuhr ihn, mich, uns alle. 
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle einflechten, dass ich neben Liberalismus und Fahrradfahren noch eine weitere Leidenschaft pflege: Ich bin begeisterter Anhänger der Europäischen Integration. Den Gedanken, dass die Briten, angeführt von meinem persönlichen Bruder im Geiste, mehrheitlich den Brexit wollten, fand ich äußerst unangenehm, aber ich sagte mir: Wenn irgendjemand in der Lage sein sollte, eine derartig unsinnige Entscheidung zu einem Erfolg zu machen, dann am ehesten die tollkühnen Briten - etwa, mit einem kollektiven Blut-Schweiß-Tränenprogramm, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. 
Seit letzter Woche ist Boris Johnson nun Premierminister. Bei seinen bisherigen Auftritten waren seine Haare artig gekämmt und die subanarchischen Pointen durch pathetische Beschwörungen britischer Grandezza ersetzt. Neben der EU ist die defätistische „negativity" sein Hauptgegner, ein konvulsiver Optimismus sein Rezept für den Weg in ein güldenes Zeitalter. Aus dem rebellischen Nonkonformisten ist ein banaler nationalistischer Laberkopf geworden, der seinen Landsleuten das Blaue vom Himmel verspricht und in mantrischen Beschwörungen Vorfreude auf den „best place on earth" ins Gesicht zwingen will. Kein Witz, kein Understatement. 
Nein, das Staatsmännische steht ihm nicht. Auf mich persönlich wirkte seine Antrittsrede sogar sedierend, überlang wie eines jener Gedichte, die Lord Rokeby seinen Freunden vorzutragen pflegte. Und wie jener scheint Boris Johnson zu schwimmen: ohne Plan, wie es nach einem harten Brexit weitergehen soll. Vorläufig lege ich meine Mitgliedschaft im Bojo-Fanclub auf Eis. Vorläufig, denn: Womöglich sind sein knallharter Kurs, sind seine Salbadereien nur ein raffiniertes Täuschungsmanöver, ein kunstvolles Set-up, und am Ende steht eine befreiende Pointe. Abwarten.

Montag, 29. Juli 2019

Von Kartoffelsäcken und hohen Hacken




Gestern wollte ich eigentlich eine größere Tretrollertour unternehmen, aber bereits nach 60 km Fahrt am Rhein entlang verliess mich die Lust und ich steuerte den Remagener Bahnhof an, um per Zug nach Köln zurückzukehren. Immerhin ist der Grund für meinen Motivationsmangel edel: Weiterhin zehre ich vom Triumphgefühl meines Holzschuhmarathons. 

Das Besondere an dieser Veranstaltung war ja, dass ihr Erfolg im Vorhinein kaum absehbar war, so wenig wie selten zuvor in meiner Sportlerlaufbahn. Reinhold Messner hat ja den Begriff „Grenzgang“ für just diesen Abenteuertypus gewählt, und mit dieser frischen Erfahrung kann ich sagen: Die Freude am Gelingen ist umso grösser, je unvollkommener die Vorbereitung ist. 


In den letzten Tagen gingen mir allerlei Abwandlungen durch den Kopf: Marathon in Pumps, in Gummistiefeln, mit einem Kartoffelsack auf dem Rücken. Besonders die Pumps-Idee reizt mich, und ich diskutierte sie bereits mit unserer Genial-Daneben-Kostümbildnerin. Sie riet zu Plateausohlen. Ich finde hohe, dünne Absätze kleidsamer - zumal ich keine Angst davor habe, lange, sehr lange unterwegs zu sein. Vielleicht sollte ich die Schuhe ausschließlich nach geschmacklichen Erwägungen aussuchen, nicht nach praktischen. Dann jedoch würde ich unweigerlich bei recht hohen Stilettos landen. Den Gedanken, die Zugspitze via Höllental in Pumps zu besteigen, habe ich nach gründlicher Beratung mit Hannes erst unlängst verworfen; sollte ich unterwegs in die Bredouille geraten und einen Rettungseinsatz bewirken, müsste ich diesen wahrscheinlich selber bezahlen. Aber Marathon? Ganz in Ruhe, im Flachland? Könnte machbar sein, wenn die Gefahr des Umknickens mit Spezialtraining und/oder Knöchelschienen in Schach gehalten wird. Oder nicht?


Weiterhin sehe ich mich außerstande, auch nur kurze Strecken in meinen Marathonholzschuhen zu laufen. Schlüpfe ich hinein, verspüre ich sogleich Druck am rechten Spann, einen Druck, der zwar nicht akut schmerzt, aber unangenehme Erinnerungen hervorruft - so unangenehm, dass es mich graust. Macht nichts. Am Donnerstag gedenke ich in den Klompen nach München zu reisen, und dann werden sie auf unsere Hütte verbracht, um mir dort lediglich für die kurzen Gänge zum Plumpsklo parat zu stehen. 

Hüpfball-Marathon - auch so‘ne Idee, die ich beizeiten testen werde. Habe vergessen, wie geeignet die Gummidinger für längere Strecken sind. Wird ausprobiert.


Kein Wunder, dass ich meine frische Holzschuh-Erfahrung in jede entfernt erscheinende Aufgabenstellung einfließen lasse. ZB Brexit: Mag ja sein, dass UK keinen Plan hat und nicht ausreichend vorbereitet ist. So ist das eben auf echten Grenzgängen. Gerade der Sprung ins besonders kalte Wasser kann erfrischen, beleben, ungeahnte Kräfte freisetzen. Kurzum: Es ist nicht völlig, im Sinne von 100%, auszuschließen, dass die Brexiteers ihr Land in eine grandiose Zukunft führen. Aber Rees-Mogg & Co sind auf Stilettos unterwegs, klar. 


Oder die Zukunft des Tourismus, ein Thema, mit dem ich mich viel beschäftige, da ja mein Sohn Cyprian genau dies studiert. Wenn zB Fernflüge wegen Klima nicht mehr möglich sind, braucht es Alternativen. VR-Brillen, Bahn und Radreisen sind natürlich Trumpf, aber vielleicht auch Holzschuhe. Zum Beispiel. Alle Hilfsmittel, die uns (ohne Ressourcenverschwendung) unsere Umgebung, unser Leben neu entdecken helfen. Ich kannte die Strecke von Köln nach Düsseldorf auch vorher bestens - aber seit meinem glorreichen Klappergang werde ich sie als meine persönliche Via Dolorosa für immer im Herzen tragen. 



Sonntag, 21. Juli 2019

Mein erster Holzschuhmarathon



Ich komme in jedem Fall an! Dies deklamiere ich innerlich nachts um halb drei, nachdem ich plötzlich ohne Anlauf hellwach bin. Ich komme an, weil ich ja notfalls die Holzschuhe ausziehen und tragen kann. Tragestrecken gibt es ja auch bei Radrennen, also mitnichten eine Schummelei. Mit diesem Gedanken steht mein Entschluss fest: Ich werde jetzt aufstehen und das Ding durchziehen. „Das Ding" ist der von mir langerträumte, viel begrübelte Holzschuhmarathon. 


Meine formidablen blauen Klompen sind jene Schuhe, die ich am längsten in Gebrauch habe, und ihr Erwerb liegt zu lange zurück, als dass ich mich dran erinnern könnte. Vielleicht zu RTL-Samstag-Nacht-Zeiten, vielleicht etwas später, als ich ins Allgäu zog und die Gartenarbeit robuste Treter erforderte. 


Meine Holzschuhe passen mir prima - jedenfalls im Alltag. Für den sportlichen Einsatz sind sie nur unter gewissen Bedingungen geeignet: Der erste Testlauf, frischfrommfröhlichfrei im gewohnten Trainingstempo von etwas über 6 min pro Kilometer absolviert, endete schon nach einer halben Stunde in einem buchstäblichen Blutbad, dem eine wochenlange Regeneration folgte. Die weiteren Tests absolvierte ich mit stark verlangsamtem Tempo, quasi im Schongang, experimentierte mit verschiedenen Socken/Einlage-Kombinationen und kam der Sache so näher. 


Allerdings: Nach 10 km begann es bei jedem Testlauf irgendwo zu drücken, mal unterseits, mal am Spann, mal aussen oder an den Zehen. Man konnte lediglich Einfluss darauf nehmen, wo der Fuss zuerst schmerzte, und auf Erfahrungen jenseits der 12 km- Marke verzichtete ich in Gänze - vielleicht, weil mich allzu geschundene Füsse demotiviert hätten. Überhaupt beließ ich es bei wenigen Vorbereitungsläufen. Gewisse Vorhaben lassen sich eben nicht vorbereiten, zumal man Holzschuhe - im Gegensatz zum gemeinen Joggingschuh - kaum „einlaufen" kann.





Also raus aus den Federn, einen Kaffee und das Hand, äh, Fusswerkszeug präpariert: In die Treter platziere ich sehr dünne Ledersohlen, unterseits mit Kork beschichtet, und als Socken wähle ich sehr enge Tourenskistrümpfe. Als „Innenschuh" soll ein Wollsockenpaar dienen, das die Spezialstrickerin Heike Zucker angefertigt hat, unterseits mit einem dünnen Latexanstrich rutschfest gemacht. Eine volle Packung Blasenpflaster packe ich in die Jacke, zwei Trinkflaschen ins Radtrikot. Strohhut. Soll ja warm werden. Drei Riegel, ein Apfel. 


Start um 3.30. Auf nach Düsseldorf! Los gehts am Hotel Savoy in Köln, beim Hauptbahnhof. Drehe gerade „Genial Daneben - Das Quiz, und sonntags ist frei. Ich pette nordwärts, passiere junge Feierbiester im Eigelstein-Viertel. Zoo. Amsterdamer Strasse. Ich klappere mich nach Norden. Früher klapperten die Klompen schlimmer, da hätte ich die ganze Nachbarschaft geweckt. Dann ließ ich beim Schuhmacher Sohlen unterkleben, sündhaft teuer, aber wirksam. Gehe ich zu schnell, zu langsam? Ist es evtl. schlau, nicht gar so langsam zu schreiten, um die Füsse dem Wahnsinn nicht allzu lange auszusetzen? Nein, wahrscheinlich kann ich gar nicht langsam genug gehen. Offene Wunden und Stressfrakturen könnten einen Abbruch erzwingen, und beides lässt sich nur vermeiden, wenn ich meine Füsse mit Samthandschuhen anfasse, um das denkbar unpassendste Bild zu bemühen. 





Niehler Hafen, blaue Stunde. Ich genieße den gut sortierten Morgenhimmel und sage mir etwas oberlehrerhaft, dass es auch heute nicht nur um den Sport gehe, sondern auch um die Schönheit der Schöpfung. Gut Holz!





Fordwerke. Merkenich. Die Bäckerei hat noch zu, und so esse ich einen Riegel, trinke Wasser und horche in meine Haxen hinein. Ja, da ist bereits etwas, nach kaum 10 km. Mittig unterm linken Ballen. Rechts auch, oben am Spann, aber das ist „normal", wie ich von meinen Vorbereitungsläufen weiss. Testhalber schlüpfe ich aus den Schuhen und gehe ein paar Meter sockfuss. Oho, das verschafft Abwechslung und fühlt sich angenehm gesund an. Werde ich drauf zurückkommen, später, wenn dem Fuss danach ist. Unter der Leverkusener Autobahnbrücke hindurch laufe ich auf der alten Römerstrasse. Mein Ziel: Möglichst genau vorm Düsseldorfer Hauptbahnhof 42.195 km auf der Uhr haben, den Marathon vollenden, rein in den nächsten Zug und zurück nach Köln. 





14 km sind rum, also ein Drittel. Terra incognita, so weit hab ich’s noch nie gebracht. Oder besser: Lignum Incognitum - unbekanntes Holz. 

Es ist hell, der Weizen reif. Zeit für ein Porträtfoto meiner Klompen. Wer weiß, ob ich das Bein nachher noch zum Posieren hochschwingen will. 


Die Apollo-Mission wagte sich auf den Mond, meine Lignum-Mission führt mich ins Eingemachte. Grundlagenforschung, genau wie bei der NASA, nur, dass meine beiden Raumschiffe bedeutend billiger sind. Von „giant leap for mankind" kann natürlich in meinem Falle keine Rede sein, und meine steps noch kleiner als die Neil Armstrongs. Kann damit zu tun haben, dass meine Klompen nicht maßgeschneidert sind wie die seinigen. 

Aua. Vor allem links scheint sich ein ernsthaftes Problem anzubahnen. Was entsteht da? Eine riesige Blase, vom Zehengrund bis in die Mitte des Fußballens? Die immer deutlicheren Kontakte der breitesten Fußpartie mit dem Holz sind vergleichsweise unwichtig. Seltsam vor allem, dass sich die Blase, oder was immer da entsteht, nur am linken Fuss spürbar ist. Bin ich denn dermaßen asymmetrisch? Bang steige ich aus den Galoschen und laufe noch ein paar Meter sockfuß. Dormagen liegt vor, das Bayerwerk neben mir; ich humpele an die Halbmarathonmarke. Etwas blass registriere ich, dass mir das Sockfußlaufen keineswegs hilft, weil ja das Auftreten ohne Schuh umso weher tut. Nun ja; keiner hat gesagt, dass dies eine Wellness-Wanderung werden würde. Schuhe wieder an und weiter.


Auf dem Rheindamm kurz vor Zons, nach 24 km, mache ich erneut Halt, entkleide mühsam den linken Fuß und will Blasenpflaster aufkleben. Aber wo? Ich kann keinen Schaden erkennen. Überhaupt sieht der Fuss unerwartet gut aus. Kaum Rötungen. Ich klebe ein Pflaster aufs Geratewohl in die Ballenmitte und humpele weiter. Alles wir vorher. Es zieht zu. Was, wenn es regnet und das Wasser in die Schuhe fliesst? Haut und Nägel könnten aufweichen und Schaden nehmen. Bitte nicht.





Um 9 Uhr geht die erste Fähre von Zons nach Urdenbach übern Rhein. Kurzes Warten. Ich bitte einen netten Radsportler aus Köln, mich zu fotografieren. Wo ich denn hinlaufe. „Nach Düsseldorf". „In die verbotene Stadt" schmunzelt er und deutet auf das Kreuzfahrtschiff, das nebenan festgemacht hat und dessen Passagiere gerade in Busse steigen. „Hier sind die Liegekosten viel kleiner als in Köln, darum legen die in Zons an". Interessant: Solange er doziert, tut der Fuß nicht weh. Wohl ein Ablenkungseffekt. Erzähl weiter! 





Am rechten Rheinufer stapfe ich über sandige Trails zur Gaststätte „Rheinterrasse". Da war ich schon mal, vor drei Jahren, auch auf Wanderschaft. Die Chefin bringt mir das Gästebuch und erklärt meine Schuhe für zu klein. Sie jedenfalls trage größere, immer zum Erntedankfest, zwei Tage lang. Sie stecke immer eine Damenbinde zwischen Spann und Oberholz. Aber nach zwei Tagen seien ihre Füße trotzdem kaputt. Ob meine auch schon schmerzten? „Doch, doch..." Apfelkuchen, Cappuccino, Fotosession. Darf ich auch ein Foto? Und weiter geht’s.




Von wegen „Weiter geht‘s!" Wie der Glöckner von Notre Dame wuchte ich mich in die Bonner Strasse, um bald auf den Radweg abzubiegen, der mich laut Beschilderung in 8,6 km zum Hbf führen soll. Verdammt, die Schuhe scheinen immer enger zu werden. Von innen drückt alles gegen die Wände, die allerdings nicht nachgeben. In Punkto Flexibilität gibts fürwahr besseres bei Görtz & Co. Die Stelle unterm Ballen erinnert mittlerweile an einen Pfirsich, auf den man getreten und der darob zermatscht ist. Allerdings befindet sich dieser Pfirsich innen, unter der Haut, und alles sträubt sich gegen Grundberührungen. Zumal sich diese Fuss-Frucht beim Auftritt heiß anfühlt. Kochobst. Die Folge kennt man vom hochsommerlichen Sandstrand: Man versucht unwillkürlich, auf den Fußkanten zu gehen, was die Klompen jedoch nicht mitmachen. Es wird gegangen, wie SIE wollen, nicht wie ich. Schon recht, alles freiwillig. Ich grinse konvulsiv und gebe Zischlaute von mir wie eine rheumageplagte Ringelnatter.



Heute mein typischer Gesichtsausdruck. Die Notre-Dame-Natter beisst die Zähne zusammen und ballt die Fäuste, vor allem links. Entspann dich, Wigald! Lockerlassen und den Schmerz weggrinsen! Klappt nicht. Wie weit ist es denn noch? Knappe fünf. Ich schaue jetzt oft aufs Handy, zähle die Kilometer herunter. Bei km 37 kommt beim Marathon ja gerne mal der Mann mit dem Hammer. Hier ist’s ein Holzhammer. Auf die Füße, Bastonade.

Mein Vater am Telefon: „Au weia! Als Kind trug ich immer Holzschuhe; da waren die Mauken manchmal in grauenhaftem Zustand". Wem sagst du das.





Auf dem Kreisverkehr zu Beginn der Himmelgeister Straße steht ein roter Fuss auf einem Betonsockel, eine Skulptur des Düsseldorfer Künstlers Till Hausmann. Verdeutlicht u.a. den Autofahrern, so lese ich im Internet, dass der Mensch sich auch anders fortbewegen kann als im Blechkokon, eigentlich sogar ganz ohne Schuhe. Heiliger Salamander, schön wär’s, murmele ich und frohlocke dabei ob des nahen Hauptbahnhofs. 




Noch ein paar irre Blicke, linkisches Hinken über die Düssel, dann stehe ich mit mattem Wohlgefühl auf der Gustav-Adolf-Straße. Geschafft. 43 km in 9:03:49 Stunden. War schon mal zügiger unterwegs. Nein, mit Holzschuhen mache ich das nicht nochmal. Aber vielleicht mit Gummistiefeln? Skistiefeln? Man könnte eine Trilogie draus machen...


Einstweilen bin ich gespannt, wann ich wieder geschmeidig gehen kann. Bleibende Schäden, so vermute ich, werden jedoch nicht zurück bleiben. 


„Well done! And now sit down and have a cup of tea"




P.S.: 24 h später. Nachdem ich noch gestern abend recht sicher war, linksseitig einen Ermüdungsbruch erlitten zu haben (Auftreten unmöglich, dabei keine sichtbaren Schäden), kann ich heute Entwarnung vermelden. Natürlich habe ich Spezialmuskelkater und ca. sechs marginale Hautreizungen, ansonsten: Alle Systeme intakt! 

Samstag, 20. Juli 2019

Wie ich einmal mit Neil Armstrong den Mond betrat.



Zum Jubiläum der Mondlandung kommt mir in den Sinn, dass ich Neil Armstrong einmal persönlich begegnet bin, vor vielleicht 15 Jahren. Wir waren beide Gäste bei einer Gala, ich glaube organisiert von ThyssenKrupp und moderiert von Günther Jauch. War das in Stuttgart? Nein, in Stuttgart traf ich Bud Spencer. Armstrong war woanders...Hannover? Braunschweig? Nein, in Braunschweig gibt es gar keine Galas. Oder doch? Jedenfalls stand ich neben dem rüstigen Raumfahrtveteranen hinter der Bühne. Wir sollten nacheinander auftreten, erst er, dann ich. Auf einem kleinen Monitor sahen wir nach kurzem How-are-you-doing gemeinsam einen Film, der seinen Auftritt einleiten sollte, und der Film endete mit Bildern der Mondlandung. Bei den berühmten Worten „one small step for a man..." bemerkte ich, wie seine Hände zitterten, und ich dachte: Kuck an, jetzt ist er von seiner großen Tat selber so ergriffen, dass er zittert. Sekunden später schickte ihn der Aufnahmeleiter auf die Bühne, und ich folgte bald darauf.

Nach der Veranstaltung erfuhr ich, dass Armstrong an Parkinson litt. „Ja wusstest Du das denn nicht?" 

Armstrong flog zum Mond, ich lebe dahinter. 

Freitag, 19. Juli 2019

Durch Verzicht werden wir die Welt nicht retten.





Niemand will verzichten, es widerspricht der Natur des Menschen. Der Sinn seiner Gier könnte ursprünglich darin bestanden haben, Vorräte für schlechte Zeiten anzulegen, zudem dürfte Balzverhalten im Spiel gewesen sein: Bestaune meine Mammutzahnsammlung und gebe dich mir hin. 

Habenwollen und Streben nach Luxus sind Triebfedern der Evolution - im Angesicht der Klimakatastrophe kontraproduktive Eigenschaften. Wie soll man urplötzlich auf Flüge, Autofahrten, aufgedrehte Heizkörper, den ganzen wonnigen Wohlstand verzichten, wenn die Verschwendung uns doch über Jahrtausende geprägt hat? 

Dies gelingt, so kann ich aus eigener Lebenserfahrung sagen, am besten durch einen Perspektivwechsel: Ich persönlich bin seit 20 Jahren begeisterter Radfahrer, gehe gern zu Fuss, lege lange Strecken auf meinem Tretroller zurück und meide das Auto, wo immer es geht. 

Autofahrten bringen mich um wertvolle Zeit auf dem Rad, denn in Bewegung an der frischen Luft, so habe ich gelernt, finde ich einen wohligen Zustand der Zufriedenheit; ich rieche die Welt, kenne keine Staus und Parkplatzsorgen, sondern bade in Leben. Im Sommer genieße ich die Hitze wie im Winter die Kälte, trotze den Elementen leidenschaftlich gern. Dieser Trotz ist das Gegenteil sauertöpfischer Askese, er gibt mir das Gefühl, ein toller Hecht zu sein und beschenkt mich zudem allabendlich mit angenehmer Müdigkeit. 

Als Radfahrer bin ich ein ausgeglichener Mensch, muss mich nicht in Händeln verausgaben, und bisweilen denke ich, dass die Menschen weniger Kriege führen würden, wenn sie sich nur richtig auf steilen Passstrassen auspowerten. Indem ich radle, verzichte ich auf nichts, sondern gewinne. Ich gewinne Erlebnisse, Abenteuer, ganz nebenbei auch Gesundheit, Befriedigung ob der gesammelten Kilometer. 

Und weil ich mein Rad auf praktisch allen Fernreisen dabeihabe, unternehme ich diese (wenn nicht eh komplett pedalierend) am liebsten in der Bahn, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: In der Bahn lassen sich die von mir heiß geliebten Vehikel am einfachsten mitnehmen, Falträder sogar ohne Aufpreis, während Radtransport im Flugzeug immer umständlich ist, mit zusätzlichen Kosten verbunden, und früher, als ich noch den Lufttransport favorisierte, kam mein Klapprad allzu oft beschädigt am Zielflughafen an (mit Spezialradkoffern kann ich nichts anfangen, weil ich ja sogleich losfahren möchte, ohne erstmal den Koffer irgendwo unterzubringen). 

Früher habe ich viel Zeit an Sperrgepäckausgaben verbracht, um mich anschließend über ein demoliertes Velo zu ärgern. Aus diesem Grunde bin ich zunehmend zügelnd unterwegs; die Kombi Rad/Bahn ist die beste. 

Nein, als Motivation taugt Verzicht nicht, niemand nimmt gerne Abschied, alle wollen gewinnen und begrüßen, möglichst angenehme Bekanntschaften machen, am besten jene mit dem Glück höchstpersönlich. Das Glück liegt in uns, in den eigenen Beinen, sitzt im Sattel, und ganz nebenbei hat der so Beglückte keine Lust mehr auf Fleischberge, weil man ja für die viele Radelei Kohlehydrate braucht, und so kommen wir, ganz ohne mühsam erzwungenen Verzicht, der Weltrettung ein Stück näher. 

Also jedenfalls ich. 


Donnerstag, 18. Juli 2019

Auf dem Weg zum Holzschuhmarathon (3.Test)



Recht bequeme 12 Kilometer in Holzschuhen. Bei Görtz im Kölner Hauptbahnhof beriet mich eine junge Fachverkäuferin bezüglich Einlagen. Meinen mit fester Stimme deklamierten Begrüßungssatz „Ich möchte Marathon in Holzschuhen laufen" quittierte sie nicht etwa mit Irritation oder Nachfragen, stattdessen zauberte sie sogleich zwei Modelle auf den Ladentisch, unter denen ich das flachere erwarb. Unterseits ist das Gehgefühl nunmehr angenehm, oberseits fehlt noch etwas Polsterung. Ich klebte mir große Heftpflaster auf die Füße, was aber über die Dauer eines Tages (ich rechne inzwischen mit 8h Gehzeit für Marathon) nicht ausreichen wird. Ein zusätzliches Schaumstoffelement wäre gut, oder wenigstens zerknüllte Taschentücher. Mein leichter Hallux Valgus  zeichnet sich nunmehr als neue Schwachstelle ab - die vorstehende Ecke kann evtl mit einem Blasenpflaster gepolstert werden. 




Der Testgang führte vom Savoy-Hotel durch die Innenstadt zum Studio 34 in Ossendorf, wo heute u.a. die 250. Ausgabe von „Genial Daneben - das Quiz" aufgezeichnet wurde. Und es macht immer noch Spass! Welch ein Geschenk, mit alten Freunden Quatsch machen zu dürfen, sportlich rätseln und das Vergnügen auch noch bezahlt zu bekommen. Natürlich behielt ich meine Holzschuhe in den Shows an, was für großes Hallo sorgte. 

Ich liebäugele damit, am Sonntag auf Wanderschaft zu gehen, etwa Richtung Düsseldorf. Oder ist es schlauer, das angekündigte warme Wetter zum Tretrollern zu nutzen und die Wanderung um eine Woche zu verschieben? Sehr wahrscheinlich, dass meine Haxen nach dem Gang ziemlich malad sind...

Dienstag, 16. Juli 2019

Rom sehen und...

Sportkamerad Bernd Hartkopf hat einen alten Text ausgegraben, den ich für verschollen hielt:

Rom sehen und... (1) 
by Wigald Boning on Tuesday, 17 July 2012 at 11:47 · 
Um per Fahrrad von Füssen nach Innsbruck zu gelangen, benutzt man normalerweise den Fernpass. Deutlich schneller erreicht man die Hauptstadt Tirols jedoch, wenn man zunächst nach Garmisch-Partenkirchen radelt, um von dort aus den Zirler Berg zu überqueren. Gegen diese Route spricht, dass sie für einigermaßen vernünftige Zweiradfreunde gänzlich ungeeignet ist: Mit starkem Gefälle stürzt sich die breite Trasse ins Inntal hinab, alle paar Meter stehen Schilder, die auf das strikte Verbot für Fahrräder und die besondere Gefahr auch für Kraftfahrer hinweisen, alle paar hundert Meter sind Nothalterampen für bremsschwächelnde LKWs in den Berghang gefräst. Als wir die Kuppe des Zirler Berges erreichen und die Abfahrt beginnt, ist es bereits fast ganz dunkel. Atemberaubend leuchtet Innsbruck in der Tiefe, atemberaubend ist aber auch die Geschwindigkeit, in der man sogleich innwärts schießt, da selbst bei trockenem Wetter die Rennradbremsen dem Gefälle kaum gewachsen sind. Man kann lediglich mit festem Händedruck versuchen, die Fahrt ein bisserl zu drosseln. Vorteil des Höllentempos: Der Rennradraudi ist schneller unten, so dass die Polizei kaum Zeit findet, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Weiteres Schmankerl: Bei Gegenverkehr mit Fernlicht wird die Abfahrt durch temporäre Erblindung des Zweiradlers gewürzt. S-Bahnsurfen ist dagegen babyeierleicht. Wie heißt die gleichnamige Sendung? "Nicht Nachmachen" - Das gilt auch hier.

Um kurz nach zwölf erreichen wir den Brenner. Auf der Passhöhe steht das Wohnmobil, in dem uns Sigi und Daniel mit heißer Nudelsuppe verköstigen. Im Radio dudelt Tanzmusik. Beste Laune, Hüttengaudi. Die Laune trübt sich zügig ein, als auf der Brennerabfahrt stämmiger Regen einsetzt. Dicke Tropfen zischen durch die schmalen Lampenlichtkegel; jede Kurve wird zur Reifenprüfung. Als wir Brixen erreichen, bin ich durchgeweicht, und meine Füsse frieren. 

Bozen. Es dämmert zaghaft, und schwere Backstubenduft-Schwaden liegen über der Stadt. Wir durcheilen diese gähnend auf der Umgehungsstraße. In einem langen, muffigen Tunnel überholen uns, neben vielen fetten LKW, auch Sigi und Daniel. Riegelrast am Ortsausgang.

Trento ist eine Stadt, die mit Leuten wie uns nicht zu rechnen scheint; Ohne böse Absicht finden wir uns plötzlich auf einer Autobahn wieder und müssen uns Buhhupen gefallen lassen. Immerhin sind wir zu fünft und fühlen uns in der Gruppe stark. Wir: Das sind mein bester Sportfreund Hannes, sein Bruder Peter, Nachwuchsradsportler Cornelius und Bernd, Langstreckengeneralist, der von unserer Rom-Idee via fb erfahren hat. Beherzt kurbeln wir zur nächsten Ausfahrt, tragen unsere Räder durch den Morast einer Baustelle, passieren die Innenstadt und entdecken einen exquisit asphaltierten Radweg parallel zur Etsch. Wermutstropfen: Es tröpfelt wieder. Und zwar volle Kanne.

In Rovereto gelingt es uns lange nicht, das Wohnmobil zu finden. Abstimmungsprobleme. Auf das olle Navi mit der Software von annodunnemal ist auch kein Verlass, und auf den Typen, der es bedient (ich) schon gar nicht. Überhaupt wissen wir zur Stunde noch nicht so recht, wie wir denn überhaupt fahren wollen. "Ist doch egal, führen doch eh alle Wege nach Rom" hatten wir im Vorfeld gewitzelt. Ob der Spruch stimmt? Beim Frühstück in der "Bar Rovercenter" schwant uns, dass man sich kaum blauäugiger in dieses Abenteuer schmeißen kann als wir.

Tempo zügig. Windschatten. Peter hat angekündigt, nur eine Hälfte mitfahren zu wollen, und spendiert und dafür einige Sonderschichten Windbruch. Doch selbst an der Spitze unserer Kolonne ist er schneller es für den Rest günstig wäre. Wir wollen ja nicht ums Eck zum Eiscafé, sondern in die ewige Stadt. Hm. Geht denn das mit 30er Schnitt? Als auf dem Weg nach Villafranca di Verona tropischer Starkregen einsetzt, halten wir zum ersten Mal außerplanmäßig. Uff.

Die Poebene. Für mich als Oldenburger nichts angsteinflößendes; Schweinemast und Ebenmaß kenne ich aus der Heimat. Im Gegensatz zu meinem Freund Hannes finde ich derlei Flachpanoramen sogar ganz hübsch. Mittagspizza in...in...in...Namen vergessen. Ein Kaff wie diese Orte im Wildwestfilm, wenn die fünf Schurken einreiten, Mittig wiederum hat das Kaff eine große rote Burg, ferner denkmalhalber ein Weltkriegsgeschütz neben einer Madonnenstatue und daneben eine drömelnde Katze. Heiß heute. 

Zickzackzick, dann übern Po, wiederholte Wegfindungsprobleme. Alle sind genervt, und mir ist's peinlich. Dass wir auf dem falschen Weg sind, merke ich ja immer als erster, schlucke dann stumm, überlege, ob ich durch einen unbemerkt bleibenden Zacken den Irrtum ausbügeln kann. Normalerweise geht dies nicht. Hitzehalt an einem Großsupermarkt. Speiseeis und Grobuddeln eisgekühlte Cola werden auf Ex gelöscht.

Mittlerweile ist Spätnachmittag, die Moral angeschlagen, der Gesprächsstoff aufgebraucht. In der Ortschaft San Felice sul Panaro errechnet das Navi einen Weg, der im Nichts endet. Mist, zurück. Der andere Abzweig endet an einer Bahnlinie. Seltsam. Nochmal der errechnete WEg. Kann doch gar nicht sein. Endet im Kies. Arg, falsch. Oder der da? Ist das überhaupt ein Weg? Ausprobieren. Halt, zurück. Erst wird getuschelt, dann gezischelt. Sigi und Daniel warten derweil 30 km weiter auf uns. Hannes macht dem Spuk ein Ende. "Schluß, wir pausieren jetzt hier". Im Ort jedoch keine Kneipe, kein Café. Dafür alles kaputt. Erdbeben. Es folgt der gewiss groteskeste Moment meiner Sportlerlaufbahn. Wir kehren ein in der Bar eines Flüchtlingslagers. Hunderte Menschen wohnen hier in Zelten und warten auf den Wiederaufbau. Die Innenstadt mit ihren historischen Gebäuden ist schwer getroffen, abgesperrt, und wird von Militär vor Plünderern geschützt. Und nu' kommen gereizte, übernächtigte Hansels auf ihren 5000-Euro Rädern und mischen sich unter jene, die unlängst alles verloren haben. Ja. Weiß ich auch nicht. Wird noch ein Weilchen dauern, bis ich die hierfür passende Einschätzung gefunden habe. Vor Ort jedenfalls werden wir still, uns ist etwas übel, Ratlosigkeit allenthalben.

Hannes' Kniekehlensehne ist entzündet, als das Wohnmobil eintrifft, versucht Sigi, das Problem per Tape zu lösen. Am Bahnhof wird eine große Italienkarte in den Schatten gelegt. Peter meint, dass es besser sei, statt mit Navi per Karte den Weg zu suchen. Matte Debatte. Ohne Entschluss geht es irgendwann einfach weiter. Wohin? Nach Rom eben. Wohin denn sonst. Kurzhalt vor Bologna. Hannes Sehne erzwingt sein Aufhören. Peter steigt auch aus. Der Rest klemmt Lichter ans Rad und rollt in die Dämmerung. Eigentlich sieht der Plan vor, Bologna im Westen zu umfahren, um sich dann in einer Ortschaft namens Sasso Marconi aufs Ohr zu legen, aber ich Vollidiot, Totalversager, Komplettnull, mache wieder irgendetwas falsch, oder mein Navi macht etwas falsch und ich merke es nicht rechtzeitig, was weiß denn ich, und plötzlich bemerken wir, dass wir mitten duch Bologna rollen und n Tagesausklang mit einem schönen Dutzend Extra-Km verzieren. An einer roten Ampel macht Cornelius irgendeine kleine Bemerkung, nichts böses, à la "Nimm's nicht persönlich, aber ich glaube, ich stecke morgen mal die Karte mit ein", und mir platzt der Kragen. Binnen Sekunden steht mir der Schaum vorm Mund, ich herrsche ihn an, dass er die Klappe halten soll, sonst könne er morgen mit seiner Karte alleine durch die Gegend fahren, sprinte davon - um allerdings sogleich einzuhalten und kleinlaut um Entschuldigung zu bitten. Interessant. So was ist mir höchst selten passiert. Kann ich mich eigentlich gar nicht dran erinnern. Offenbar ist bei mir eine Grenze erreicht, hinter der sich jene Charaktereigenschaften befinden, die wohlweislich sonst bestens verborgen sind. Spannende Frage: Ist es überhaupt sinnvoll, an diese Grenzen zu gelangen? Will, muss man überhaupt wissen, wie das "wahre Ich" aussieht, wenn es von den Umständen freigelegt wird? Zumal, wenn es hässlich ist, dies "wahre Ich?" Bernd beschwichtigt, der junge Cornelius akzeptiert meine Entschuldigung. Tatsächlich ist unser Umweg mit 500 Extra-Höhenmetern verbunden. 20% Steigung. Fluch, Schwitz, Keuch. Aber auch die Habenseite kriegt Futter: Herrliche Hügel am Rande der Appeninen lassen die berühmte Mühsal der Poebene vergessen, und der letzte lila Abendglanz, der auf den Gipfeln liegt, trägt Frieden in unsere Herzen. 28 h unterwegs, 600 km auf der Uhr. Heia. 
Rom sehen und...(2) 
by Wigald Boning on Tuesday, 17 July 2012 at 17:52 · 
Tüdelüdelüt. Handywecker. Eine Wiese in den Appeninen, morgens um halb sechs. Also: so spät, dass das irgendwann vollmundig angepeilte Zeitziel "48h" ab sofort Makulatur ist. Beim Blitzfrühstück frage ich Bernd, wo denn 
Cornelius stecke. "Steigt aus wegen Knieproblem". Schade. Vorteil des langen Ausschlafens: Bernd und ich sind guter Dinge und bestens ausgeruht. Wir rollen locker Richtung Pistoia, um dort zu frühstücken. Ein Tunnel will durchquert werden, aus dem ein ohrenbetäubender Lärm dringt. Was ist das? Leopardpanzer? Jumbo Jet? Bergdrachen? Meine Nackenhaare sträuben sich, zumal an der lautesten Stelle die Beleuchtung defekt ist. Aha, der Krachmacher ist ein an der Decke hängender Mammutventilator. Wohl kaputt. Für Autofahrer kein Problem, für Tunnelradler ohne Gehörschutz eine echte Mutprobe. Ich denke an Jim Knopf, Lukas den Lokomotivführer und den Scheinriesen, der, wenn man ihn erstmal aus der Nähe betrachtet, all seinen Schrecken verliert. 
Wir üverqueren einen Höhenzug, dessen Format dem Schwarzwald in Ost-West-Richtung entspricht; die letzten 14km schießen wir mit Höchstgeschwindigkeit bergab. Neben krampfenden Händen peinigen mich Schulterschmerzen vom vielen Stützstress. Aber die Aussicht in das Arnotal macht glücklich.

Von Pistoia geht es weiter zum Hbf nach Prato, wo wir Sigi & Co treffen, Wasser und Riegel nachladen und wo ich mir recht kleinlaut eine Landkarte kaufe, zur Absicherung. Dann wuchten wir uns Richtung Florenz. Schnellstraßenalarm, tüt-tüt. Uns egal, in der Mittagshitze ist uns Aufregung unmöglich. Lass' sie halt hupen. Von den großartigen Sehenswürdigkeiten der Arnostadt sehen wir keine, dafür aber die verrottende ehemalige forstwirtschaftliche Fakultät der Uni. Warum wir diese passieren, weiß nur unser Navi. Nicht fragen, treten. An der südwärtigen Stadtgrenze wird's steil; ab sofort traversieren wir die Hügel der Toskana. Zikadengezirpe, sonst kein Laut. Luftspiegelungen, Smaragdeidechsen. Auf jeder Kuppe bleibe ich stehen und warte auf Bernd, dem die Höhenmeter mehr zusetzen als mir. 
Ich bin das erste Mal in der Toskana und kann spontan konstatieren, dass ich nie eine anmutigere Landschaft gesehen habe. Aber hinter der geschwungenen Grazilität der Formen steckt eine eiserne Lady, die grausame Lady Toskana eben, welche den mutigen Pedaleur erröten lässt. Schwitzend schrauben wir uns höher und höher durch das Val di Pesa, müssen bereits nach zwei Stunden Getränke nachladen und kurbeln zunehmend zeitlupiger. Immer öfter wische ich mir mit meinen schmutzigen Pranken den Schweiß von der Stirn und sehe bald aus wie Lukas der Lokomotivführer. Irgendwann passieren wir irgendeinen Hauptgipfel, erkennbar durch Masten, Kreuze, Aussichtsturm und rollen mit ausgedörrten Schleimhäuten durch den Saunawind hinab nach Siena, unseren nächsten Treffpunkt. 
Als wir den Ortskern erreichen und uns zum berühmten Marktplatz durchfragen wollen, stelle ich fest, dass mein Sprechwerkzeug dehydrationsbedingt keine Laute mehr von sich zu geben vermag. Immer mal was neues.

Siena! Ah! Was für ein Marktplatz. Alles roter Ziegel, welch ein Masterplan. Zweimal im Jahr treten hier alle 13 Ortsteile in Pferderennen gegeneinander an; die Viertel bzw. Dreizehntel sind allesamt nach Tierarten benannt. Unter den Städten ihrer Größe ist Siena jene mit der niedrigsten Kriminalitätsrate. Warum dies etwas mit den Pferderennen zu tun hat, steht bei Wikipedia. Unbedingt lesen. Mit unseren invaliden Freunden essen wir Pasta, trinken Cola aus Maßkrügen, tauschen Brille gegen Sonnenbrille, verzichten auf Beleuchtung (wir treffen uns ja sicher vor Sonnenuntergang) und verlassen die auf einem Hügel gelegene Altstadt über eine spannende Rolltreppenanlage. 6 Geschosse, just wie bei Hertie, nur dass nicht Herrenkleidung und Spielwaren mit Lebensmitteln, sondern verschiedene Epochen und Baustile miteinander verbunden werden. 

Die SS 2 nach Cassia ist für Fahrräder verboten. Egal, wir probieren's trotzdem. Als aber die Autos mit 120 an uns vorbeiknattern, verlässt uns der Mut und wir geisterfahren zurück zur Auffahrt. Das Navi lenkt uns ersatzhalber über eine weitere Gebirgskette, die "Le Crete". Schlappe 25 km Umweg. Großzügige Buckel, die ich, während ich auf Bernd warte, fotografieren will, allerdings ist die Handylinse mittlerweile so von in den Trikottaschen abgesetzten Riegelresten verschmiert, dass sich nur Bilder mit David-Hamilton-Effekt knipsen lassen, und auch diese nur, nachdem ich das Telefon gründlich abgelutscht habe. Leider ist auch die Schallquelle des Handys verschmierriegelt, so dass Anrufer nur sehr leise gehört werden können. Eins wird uns auf diesem Umweg jedoch klar: Die schönsten Winkel entdeckt man durch Verirrungen. Und weil wir oft verirren, sehen wir viel schönes. Taugt auch gewiss als Metapher, die in vielen Lebensbereichen Verwendung finden kann.

Kurz vor Buoncuore lesen wir auf einem Schild: "Roma 210 km" - eine Lektüre, die uns rührt und glücklich macht. 210 könnten wir zur Not durchfahren. Zur Not. 
Aber wir haben keine Not. Fürs erste freuen wir uns, dass wir endlich legal auf die SS 2 gelangen. Wenig Verkehr, bester Asphalt, sanftes Auf und ab. Ins Handy brüllend verabreden wir uns zum Abendessen mit den anderen in der "Delfin Bar", bei km 160. Also noch 30. Und weil es dämmert, und ich mit meiner Sonnenbrille in der Düsternis nichts sehen kann, geben wir Fersengeld. 

Übernachtet wird im ausgedorrten Bachbett, ich liege, weil's so heiß ist, nackt zwischen den Disteln, und große Insekten krabbeln über die Salzkrusten, die meinen Körper bedecken. Macht mir gar nichts aus. Mir ist alles egal. Morgen sind wir in Rom 
Rom sehen und...(3) 
by Wigald Boning on Wednesday, 18 July 2012 at 08:10 · 
Brille verbogen; wohl im Schlaf draufgelegt. Ist jetzt auch egal. Es ist vier Uhr dreissig, das große Ziel liegt noch etwa 160 km entfernt und hat drei Buchstaben. Bernd und ich tragen die Räder aus dem Bachbett zur Strasse, knipsen die Lampen ein und rollen durch die Dunkelheit. Sonntagmorgen, d.h.: wir haben den Premiumasphalt der SS 2 für uns allein. Fast. Ab und zu begegnen wir Autos. Die Fahrer sind um diese Uhrzeit potentiell besoffen, und so prüfen wir jedes herannahende Fahrzeug aufmerksam auf Schlangenlinien. 
Als die Fahrt nach zwei Stunden Dämmerung im Ort Acquapendente zäh zu werden droht, öffnet sich der Blick auf einen riesigen Talkessel; unter uns liegt der kreisrunde Lago di Bolsena. Die Welt in Cinemascope. 

In der Ortschaft Bolsena überfallen wir eine Bäckerei. Zwei Vollverdreckte laufen Amok, verschlingen Hörnchen auf Hörnchen und lassen Espresso in ihre Herzkammern laufen. Apropos: Die meisten Menschen heutzutage wissen ja gar nicht, wie sich das anfühlt: Dreck. Erst, wer von knibbelfesten Krusten umgeben ist, weiß ein duftendes Seifenstück so recht zu schätzen. Zur Steigerung der Lebensqualität empfehle ich eben dies: Regelmässige Schmutzperioden, um die Sauberkeit wieder zum Erlebnis werden zu lassen. Viel Vergnügen im Modder.

Bald passieren wir ein Schild, darauf steht: "Roma 100 km". Wir nicken uns zu. Ab jetzt kann uns auch ein schwerer Defekt nicht mehr stoppen. Zur Not müsste man das Rad eben schultern. Verhalten vorfreudig entern wir die Stadt Viterbo und grübeln ein letztes Mal über einer heiklen Navigationsfrage: Fahren wir SS 2, ab hier autobahnähnlich ausgebaut, oder vertrauen wir dem Navi, das uns eine kürzere, aber verdächtig kurvige Kleinstrasse empfiehlt? Wir folgen dem Navi, haben uns von ihm ja eh versklaven lassen. Wir lachen hysterisch, als wir zuerst eine Reha-Klinik passieren ("Sollten wir uns hier nicht auf der Stelle einliefern lassen?") und lachen lauter, als wir kurz darauf in engen Serpentimen ein idyllisches Kloster ansteuern, die Abtei San Martino am Monti Cimini. Nahezu traumwandlerisch ist es uns gelungen, unsere Reiseroute mit einem weiteren heftigen Anstieg zu verzieren. Auf der Gipfelhöhe umarmt mich Bernd, und aus dem hysterischen Lachen wird das Geschnatter des Wahnsinns, irgendwo zwischen Apocalypse now und Spongebob Schwammkopf. 
Bergab geht es durch einen efeuumrankten Märchenwald. Der Schlafmangel vertieft den Eindruck satten Dunkelgrüns, und mein Herz schmilzt auf der Abfahrt vor Wohlbehagen. Linkerhand liegt der Lago di Vico, ein Vulkansee, der angeblich durch einen Keulenhieb des Herkules entstanden sein soll. Wir stellen die Räder ab und mischen uns unter die Badegäste am schwarzen Kiesstrand, trauen uns aber nicht, ganz ins Wasser einzutauchen, fürchten Sitzprobleme durch nasse Hosenpolster. Mein Hintern ist eh schon wund, aber durch Schorfkrusten gut geschützt. Das soll so bleiben. Überhaupt, mein Körper. Die Füße sind seit Florenz eingeschlafen. Sicher irgendeine Nervenirritation. Trifft sich gut, dass Sohlensensibilität auf dem Rad völlig unnötig ist. 
Nach dem Bad regulieren wir am Kiosk unseren Espressopegel und rollen weiter bergab. 

Letzter Akt, Nun hilft uns nix mehr, wir müssen auf die ausgebaute SS 2, ob wir wollen, oder nicht. Die Sonne scheint uns für Schnellgerichte zu halten, die gegart werden wollen, Dieselduft wabert die Auffahrt hinab, und wir stoßen mit grimmigem Blick hinein. Zwischen Leitplanke und Schnellverkehr ist zumeist ein Meterchen Platz; nur manchmal gilt es, Metallschrott oder geplatzten Mülltüten auszuweichen, die hier an der römischen Peripherie offenbar gerne durch das Autofenster entsorgt werden. Ich fahre ca. 100 Meter voraus, Bernd hinterher. Menno, wann kommt denn endlich dieses blöde Rom? Eine Stunde rollen wir nun schon über die breite Trasse, die auf Fahrradfahrer wirkt wie ein Krustenbraten auf Veganer. Oder bin ich einfach nur zu waschlappig? Da schießt irgendwann ein gut gegeelter Radsportler auf die Trasse, überholt mich freundlich grüßend und freihändig, schält behende eine Banane und nestelt an seinem Handy herum. Dass er derweil ums Haar von mehreren Autos überfahren wird, scheint der Autostrada-Crack gar nicht wahrzunehmen. Alles Übungssache, das ganze Leben. Und dann geht's noch einmal lange und raketig bergab, der Tacho zeigt 63 km/h, die Autos in Griffweite sind jedoch doppelt so schnell, und schließlich steht auf einem Ausfahrtsschild: "Roma Centro". Ich warte, einen Fuss lässig auf die Leitplanke gestellt, Bernd naht heran, ich zeige aufs Schild, grinse so breit, dass ein Teil der Dreckkruste in meinem Gesicht wegplatzt, und gemeinsam rollen wir in den Vorort Cassia hinein. Roma, città aperta. Triumphatorenparade. Eine letzte Lasagne am Straßenrand. Wo ist denn nun die Stadtgrenze genau? Keine Ahnung, aber das Straßenschilddesign und die Bushaltestellen kommen mir bereits bekannt vor, von früheren Besuchen. Da vermeldet der Tacho 1000 km Fahrtstrecke, bei 8400 Höhenmeter und 66 Stunden Gesamtzeit inklusive Schlaf. Angekommen. Um unsere Tour mit einem brauchbaren Endpunkt auszustatten, rollen wir hinab zum Tiber und machen Fotos. Zwei Räder unter einem Romulus-und-Remus-Relief. Passt doch. Und dann geht's weiter zum Hotel, wo unsere Freunde uns applaudierend empfangen. Abends Party am Campo del Fiori. Soweit mein Bericht in aller Kürze. 

Liebe Enkel, wenn es Euch dereinst gibt und Ihr dies lest: Nie hat Euer Opa eine tollkühnere Fahrradtour unternommen. Tut es ihm nach. Fahrt nach Rom. Das Gefühl bei der Ankunft ist nicht käuflich. Man muss es sich erarbeiten. Nebenbei lernt man schöne Landschaften kennen, und am "wahren Ich" rollt man auch vorbei. Regelmäßige Verirrungen steigern den Genuss, und am Ende führen tatsächlich alle Wege nach Rom. Die beschriebene Route kann ich vorbehaltlos empfehlen (abgesehen vom Zirler Berg, für den gilt: Nicht nachmachen)! Viel Spass!

Sonntag, 14. Juli 2019

Diktat: Auf dem Weg zum Holzschuhmarathon



Zweiter Holzschuhlauf Test nachdem ich im Frühjahr mein aller erstes blutiges Experiment abgebrochen hatte. Heute probiere ich es mit einer Kombination aus Skitouren Socken und speziell angefertigten dämpfenden Wollstrümpfe von Heike Zucker die diese weltführende Sockenstrickexperten unterseitig mit Latex Farbe Rutsch fest gemacht hatte.  Wichtigste Erkenntnis meiner selbst Verletzung damals: bei niedrigem Tempo wird sich die Stoßbelastung des harten Holz ist weniger gravierend aus. Also bin ich heute Motorrad unterwegs: 6:30 Uhr Start, dann gemessenen Schrittes am Nymphenburger Kanal entlang zum Schlosspark, Dort das übliche Größe am Hartmannshofer Bach, Pagodenburg, Hein und zurück. Bequemes Laufgefühl, allerdings registriere ich ab Kilometer fünf erhebliche Hitzeentwicklung unter den Fußballen. Es wäre erwägenswert, die Holzschuhe um eine weitere Lage, sprich Schuheinlagen zu ergänzen, und zwar nach Möglichkeit Kühlende. Im Extremfall ist es vielleicht günstiger meine Weltrekordversuch im Winter stattfinden zu lassen. Lieber wäre es mir jedoch aus dem Stand loszulegen davor mir zweieinhalb Wochen genial daneben das Quiz in Köln liegen, und ich über zwei freie Tage verfüge die mit recordträchtigen spazieren gehen gefüllt werden können. Da ich diese Zeilen mündlich in mein Handy spreche und auf die Diktierfunktion vertraue,Kann ich noch nicht absehen, ob die heißen Fußballen lediglich Ausdruck spät Römische Dekadenz sind, oder auf eine großflächige Ablösung der Lederhaut zurückgehen. Letzteres würde eine Laufpause erzwingen und mein Experiment in den Winter verschieben, ob ich will oder nicht.

Ich erlaube mir, das Ergebnis meines Diktats und verbessert zu lassen, und reiche den medizinischen Befund nach Heimkehr und Frühstück per P. S. Nach.


P.S.: Daheim: 11 km in 1:53 - neue persönliche Bestleistung im Holzschuhdauerlaufen. Die Fußsohlen sind gereizt, werden sich aber in Kürze erholt haben. 

Die Diktierfunktion erfüllt ihren Zweck ähnlich wie ein Holzschuh: Leidlich, sagt man wohl. Nein, ich war nicht „Motorrad" unterwegs, sondern „moderat". Bruche mer net, fott damet. 

Samstag, 13. Juli 2019

Alles übertrieben




„Alles übertrieben!" findet der niederbayerische Besenschwinger. Seit neun Jahren arbeitet die Reinigungsfachkraft in List auf Sylt, hat sich in die, wie er meint, „schönste deutsche Insel" verschossen und kommt nicht mehr weg. Aber, so fügt er missmutig hinzu, es sei mittlerweile eben alles hier übertrieben. Alleine der Autoverkehr. Selbst in den ruhigsten Wohngegenden Kampens droht jederzeit eine Überrollung, was umso schwierwiegender ist, als dass die überrollenden Fahrzeuge alle schwer wiegen. Wer Glück hat, wird nur vom Porsche Carrera geplättet, das leichteste Kfz, das in der Nähe des Avenariusparks anzutreffen ist. Dabei ist dieser Park unbedingt sehenswert: Schmucker Rasen, lindnerbartkurz, auch für die Wege. Ein Boulodrom, was meine Mama, die ja im Verein boult, frohlocken lässt. Und natürlich flotte Katen mit Reetdach, an denen sich die Relativität des Begriffs „Armut" gut zeigen lässt. „Arm" ist, so meine ich mich zu erinnern, wer über weniger als 60% des Durchschnittseinkommens verfügt. Rund um den Avenariuspark liegt das Durchschnittseinkommen bei einer sehr vorsichtig geschätzten Million pro Jahr und Kopf. Aber auch hier gibt es eben Armut: Bewohner von Reetdachhäusern von mittelfrüher, mit einfachen Teerosen auf den Findlingsmauern statt Nizzadeluxe-Züchtung. Einer scheint gar keinen Gärtner zu beschäftigen, sein Garten sieht nahezu ungepflegt aus. Du liebe Güte, macht der arme Kerl das selber? Tränen steigen mir in die Augen, und ich erwäge zu klingeln, um dem Tropf ein paar Tausender als milde Gabe zuzustecken. 




Teresa kriegt böse Blicke zugeworfen, weil sie Theo stillt, in aller Öffentlichkeit. Das ist den alten, weißen Männern unter ihren Reetdächern gar zu zigeunerhaft. Aber nicht nur den Männern. Neulich im Bus sorgte sie schon für böse Kommentare alter, weisser Damen. „Schlimm, wenn man jedes Schamgefühl verloren hat" raunten sie ihr zu. Ich war nicht dabei, glücklicherweise, denn so schamhaft ich sein kann, so kurz ist meine Lunte, wenn ich derlei höre. Kein nackter Busen kann jemals so aufdringlich, so verdorben sein wie, wie...ein Auto. 



Kupferkanne, schönes Café. Hier war ich auch schon mit Walter, 1988, und ich kaufe im Store eine Fahrradklingel für kleines Geld, als Finishermedaille für meine Radelei von Hamburg hier her. Reelle Preise sind auf Sylt nicht selbstverständlich: Für 3h Schwimmbadbesuch als Nicht-Hotelgäste zahlten wir zu zweit im A-Rosa satte 126€, allerdings zwei Langnese-Eiskrem inklusive. In meiner Perplexität habe ich die Schlussrechnung nicht eingehend studiert, so dass ich davon absehen möchte, irgendjemanden des Wuchers zu beschuldigen. Vielleicht haben die Speiseeis-Preise in letzter Zeit ja stark angezogen, etwa wegen Bienensterben plus Klimawandel. Keine Bienen keine Blüten keine Früchte keine Polkappen kein Eis kein Langnese, so in etwa, und der Löwenanteil des Obolus ging fürs Schleckvergnügen drauf.

Gestern in Kampen: Jazzfestival, wir zu früh vor Ort, und ich will dem soundcheckenden Till Brönner wenigstens die Hand drücken. Aber ein Security-Mensch mit gelben Zähnen pfeift mich barsch zurück. Uff, sowas schlägt auf die Laune. Könnte meinen Freunden bei Gosch nicht passieren. Jürgen Gosch habe ich schon 1988 bewundert, als er noch selber in seiner Fischbude stand und ulkige Döntjes erzählte. Heute steht er noch immer an gleicher Stelle, allerdings ist aus der Fischbude ein Viertel geworden, mit Riesenrad, Tonnenhalle, Kunstausstellung- in Ausmaß und Bedeutung für List etwa das, was die „Autostadt" für Wolfsburg ist. Goschs Thainudeln habe ich in den letzten Jahrzehnten dutzende Male verdrückt: An den Hauptbahnhöfen in Köln und München; ich bin Fan und Fachmann, und auf Sylt fällt zudem die unaufgesetzte Nettigkeit seines Personals auf. Und so fällt unser Urteil durchwachsen aus, so wie das Wetter in den vergangenen Wochen. Sylt scheint, Sylt sucks. Entscheidend ist, dass die Familie in trauter Runde Geburtstag gefeiert hat, den 1. und den 78., und dass wir alle am Leben geblieben sind und nicht überrollt wurden von irgendeinem Bentley oder AMG-Mercedes. Und das, lieber Besenschwinger, ist nicht übertrieben! 




Montag, 8. Juli 2019

Luft und Liebe



Sylt. Hier ist es momentan kalt und windig. Nein, völlig falsche Wortwahl. Hier ist es erfrischend, und die Luft lebt. Wir genießen das gesunde Reizklima im Strandkorb und schauen Theo dabei zu, wie er versucht, in seiner fünflagigen Polarausstattung Sandburgen zu bauen. Gar nicht so leicht. Manchmal schafft er es, einige Meter gegen den Wind anzukrabbeln, dann sieht er aus wie eine seltene Schildkrötenart, die schwer deutbare Spuren im Sand hinterlässt. 

Zwischendurch wirft mein Vater trinkkulturell bemerkenswerte Salute aus den Fünfzigern ein, zB: „Alle Menschen sollen leben, die uns was zu trinken geben. Jenen aber, die dies neiden, wollen wir mit tausend Freuden Daunenfedern aus den Nasen zentnerweis ins Arschloch blasen. Und dies bei konträrem Wind, bis sie unsere Freunde sind. Prost!“

Die Abende verbringen wir mit Blick aus dem Fenster, auf das Dach des Nachbarhauses. Diesem fehlen zwei Dachpfannen, und bereits kurz nach unserer Ankunft hatten wir über dieses Fehlen allerlei Theorien entworfen. Inzwischen wissen wir, dass es sich um die Arbeitswege zweier Steinmarder handelt, die den Dachboden zu ihrem Lustschloss gemacht haben. Eigentlich sind Steinmarder Einzelgänger, nur zur Paarung ertragen sie ihresgleichen. Und wenn sie sich nicht gerade paaren, schauen sie aus dem Fenster - genau wie wir. Womit ich nicht sagen will, dass ich meine Frau nur in besonderen Situationen ertrage, i wo. Ganz im Gegenteil. Wir teilen alles miteinander, und zwar gerne. Wobei wir ja neben unserer Liebe wenig brauchen - im Grunde nur erfrischende, quicklebendige Luft. Prost! 

Samstag, 6. Juli 2019

Ein Loch






Ein Loch ist im Eimer

das Putzwasser läuft auf die Dielen

Im Fernseher läuft Mutter Beimer

Die Putzfrau muss schielen 

vom vielen Glotzen so dass


sie des Lochs nicht gewahr wird

Bald ist das Wohnzimmer nass

Sie träumt davon, dass sie ein Star wird

und rote Teppiche nutzt

für Bussis und Instafame


und sie nicht für Mindestlohn putzt

mit Fahrer und eigener Creme

und Richard Gere Auge in Auge

Doch in der Realität ist sie 70

und steht bis zum Knie in der Lauge


Sie ärgert sich, holt ihren Lappen

stopft das Loch mit etwas Kork

feudelt bis vier, isst einen Happen 

und seufzt: Farewell, Richard Gere

Dann nehme ich halt Andy Borg




Gauland und die Polyästhetische Erziehung.

Da bin ich nun in List, am (mittlerweile unkenntlich renovierten) Drehort von „Weine Nicht" und denke viel an Walter, den Regisseur, mit dem ich Ende der 80er, Anfang der 90er einen Kartoffelsack voller spannender Erlebnisse sammelte. Walter war ein enorm offener, vielseitiger, kreativer Mensch (allein 200 Albencover gehen auf ihn zurück, darunter Klassiker wie „The Jeremy Days"; mancheiner wird ihn auch als Sänger von „Palais Schaumburg" wahrgenommen haben. Hier ganz vorne links:)



Woher hatte Walter seine Eigenschaften? Learning by doing? Hatte er in jungen Jahren einen Mentor? Nie gefragt.

Jetzt also List. Durchwachsenes Wetter. Teresa hat Post von ihrer Doktormutter erhalten, fünf Bücher für Ihre Defensio Dissertationis zum Thema „Polyästhetische Erziehung". Sagt mir spontan wenig, und so beschließe ich, die Bücher auch zu meiner Ferienlektüre zu machen, aus ehelicher Solidarität.

Also los.

„Polyästhetische Erziehung" ist ein kunst- bzw. musikpädagogisches Konzept, das Ende der 60er an der Hochschule für Gestaltung in Hamburg entwickelt wurde, und zwar von Natias Neutert. Gilt als eine typische Theorie der 68er und besteht aus fünf Elementen: Polyästhetische Erziehung, so lese ich, ist multimedial, interdisziplinär, traditionsintegrativ, interkulturell und sozialkommunikativ. Nach 30 Seiten gähne ich verstohlen (es ist immerhin 22 Uhr) und beschließe den Tag, indem ich den dazugehörigen Wikipedia-Artikel aufrufe. Knapp und wortkarg. Auf Neutert wird verwiesen, klar, und anschließend auf, ich traue meinen Augen kaum: auf Walter Welke, geb. Thielsch, der bei Neutert studierte und sich, wie mir binnen einer Sekunde aufgeht, dessen Konzept zu eigen gemacht hatte. Schlagartig wach. Kreisschluss. Natürlich finde ich das vermeintlich trockene Thema sogleich faszinierend. Jazz funktioniert nach diesen Regeln, wenigstens seit Coltrane. Und Walter eben auch.



Neutert zeigte 1965 seinen Kurzfilm „Noch und Nöcher" auf der Berlinale (mit Iris Berben) und hat in den 70ern Karriere als TV-Zauberer gemacht, zB in der Sesamstrasse. Er schuf einen neuen Typus des Auftrittskünstlers zwischen Film, Bewegung, Kabarett und Zauberei; Neutert hiess bald „Totalkünstler" - und spontan denke ich an Hirschhausen, der ja auch besonders grosse Brücken schlägt, von Medizin zu Zauberei und Comedy. 

Erstes Fazit: Die „Polyästhetische Erziehung" ist eine jener Ideen der 68er, die Bestand haben und die unbeholfenen Reaktionsbemühungen der „Neuen Rechten" locker überleben werden. Niemand möchte heute ohne die Vielfalt leben, die mit ihr verbunden ist. Sogar ein Zauberkünstler Gauland nicht. Nicht einmal Ernst Jünger, den ja die AfD zu vereinnahmen sucht. Auch er schlenderte spätestens nach seinen Begegnungen mit Picasso und Albert Hofmann nach den o.g. fünf Prinzipien durch seine Tage, verkleisterte Käfer, „Gärten und Straßen", „Annäherungen und Rausch" zu seinen „Strahlungen", zu Oberlichtern, die sich gen gischtumtoste Marmorklippen der Unendlichkeit öffneten - mit LSD als Fensterkitt. Danke, Walter!

Apropos Gischt. Zeit für einen Strandspaziergang...




Dienstag, 2. Juli 2019

Von der Bühne zur Buhne



Reeperbahn - Rømø. Mein Rad steht bereits auf der Bühne, abfahrtbereit, den ganzen Auftritt lang. Zum Schlussapplaus schultere ich’s und gehe die Treppe hinab ins Foyer. Dort gibt’s eine Runde Autogramme, und los. Das Schmidttheater hat mir noch eine große Buddel Cola spendiert, aus der Garderobe habe ich ich zwei Wurstbrötchen entwendet, ich bin also bestens proviantiert, als ich um 21:30 die Reeperbahn Richtung Norden verlasse. Sommerliches Treiben in den Straßencafés. Sonntagabend, wenig Verkehr. Ich strampele Richtung Pinneberg, baue Auftritts-Adrenalin ab und Vorfreude auf die bevorstehende Nacht auf.

Durch Eimsbüttel und Stellingen zur Stadtgrenze. Erste Pinkelpause. Eidelstedt, Rellingen. Pinneberg sieht bei den Rathauspassagen im Abendlicht fast so aus wie London oder Paris. Also jedenfalls am Stadtrand von Paris. Wo sich Ghettokid und Hase gute Nacht sagen. Nordische Dämmerung: Zeitlupenverdunkelung. Immer schmaler wird der Lichtstreifen am Horizont, aber ganz weg will er nicht. Passenderweise fahre ich durch einen Ort namens „Helle Himmel". Wieder Pinkelpause. Habe schon in der Auftrittspause Cola gesoffen, das entwässert. Oder die Blase drückt wegen Aufregung. Ich bin zwar schon manche Nächte durchgeradelt, aber nicht nach einem Auftritt. Befruchtet sich sowas? Oder raubt der Vortrag zuviel Kraft? 




Große Wettern, Itzehoe. Da ist Teresa mal aufgetreten, mit „Boccaccio" von Franz v Suppé, und Thomas Müller und ich haben damals zugeschaut. Thomas ist Fotograf, einer der besten, hat gerade Wolfgang Tillmans fotografiert, einen anderen guten, und heute Abend saß er im Publikum. Teresa ist derweil auf Sylt und erwartet mich. So, genug Namedropping. 

Einzelne Kröten sitzen im Kegel meiner Funzel. Nur nicht drüberrollen! Ich liebe alle Amphibien, von Kermit über die mallorquinische Geburtshelferkröte bis zum schwarzen Alpensalamander, meinem Lieblingslurch. Dabei habe ich schon ziemlich viele von ihnen auf dem Gewissen: Als Kind versuchte ich regelmässig, aus Froschlaich adulte Tiere zu ziehen, was jedoch höchst selten gelang. Schämenswert. 

Im Rucksack drückt meine Ferienlektüre: Hemmingway, 49 Depeschen. Bescheuert, sowas mitzuschleppen. Am Wegesrand ablegen? Quasi ablaichen? Für die Kröten? Nein, geht auch nicht.

Schmale Straßen, leicht gewellt. Sommerhitze weicht feuchter Kühle. Erstes Großziel: Der Nord-Ostseekanal. Mein Navi wollte mich per Fähre übersetzen lassen; habe den Lapsus rechtzeitig bemerkt. Um diese Zeit kann man lange „Hal öwer!" rufen. 

Mon Dieu, ist das einsam hier. Schleswig-Holstein ist eine verwunschene Gegend. Mehr Kröten als Menschen. Ob ich mal eine Kröte küssen sollte? Und dann stehen vor mir die Filiüsse von Barschel und Simonis. 




Da ist die Brücke, hoch überm Kanal! Ich wuchte mich empor. Kein Auto, kein Geräusch, nichts. In der Ferne nähert sich ein Frachter, auf der anderen Seite weiterhin ein feiner Lichthall.

Ich pinkele von der Brückenmitte hinab in die Tiefe. Ist ja niemand da, der sich dran stören könnte. Meine Stirnlampe schwächelt. Im letzten Atemhauch der Batterie ordne ich meinen Rucksack, nehme einen Schluck aus der Colapulle, esse ein Wurstbrot und knipse, was das Nachtlicht hergibt. Halbzeit. 

Weiter geht’s Richtung Heide. Das Tempo lahmt zusehends, meine Augen fallen zu. Hier ein Reh, da ein Hase. Reicht leider nicht, um mich gründlich wach zu machen. Gegen drei wird’s nachgerade unangenehm. Ich schließe ein ums andere mal die Augen und genieße die Idee, auf der Stelle einzuschlafen. Eine Sekunde später reiße ich alarmiert die Augen auf. Ist einfach kein guter Platz zum Schlafen, so’n Fahrradsattel. Warum bin ich überhaupt um diese Uhrzeit unterwegs? Das Schmidttheater hatte mir ja bereits ein Hotelzimmer reserviert. Tja. Abenteuerlust - das wird’s sein. Mit Übermüdungsgarantie. Hinter Heide rolle ich durch ein Moor, richtiger Sumpf. Es riecht faul, und die Lichtbordüre am Horizont wird langsam wieder breiter. Anhalten, fotografieren. 



Naja, das Bild ist nicht soo stark, aber ich bin schon im Scheu-Stadium, in dem jede Meid-Gelegenheit gerne wahrgenommen wird. Runter vom Rad, kurz den Popo lüften. Zum zweiten Mal schmiere ich mir eine Handvoll Vaseline aufs Sitzpolster. Bleibt unbequem. Tagesform eher mäßig - könnte mit dem Auftritt zu tun haben, der eben auch ein paar Körner beansprucht. In der Ferne sehe ich eine weitere Brücke. Fast ist’s hell, als ich die Schlei überquere. 

Unter der Brücke grasen Kühe. Gut, da kann man gleich für noch eine Fotopause anhalten:


Die Brücke, so lese ich, wurde 1916 fertig gestellt, mitten im Krieg, und dahinter liegt das sagenhaft pittoreske Friedrichstadt. Eine Holländersiedlung, mit Grachten, Amsterdamer Häuschen und allem Pipapo. Wat’s allns gifft! Nie von gehört. Ich könnte ja schon hier in den Zug steigen...ach was, lieber erstmal in die Bäckerei. Die hat nämlich schon auf, um knappe fünf. Moin! Moinsen! Kaffee und Schnecke bitte! Ein Handwerker schneit rein, dessen Tochter ein Pferd hat und ein Pony. Die Bäckerin war wandern im Harz. 

Husum, die graue Stadt am Meer. Schimmelreiter. Müsste man glatt mal wieder lesen. Aber einstweilen schleppe ich ja Hemmingway zum gefühlten Nordpol. Echt grau hier, jedenfalls am heutigen Morgen, kurz nach Wettersturz. 20 Grad kälter als gestern abend. Ich zittere mich durch die Storm-Stadt. Jetzt rollt langsam der Verkehr. Ist das eine Bundesstraße hier? Garstige Töfftöffs. Mist, verfahren. Im Zickzack durch die Windräder. Hui, drehen die sich schnell. Steife Brise hier. Links sehe ich in der Halbferne den Deich. Zug oder Damm nach Rømø? Nein, ichbin für Zug. 40 km weniger Wegstrecke, und vor allem bin ich deutlich schneller bei Teresa und Theo. 

Blöder Gegenwind. Alle fünf Kilometer rechts, dann wieder links. Eine horizontale Treppe durch salzige Wiesen. Ich überquere die Lecker Au. Weia, was haben die für eigentümliche Flussnamen hier? Ob das Wasser schmeckt? Womöglich Süßwasser. Ja, das sind sie, die typischen 7-Uhr-Witze. Immerhin fallen mir die Augen nicht mehr zu, seit dem Kaffee in Friedrichstadt. 

Noch ein paar Mal rechts-links, dann bin ich in Niebüll, stehe am Gleis 3. Proppenvoll mit Zimmermädchen & Zimmermännern, die sich auf der goldenen Insel die Nase versilbern möchten. Zug fährt pünktlich um 8.03, also jetzt. Juhu! Schon mal bei Strava sichern: 187 km in 9:32 Stunden. Durchschnitt unter 20. Motto: Versuch‘s mal mit Gemütlichkeit. 

Hindenburgdamm ahoi. Eine halbe Stunde später debarkiere ich in Westerland und nehme die letzten 17 Kilometer nach List in Angriff, wo sich ja auch der Fähranleger für die Passage nach Rømø befindet. Also alle Ziele so gut wie erreicht. Fabulös, der Radweg durch die Dünen. „Von der Bühne zur Düne" wäre eigentlich der bessere Titel für diesen Text, aber jetzt ist zu spät. Ich fahr doch nicht zurück auf los, jetzt, nach über 200 km.



Noch ein Foto mit jener Wanderdüne, auf der ich 1988 das Video zu „Weine nicht!" drehte, mit dem großen Walter Welke, geboren Thielsch, der leider schon tot ist. Immerhin habe ich zwei Wochen vor seinem Ableben einen tollen Nachmittag mit ihm verbracht, bei der Abschiedsfeier von Horst Königstein im NDR. Danke. Sylt hat uns sozusagen zusammengeführt. Walter, wenn Du dies liest: Ich habe viel von Dir gelernt! Du warst mir eine besondere Inspiration! 


„Weine nicht!"


In List treffe ich meine Lieben, am Spielplatz neben der Tonnenhalle. Erstmal ein Fischbrötchen.



Anschließend nicke ich ein, nachmittags erneut. Auf dem Fussboden. Abends zu müde für irgendwas: Ich schaue bewegungslos „Bauer sucht Frau international". Fun fact am Ende: Dass ich mir zwei Tage hintereinander nicht die Zähne geputzt habe - daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Wahrscheinlich unsere Romtour. Jedenfalls irgendwas mit Fahrrad. 

Nach Rømø setze ich in den nächsten Tagen über - der Vollständigkeit halber. 

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