14.9.
Wieder habe ich eine sehr brauchbare, schöne Stoffmaske gefunden („Alltagsmaske“), auf der Straße, offenbar verloren oder aus Verzweiflung entsorgt.
Mittlerweile packe ich solche Schätze kaltblütig ein, waschen sie lauwarm bis heiß durch und tragen sie auf.
Wobei ich mich immer häufiger frage, welcher Anfänger sich den Begriff „Alltagsmaske“ ausgedacht hat, wenn es doch offenbar gar keine Festtagsmasken gibt. Aber vielleicht ändert sich dies mit der kalten Jahreszeit: Erstens entfalten schwere, opulente Brokatstoffe erst bei Frost gediegenen Tragekomfort, und zweitens könnte der Dezember völlig neue Maskentypen populär werden lassen: Mit Rentieren, Tannennadeln, mit halben Christbaumkugeln und aus China-Matten, per Lang-Lunte an den Ohren befestigt. Bin ja eh der Meinung, dass man von Anfang an mit der Sexyness von Masken hätte arbeiten müssen. Und warum gibt’s eigentlich immer noch keine coolen Designpreise für Rachenklappen? Fendi-Award. Goldener Zorro. Arteri e Vene Ziano. Positives Feedback jenseits von Solidarität (zieht nicht bei jedem).
Apropos Holiday Season. Beim Frühschoppen im Palmenhaus wird am Nebentisch das Geschlecht eines noch ungeborenen Babys bekanntgegeben, eine Festivität amerikanischen Ursprungs, die laut meiner Frau „Baby Shower“ heißt (oder so ähnlich). Ich wende zwar ein, dass „Shower“ eine Dusche ist und nach der Geburt unproblematischer durchgeführt werden kann, aber egal. Meine Eltern wiederum fühlen sich sogleich an die „Puppvisite“ in Ostfriesland erinnert. Watt is datt denn? Nach positivem Schwangerschaftstest wird ein großer Topf Ostfriesische Bohnensopp aufgesetzt, also Rosinen in Branntwein, und sobald das Baby geboren ist, kommen Familie, Freunde, Nachbarn, verzehren die Bohnensuppe (außer die stillende Mama und ihre „Puppe“).
Anders positiv sind die 10.000 Neuinfizierten in Frankreich - von dieser runden Summe erfahre ich kurz, nachdem meine neue Fitnessuhr mir erstmals 10.000 absolvierte Schritte anzeigt. Ich überlege, ob diese Koinzidenz irgendetwas zu bedeuten hat, komme aber schnell auf die Antwort: Nein - ich bin ja kein Franzose.
Aber Münchner. Hier liegt der Wert weiterhin unter der Fünfziger-Marke, ab der Teile des öffentlichen Lebens gedrosselt werden. Gestern schon las ich in einem Aushang an einer Kita, dass nach den Bestimmungen des städtischen „3-Stufenplans“ derzeit Vorwarnstufe herrsche; womöglich werden in Bälde alle Kinder erneut daheim bleiben müssen, außer man hat systemrelevante Eltern oder ist alleinerziehend. Ich überlege, ob letzteres für manch überlastetes Elternpaar eventuell ein Trennungsgrund sein könnte, verbiete mir die Überlegung jedoch proaktiv, da sie mir unangenehm zynisch vorkommt.
Was noch? „Corona Fehlalarm“ schafft es bisher nicht, dass ich mich festlese; alles, was drinsteht, weiß ich bereits aus tausenden Medienberichten. Oder waren es Facebook-Einträge? Heutzutage kann man sich ja nur im Spezialfall daran erinnern, wo man was aufgeschnappt hat; alle Schnipsel, Tweets, Kommentare wandern im Laufe des Tages in einen neuronalen Topf und werden dort zu einem zähen Mus eingekocht.
Nein, vergesst „Corona Fehlalarm“; die beste Lektüre über unsere Ära ist weiterhin „Die Pest in London“ von Daniel Defoe. Auf dem Höhepunkt der Epidemie 1665/66 starben über 1000 Londoner täglich, und immer mehr Häuser standen leer. Die Nachfrage nach Neubauten brach ein, und vom Baugewerbe hingen abertausende Handwerker ab, die pleite gingen - was damals bedeutete, dass es nichts mehr zu essen gab, nicht einmal zähes Mus. Im September 1666 schloss sich an die Epidemie der „große Brand“ an, dem nicht nur viele der wenigen Rest-Bewohner erlagen, sondern auch praktisch alle Pesterreger tragenden Flöhe und Ratten.
Mit diesem fortissimo-Schlussakkord in Moll endete „The great Plague“, und für das Handwerk ging es wieder aufwärts.
Keine Ahnung, was wir heutigen Coronesen aus dieser Geschichte lernen können.
15.9.
Ein gutes Beispiel für das, was die Skeptiker skeptisch werden lässt und den weit verbreiteten Hang zur Verschwörungstheorie erklärbar macht:
Am Sonntag wurde Hendrik Streeck ganzseitig von der „Welt am Sonntag“ interviewt.
U.a. ging es um die Infektionssterblichkeitsrate (IFR) von Covid-19. In der Heinsbergstudie wurde diese mit 0,4 % angegeben, also viermal höher als bei der Influenza.
Streeck wurde vorgeworfen, dass die Zahl deutlich zu niedrig angesetzt sei, und er verteidigte sich mit dem Verweis auf Studien aus Island und den USA, die zu einem ähnlichen Ergebnis kamen. „Aber es gibt auch Studien“, so Streeck weiter, „die eine höhere IFR annehmen.“
Soweit, so gut.
Heute nun erscheint in der Süddeutschen Zeitung ein „Faktencheck“, der das Buch „Corona Fehlalarm“ von Sucharit Bhakdi unter die Lupe nimmt.
Bhakdi behauptet, die IFR unterscheide sich nicht wesentlich von der Grippe, und die Süddeutsche Zeitung hält dem entgegen, dass die meisten Wissenschaftler von einer IFR von 0,5-1% ausgehen.
Es ist - zumal für einen Laien - witzlos, darüber zu diskutieren, wer Recht hat und welche Zahl die Realität am präzisesten abbildet.
Es fällt allerdings auf, dass die Süddeutsche Zeitung von höheren Zahlen ausgeht als Streeck. Nimmt Streeck im internationalen Forscherfeld eine Außenseiterposition ein?
Sogleich vermute ich, dass die beiden Autoren des „Faktenchecks“ die Heinsbergstudie für unseriös halten. Sind ihnen die isländische und die US-Studie unbekannt, auf die Streeck sich bezieht? Wer sind die erwähnten „meisten“ Wissenschaftler? Hat die Zeitung abstimmen lassen? Oder spricht gegen die Heinsbergstudie, dass diese von Bhakdi in seinem Buch als die einzige in Deutschland durchgeführte Studie erwähnt wird, aus der sich Rückschlüsse, etwa auf die IFR, ziehen lassen?
Ich bin weder ein „Streeck-Ultra“, noch möchte ich Bhakti verteidigen, i wo, aber die Autoren des „Faktenchecks“ bringen mich, den lakonischen Verteidiger aller demokratisch beschlossenen Anti-Corona-Maßnahmen, ins Grübeln. Wähnen sie sich - womöglich, ohne sich dessen bewusst zu sein - in einem ideologischen Kampf „Disziplin vs. Risiko“, also „Vernunft gegen Covidioten“? Gehört Streeck in den Augen der Süddeutschen Zeitung gar ebenfalls zu den „Leugnern“, den „Verharmlosern“? Oder höre ich die Fruchtfliegen husten bzw habe irgendein Detail falsch verstanden? Man hätte Streeck wenigstens erwähnen müssen, um Fragen wie die meinigen erst gar nicht aufkommen zu lassen.
Im Laufe des Tages gerate ich zunehmend in Unruhe: Mache ich etwa eine Fruchtfliege zum Rhinozeros?
Langsam habe ich Sorge, dass die Pandemie mich zum Paranoiker macht, Popp-Popp-Stolizei, dass ich in jedes „Geht‘s gut?“ einen Verweis auf den Microsoft-Gründer hineininterpretiere, dass ich Abos kündige, auf Russen-WhatsApp umsteige, dass ich mit Taschenlampe vorm Spiegel stehe und nach dem Chip suche, der mir per Wattestäbchen durch die Nase ins Hirn getackert wurde.
Uff. Wie sang Hildegard Knef? „Ich brauch‘ Tapetenwechsel, sprach die Birke, und machte sich in der Dämmerung auf den Weg...“
16.9.
„Äh...Du hast was gemacht?“ Mir fällt fast die Kaffeetasse aus der Hand.
„Ich habe unsere Wohnung gekündigt. Zum 1.1.21. Ich mag keinen Streit mit den Nachbarn, und sie war eh recht teuer für uns Corona-Künstler“ - „Stimmt. Aber wo sollen wir dann hin?“ - „Das besprechen wir jetzt“.
Ich hole Papier und Bleistift zum Esstisch, und abwechselnd schlagen wir uns Wohnideen vor.
„Wir könnten mit einem Caravan quer durch Europa fahren“. - „Brumm-brumm. Ich bin nicht sonderlich Auto-affin, außerdem ist dann Winter, und Thomas D. & Jenny Elvers haben das auch schon mal gemacht, Ende der 90er. Ansonsten gut.“
„Wie wär’s mit Dangast am Jadebusen, meinem Lieblingsort?“ Meine Frau tut so, als würden ihr kalte Schauer über den Rücken laufen.
„Erstmal ein paar Wochen Indoor-Zelt? Im Tropical Island?“ Wir schütteln beide mit dem Kopf und lachen. Sicher langfristig nicht gesund, die chlorhaltige Luft.
„Afrika? Dakar? Da wollte ich immer schon mal hin!“ - „Ja, engere Wahl“, sagt meine Frau. „Kinderarztbesuche laufen dort aber anders ab als hier“, schränke ich ein.
„Mit Tandem und Kinderanhänger über die Route 66?“ - „Zuviel Schnee und vielleicht zu wenige Spielplätze am Wegesrand“.
„Wo bleiben eigentlich unsere Möbel?“ - „Wird alles verkauft“, bestimmt meine Frau.
„Du hattest doch neulich ein Angebot für eine Gesangsprofessur in China? Wie hieß das Kaff?“ - „Kaff ist gut, Guangzhou ist eine Millionenstadt. Die warben mit ihrer sauberen Luft, tsts“.
„Sizilien fände ich auch gut, Bornholm oder Malle“. - „Ist da nicht Corona?“ - „Doch, leider. In Deutschland würde mich Hildesheim reizen. Löbau. Oder Hamburg-Wilhelmsburg, da habe ich mir doch neulich sogar mal eine Wohnung angeschaut. Oder Finkenwerder; von dort könnte man immer mit der Hafenfähre in die Stadt fahren!“
„Oder wir suchen deutschlandweit das billigste Haus ever. Ich sach mal: Kurz vor Stettin könnte man fündig werden. Möglicherweise auch im Pfälzer Wald, oder hinter Deggendorf“.
„Heureka; Hausboot! Da gab‘s doch mal die „Havel Lady“ bei ebay; soll ich nachschauen, ob das Schiff noch da ist?“ - „Vergiss nicht, unsere Kinder können noch nicht schwimmen“.
Was ist eigentlich mit unserer Hütte? Da können wir doch auch hin.“ - „Bei zwei Meter Schnee und minus zwanzig Grad? Ein paar Tage gerne, aber für länger? Pardon, das pack‘ ich nicht“.
„Venedig, das wäre was!“ - „Sind die Mieten dort hoch?“ - „Keine Ahnung. Die Kaufpreise können nicht so gewaltig sein, geht ja sowieso alles in ein paar Jahren koppheister“ - „Wer spricht von kaufen? Natürlich nur mieten. Man muss ja erstmal checken, ob die Gegend uns behagt“.
„Wie sieht’s eigentlich mit Arbeit aus, kommt da noch was? Für uns?“ - „Schwer zu sagen. Brauchbare Verkehrsanbindung könnte günstig sein, aber vielleicht müssen wir sowieso umschulen, und dann machen wir, was vor Ort möglich ist“.
„Wilhelmshaven soll bei Künstlernaturen besonders beliebt sein, wegen der niedrigen Lebenshaltungskosten - hat mir mal jemand von der dortigen Stadtverwaltung erzählt“ - „Naja; dann allerdings können wir auch gleich zu meinen Eltern nach Oldenburg ziehen - das Haus nebenan steht leer.
Und so vergehen die Stunden, und das Blatt Papier füllt sich.
Bin gespannt, wo es uns am Ende unserer Wohnsitzsuche hintreibt...
Zum 1.1. sind wir auf jeden Fall weg.
17.9.
Gestatten, Schweinepest. Afrikanische Schweinepest. Das neue Corona, wenigstens in den Nachrichten. Und die Folgen nicht nur für die Neuinfizierten sind dramatisch: Fast immer verläuft diese Krankheit tödlich - jedenfalls wenn man ein Schwein ist in dieser Welt.
Die Allesfresser mit der Steckdosennase haben soeben ihr eigenes Nine-eleven erlebt: Die EU hat an diesem Tag drei Landkreise an der Spree zum Seuchengebiet erklärt. Betroffene Zonen werden mit Elektrozaun umgeben. Betreten verboten, außer von Jägern, die jedes Wildschwein in dieser Kernzone töten MÜSSEN.
Fälle in Schweinemastbetrieben haben zur Folge, dass sämtliche Tiere ebenfalls sofort liquidiert und auf sichere Weise beseitigt werden müssen.
Kurz male ich mir aus, was es für unsere Gesellschaft bedeuten würde, wenn man gegen Covid-19 mit vergleichbaren Mitteln vorgegangen wäre. Was ist die menschliche Entsprechung für einen Schweinemastbetrieb? Ein Schnellrestaurant? Kantine?
Alle notschlachten, und dann kommt der Nettoyeur, wie er bei Luc Besson heisst.
Ja, kranken Artgenossen gewähren wir Menschen schonendere Therapien.
Schön ist es, auf der Welt zu sein - wohlgemerkt als Mensch! Nur im Einzelfall stört das homo-sapiensche - zB, wenn’s um Fehlfunktionen der Verdauung geht. Da werden wir rot und sprechen vom „Allzumenschlichen“.
Eine alte Frau wurde nachmittags am Romanplatz von Durchfall ereilt. Die verzweifelte und verwirrte Dame sitzt auf dem Gehweg und hat ihre weißen, nunmehr gebräunten Hosen bereits ausgezogen. Meine Gattin kommt mit den Kindern vorbei, hilft ihr auf und begleitet die konsternierte Halbnackte durch den Spätsommertag zu ihrer Wohnung. Bald stoße auch ich hinzu, reiche Feuchttücher und eskortiere. Den Tränen nah stammelt die Dame immer wieder, dass ihr so etwas noch nie passiert sei. Ich erzähle ihr daraufhin (wahrheitsgemäß), dass mir ähnliches Ungemach in den letzten zwanzig Jahren mindestens dreimal widerfahren ist, einmal in Potsdam, früh morgens, direkt vorm Schloss Sanssouci, was ich grimmig grinsend mit dem Slogan „Ich scheiss auf Preußen“ kommentierte.
Nach fünfhundert mühsamen Metern am Schiebegriff unseres Kinderwagens (einem Rollator ebenbürtig) erreichen wir die Wohnung der Verdurchfallten, und Teresa hilft ihr noch in die Badewanne.
Ich bin sehr stolz: Erstens auf meine wunderbare Frau, aber auch auf die wackere Nachbarin, die heute ihre Premiere im Jenseits-der-Kindheit-in-die-Hose-kacken feierte, mit 84 recht spät, wie ich finde. Und da ich glaube, dass dieses Schicksal nicht nur uns alle eines Tages ereilt, sondern sogar unerlässlicher Teil einer kompletten Erfahrung dieses Dingsbums ist, das wir „Leben“ nennen, hat sie heute subjektiv gewiss eine Peinlichkeit erlebt, objektiv jedoch ihrem Dasein einen weiteren interessanten Mosaikstein hinzugefügt. Ja, von mir aus einen braunen.
Und nun ein besonders herzlicher Dank an all die Leser, die uns mit Tipps, Wohnungsangeboten und guten Ratschlägen beglückt haben! Nirgends auf dem facebook-Kontinent begegnet man so netten Leuten wie hier, in den Kommentaren unter meiner Coronik. Warum dies so ist, weiß ich nicht. Womöglich schreckt die Bildlosigkeit in Kombination mit länglichem Text Raudies und Einfaltspinsel ab, schrieb mir unlängst eine Leserin.
Wie auch immer: Heißen Dank Euch allen!
18.9.
Raus aus der Stadt, rauf auf die Berge, zur fröhlichen Pilzsuche. Zunächst stellen wir von der Hütte aus auf mittlerer Höhe Steinpilzen nach, finden jedoch nichts. Wohl zu spät dran. Dann schnalle ich mir Theo nochmals auf den Rücken und gehe auf Franz’ alter Skitourenroute durch den Wald. Und siehe da: Ein paar große, dotterfarbene Pfifferlinge - damit kann man in der frühherbstlichen Hüttenküche einiges anstellen.
Natürlich denke ich sofort an Löbau vor einem Jahr. Damals nämlich drehten wir im Haus Schminke „Privatkonzert“ für DW und MDR, und in den Pausen gingen Managerin Steffi und ich im Garten auf Pilzsuche. Ich hatte, angeregt von meinem Schwiegervater, soeben die Welt der Pilze für mich entdeckt, eine Lern-App heruntergeladen und versuchte, alles zu bestimmen, was nicht niet- und nagelfest war. Im Garten entdeckten wir unter anderem Rickens Riesenschirmling und einen Pfifferling. Dachten wir. Jedenfalls spielten wir mit der Idee, den „Pfifferling“ beim Catering abzugeben und braten zu lassen, und wir hätten die Idee auch gewiss realisiert, wenn ich nicht verfrüht zu einer Probe gebeten worden wäre. Später lud ich ein Bild meines „Pfifferlings“ auf meiner App hoch und wurde darauf hingewiesen, dass mein „Pfifferling“ in Wirklichkeit ein Kahler Krempling sei, ein Blätterpilz, der das sogenannte Paxillus-Syndrom auslösen kann, eine Pilzvergiftung, die mit etwas Pech geradewegs unter den Sargdeckel führt.
Anschließend beömmelten sich Steffi und ich in den Drehpausen über die hübsche Fernsehidee, zwei Prominente Pilze sammeln zu lassen, die anschließend von ihnen zubereitet und verzehrt werden. Stimmungsvolle Waldbilder, urige Hütte, und zum Abspann hört man Dialogfetzen à la „Mir ist ein bisschen flau im Magen“, „wo bitte gehts zum 00?“ oder „Was macht eigentlich der feuerspeiende Jumbo Jet hier im Hallenbad - und warum schlägt er mit den Flügeln?“
Jetzt also zweiter Versuch. Vorsichtshalber lassen wir die Fundstücke per WhatsApp von einer Pilzfachfrau aus dem Freundeskreis für unbedenklich erklären (gibt einem auf den letzten Metern ein gutes Gefühl). Dann rein in die Pfanne mit den Cantharellaceae, salzen, Petersilie dazu, fertig. Wir garen extra lange (als wenn uns das bei einer Verwechslung retten könnte), und vorsichtshalber kriegen die Kinder nichts - wobei uns, als die Pfanne schon halb leer ist, der Gedanke kommt, dass es für die Kleinen sicher auch nicht optimal ist, wenn beide Eltern wimmernd ausfallen und sie auf sich alleine gestellt sind.
20:49 Uhr. Ich schreibe vorsichtshalber schonmal diesen Tagebucheintrag, für den Fall, dass die Nacht spannender verläuft als erhofft. Tja. Vielleicht sollte ich mich gar nicht so sehr auf mein intestinales Geschehen konzentrieren, auch nicht im Tagebuch - wobei Diary und Diarrhea wenigstens im Englischen miteinander verschwistert erscheinen.
Was gibt’s also sonst noch mitzuteilen? Im Supermarkt unten im Zillertal herrscht wieder Maskenpflicht, und „Die Presse“ titelt: „Berlin warnt vor Wien“. Jetzt geht das wieder los. Noch ein paar Zischlaute, Watschn, Leberhaken, dann sind die Grenzen wieder zu - und wir sitzen in der Hütte und warten auf den ersten Schnee.
22:00 Uhr. Wenn die Pfifferlinge in Wirklichkeit verkleidete Fliegenpilze waren, müsste man doch so langsam irgendwas merken, oder? Ich lege mich jetzt ins Bett und terminiere diesen Beitrag vorsichtshalber auf sechs Uhr morgen früh. Sollte ich die Nacht nicht überleben, kann mein Tagebuch nichtsdestotrotz von den letzten Stunden künden. We did it. Geschmeckt hat’s prima.
P.S.: 6:03 Uhr. Entwarnung; alle wohlauf. Premiere erfolgreich. Guten Morgen allerseits.
19.9.
Moria. Es gibt geografische Bezeichnungen, die Karriere gemacht haben: Ramstein, Eschede, Harrisburg, Waterloo - Moria könnte durchaus einen Platz in diesem Städtebund des Schreckens beanspruchen. Und so wie man bei Eschede sogleich an ICE denkt und bei Harrisburg an AKW, so verbinde ich Moria spontan mit gleich zwei Kürzeln: EU und k.o. Die Geschichte des Lagers, aus der Not geboren, im Feuer bestattet, symbolisiert die dramatischste Schwäche der EU. Wir (und damit meine ich: wir Europäer) sind offenbar nicht nur unfähig, uns auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zu verständigen, wir schaffen es noch nicht einmal, uns auf ein kleines 1 x 1 des zwischenmenschlichen Umgangs zu einigen. Ich konstatiere maximal nüchtern: Die einen finden es vertretbar, Tränengas auf Kinder zu schießen, die anderen eher nicht.
Der Weg von Moria zu Corona ist nicht weit; auch bei der Seuchenbekämpfung ergab man sich der Schlagbaumeritis: Schotten dicht und fertig; medizinische Exportgüter wurden an der Grenze für den Eigenbedarf einkassiert, auch wenn der Besteller die Container bereits bezahlt hatte. Rücksichtslosigkeit statt Kooperation.
Nun ist es nicht so, dass es nationale Egoisten nur in Ungarn und umzu gibt, auch bei uns denkt manch Politiker nur von Veitshöchheim bis Berchtesgaden, und auch bei uns scharen genau diese Dünnbrett-Volkstribune Mehrheiten hinter sich.
Wie umgehen mit diesem doppelten Kentern der EU? Für Deutschland ist die EU eine tolle Sache, aber nur die Eintracht mit Frankreich ist im engeren Sinne lebenswichtig. Wenn also die EU ansonsten aus destruktiven Eigenbrötlern besteht, so lasst uns einstweilen geduldig sein, aber dafür das Verhältnis zu Frankreich renovieren und vertiefen. Eintracht ist gefragt, und die gibt es nur, wenn Deutschland auf Alleingänge nach Art Schröderscher Gaspipelines verzichtet (Ob ich nicht doch bei „Volt“ mitmachen sollte?)
Hilfe, jetzt politisiere ich schon wieder. Das ist bei mir abends häufig der Fall, wenn ich große Teile des Tages mit meiner Familie auf einer Picknickdecke verbracht habe und Bauklötze auf der Basis von Brennholz mithilfe dreier Matchbox-Baufahrzeuge zu rustikal anmutenden Wohngebäuden aufgetürmt habe, in denen zwei preiswerte Playmobil-Plagiate hausen.
Und wenn ich nicht gerade politisiere, Baustelle spiele, Windeln wechsle oder verzweifelte Freunde aus meiner Branche am Telefon tröste, träume ich mich mit Teresa an die unterschiedlichsten Orte, um deren Tauglichkeit als unseren neuen Lebensmittelpunkt zu antizipieren. Heute klar vorn: Venedig. Ich sehe mich in schwarzem Kleppermantel mit Vatermörder und Kreissäge durch die Winternebel spazieren, dann paddle ich in einer futuristisch bemalten Colani-Pirogge durch die Grachten, oder wie das dort heißt, als fleischgewordener Mix aus Birgit Fischer und Lorenzo da Ponte.
In diesem Tagtraum werden wir waschechte Venezianer, und zwar aus reinem Spaß an den Freuden der temporären Assimilation (bei einem harten Lockdown ist Venedig aber auch nicht viel besser als Hürth-Kalscheuren).
20.9.
Muh! An manchen jener Tage, die ich in dieser Coronik aufbereite, komme ich mir vor wie ein Wiederkäuer. Steigende Zahlen, fallende Zahlen - das erinnert nicht nur sprachlich an „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, es ist eine Daily Soap mit hunderten Folgen, in der wir mitspielen, die Plots wiederholen sich, vielleicht auch, weil der Autor im fensterlosen Verschlag ganz alleine schreibt, alleine schon aus Kostengründen, und wir, die Darsteller und Komparsen, gähnen verstohlen, wenn zB, so wie heute in München, mal wieder über mathematische Modelle gestritten wird.
Oberbürgermeister Dieter Reiter kritisiert das RKI, weil es für die Berechnung der Neuinfizierten veraltete Einwohnerzahlen verwendet, nämlich jene vom 31.12.2018. Damals zählte München 1,47 Millionen Einwohner, heute jedoch sind es 1,56 - fast 100.000 mehr. Mit den aktuellen Zahlen würde München unter der kritischen Marke von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohnern bleiben (nämlich bei 47,6).
Die Hauptfrage, die ich mir indessen stelle, lautet: Was zum Teufel wollen all die Leute hier? Ja, die Isar plätschert anmutig, ja, nirgendwo sonst werden Fans krachlederner Beinkleider weniger scheel angesehen, aber andererseits: Das Oktoberfest ist démodé und dann die Mieten! Erst kürzlich fragte ein Bekannter aus Tirol, was man denn in München fürs Wohnen so zahle, meine Frau nannte den Quadratmeterpreis, woraufhin unser Gesprächspartner auf der Stelle rückwärts aus den Latschen kippte und pulslos nach Luft rang.
Es ist kein Wunder, sondern unter anderem haushalterische Vernunft, dass die Familie Boning sich anderweitig nach einem Dach umsieht - was wiederum unangenehme Folgen für die Argumentation des Oberbürgermeisters hat: Wenn wir gehen, nähert sich die Neuinfiziertenzahl wiederum der magischen 50, jedenfalls solange, wie wir gesund bleiben.
Tja, solch eine Story zieht die Wurst nicht vom Tisch, wie mein alter Freund und Kupferstecher Olli Dittrich zu sagen pflegt, und ich erwäge, an Tagen wie diesen meine Daily Soap um unerwartete Nebenplots zu ergänzen, zB Kochrezepte.
Meine Oma Gerda hat in den Zwanzigern als Beiköchin auf Norderney gearbeitet, meine Mama wuchs sozusagen in einem Profihaushalt auf und ist selber eine äußerst talentierte Köchin.
An ihren Kreationen gefällt mir vor allem, wie einfach sie aufgebaut sind. Erstes Beispiel: Schalotten (einen Beutel) halbieren, in Öl braten, mit Weißwein ablöschen. Sauce Hollandaise, Kapern und Dosenthunfisch dazu. Schmeckt besonders gut mit Jugendherbergsnudeln.
Zweites Beispiel: Pumpernickel in Rollenform. Auf jedes der runden Plätzchen kommt Philadelphia oder ein anderer Frischkäse (ich bin ein Fan der amerikanischen Unabhängkeitserklärung, die bekanntlich in Pennsylvania unterzeichnet wurde, darum bin ich in diesem Falle markentreu). Sodann belege man das befrischkäste Pumpernickelplätzchen mit Rumrosinen (ich setze diese einige Tage zuvor selber an) und kröne das ganze mit reichlich rotem Pfeffer.
Ja, das klingt nicht nur verwegen, sondern das ist es auch! Ich garantiere, dass das ungewöhnliche Geschmackserlebnis auch Neuinfiziertenzahlen oberhalb der magic fifty wenigstens für eine gute Sekunde vergessen lässt.
Guten Appetit!
21.9.
Alles fließt, alles ist in der Schwebe, und wir sind selber dafür verantwortlich. Fest steht lediglich, dass man den Winter mit zwei kleinen Kindern wohl eher nicht auf der Hütte verbringen kann. Natürlich hatte ich auch dies durchgespielt: Man bräuchte einen Skidoo, um bei Bedarf zügig zum Wanderparkplatz zu gelangen, bis zu dem die Straße geräumt wird. Ein, eher zweimal pro Woche würde man so zum Einkaufen kommen und anschließend die Therme in Fügen besuchen, um mit den Kindern planschen zu gehen, selber richtig sauber zu werden und um anderen Kindern zu begegnen (unsere Dusche ist nur sommertauglich, und den Kindern würden in der Höhe die Spielkameraden sicher fehlen). Da aber Wetterlagen auftreten können, die auch einen Skidoo kapitulieren lassen, würde die Speisekammer gut gefüllt werden müssen, um zur Not auch einen Monat in der Höhe überleben zu können. Bei diesem Gedanken registriere ich eine angenehme Pulserhöhung; ich denke an Langzeitaufenthalte auf der ISS und an das Trapperdrama „Wie ein Schrei im Wind“ mit Rita Tushingham und Oliver Reed.
Die Holzkammer will unser Verpächter Franz sowieso noch vor Wintereinbruch füllen, zudem müsste man zugunsten wärmerer Nächte ein-, besser zweihundert Briketts einlagern, überdies müsste die Hausapotheke auf Profiniveau gebracht werden.
Man würde gewiss sehr viel Schnee schaufeln, um auch den Aussenbereich so wohnlich wie möglich zu gestalten - wenigstens mit dem Ziel der Schwarzräumung. Aber weiter muss ich gar nicht denken; Teresa hat bereits abgewunken - sie hätte das Gefühl, eingesperrt zu sein. Zurecht. Gegen einen Winter in der Hütte wäre auch ein harter Lockdown pillepalle.
Wohin also mit uns?
Und so gesellen sich in meine Gebete erstmals nach acht Jahren zu den Lobeshymnen und Danksagungen zaghafte Bitten, allerdings etikettiert mit der Einschränkung, dass meine Bitten sich mit einer Art Luxusverwirrung beschäftigen, einer Not, mit der ich meinen lieben Gott eigentlich nicht behelligen möchte. Gott hat eh genug zu tun; so‘ne Schöpfung erledigt sich nicht nur nicht von alleine, sie will auch weiterhin gepflegt werden. Die Idee, die Alltagsarbeit an die Evolution zu delegieren, hat sich im Grunde bewährt, aber weiterhin klingelt alle Nase lang irgendwer durch und beschwert sich über Petitessen.
Wer gesund ist, verteufelt gut aussieht und gerade noch den letzten Teller leckerstes Pfifferlings-Risotto verzehrt hat, sollte sich wunschlos auf dem Canapé recken und mit Vertrauen alles begrüßen, was da kommen mag.
Leukämiepatienten haben größere Berechtigung, bang in die Zukunft zu blicken: In der Pandemie wurden Typisierungsaktionen, bei denen sich potentielle Knochenmarkspender registrieren lassen können, ausgesetzt. 20.000 Stammzellenspender fehlen in diesem Jahr. Interessierte können sich fürderhin online anmelden, und ich kann nur herzlich darum bitten, diese Möglichkeit zu nutzen. So‘ne Typisierung kann Leben retten und ist dabei noch weniger lästig als zB ein Corona-Test. Ich selber war immerhin schonmal in der engeren Auswahl für eine Knochenmarkspende und hoffe, dass ich‘s eines Tages ins Finale schaffe, gewinne und mich auch auf diese Weise nützlich machen kann.
22.9.
Ab Donnerstag gilt in München an bestimmten öffentlichen Plätzen Maskenpflicht - im Grunde in der gesamten Innenstadt. All jene, die partout unmaskiert München durchschlendern wollen, sollten heute losziehen. Gilt auch für alle Junggesellenabschiede und sonstigen Feierbiester. Wäre mir mein Pegel wichtig: Jetzt oder nie! Wer weiß, ob man jemals wieder so jung zusammen kommt!
Streeck vorgestern bei Anne Will: „Es ist unseriös zu behaupten, dann und dann gibt’s einen Impfstoff. Das kann auch erst in fünf oder zehn Jahren soweit sein“. Ich habe einen lieben Kollegen, der bis Corona viel öffentlich auftrat und mir in den letzten Monaten mantrisch zu sagen pflegte: „In Frühling ist es soweit; ich habe Kontakte nach Amerika - die sind ganz nah dran!“ Mittlerweile gefalle ich mir als Pessimist und behaupte: Auf die Maskenpflicht wird ein europaweites Alkoholverbot folgen, und alle Theater und Tanzlokale werden umgebaut zu Gesundheitsvorsorge-Centren.
Sie ist nämlich heute das Wichtigste, die Gesundheit. Ist doch frappierend, wie sich das geändert hat: Von Napoleon bis Hitler galt als grösste Tugend, unerschrocken vorzurücken, hinein ins gegnerische Maschinengewehrfeuer - zum Wohle der Volksgemeinschaft. Und heute ist Vorsicht angesagt, im Dienste der Solidarität. Und lernte man noch in der DDR als Schüler, mit Stabhandgranaten auf den Klassenfeind loszugehen, so lernen heute die ABC-Schützen als allererstes, dem Virus aus dem Weg zu gehen.
Die Bayerische Staatsoper als Tempel des Wohlbefindens: Traviata ist sehr krank, Mimi auch, Makropoulos lebt ewig - das sind die Plots unserer Zeit, der Rest kann weg, und in den Logen darf unter Opernbegleitung getestet, beraten und therapiert werden.
Fest steht, dass alle Verschärfungen der Maßnahmen auch weiterhin grundsätzlich von Markus Söder bekannt gegeben werden - immer zwei Stunden vor Bürgermeister Dieter Reiter. 18% aller Deutschen sind die Maßnahmen zu lasch, und dieses Wählerpotential will geborgen werden! Ein Verbot der aerosolintensiven Konsonanten p, t und k rege ich zu diesem Zwecke an. „Potzblitz!“ schleudert explosiv gefährliche Virenmengen in den Luftraum, „Papa“ gleicht die doppelte Dosis. Schluss damit, sagt gefälligst „Du liebe Güte!“ und „Vater“, und alle bleiben gesund.
Dem Wahlerfolg zuliebe gehört auf den Prüfstand ferner die Freundschaft. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es Freunde waren, deren Pranken ich packte, bereits zu Zeiten, als noch Polizisten Sitzende von Parkbänken vertrieben. „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das schönste, was es gibt auf der Welt“ sang Heinz Rühmann, und heute ist man geneigt hinzuzufügen: ...und das ungesündeste auch. Freunde essen gemeinsam, trinken gar, prosten sich zu, und schon das Aneinanderschlagen der vollen Gläser kann - theoretisch - die tödliche Virenlast von Glas zu Glas übertragen. Freund und Superspreader - das sind doch Synonyme, Plagegeister, auf die wir gerne verzichten. Lasst uns alleine durchs Leben gehen, uns gegenseitig blockieren, ghosten, vergessen.
21:26 Uhr. Hart aber Fair. Karl Lauterbach spricht. Kurz bevor Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt wurde, traf ich ihn zufällig in Köln auf der Straße, und ich lobte ihn spontan dafür, dass er als SPDler Partei für die CDU-Kandidatin ergriffen hatte. Heute bin ich unsicher, ob Von der Leyen die Richtige ist - der Kommissionspräsidentin fehlt offenkundig die Autorität, um der EU in der Krise Gewicht zu verleihen.
Und Lauterbach? Ich will nichts böses über ihn schreiben; er kann ja auch nicht aus seiner Haut. Nur: Ich kann nicht mehr. Ich habe eine Überdosis seines Gesäusels intus, und mein Körper wehrt sich, wie nach einer schleichenden, täglichen Blei- oder Arsenzufuhr. Noch drei Lauterbach-Auftritte, und ich muss auf Kur. Ich brauche einen strengen Lauterbachdown; der L-Wert muss deutlich unter 1 gedrückt werden, sonst gehe ich den Bach runter.
23.9.
„Geh doch rüber!“ - dies rieten früher die Konservativen jenen, die die Welt anders sahen, sozialistisch, links, „progressiv“, wie man in meiner Kindheit sagte. Den ganz jungen sei verraten, dass mit „rüber“ „über die Zonengrenze“ gemeint war, in die DDR.
Die zeitgemäße Abwandlung las ich gestern, in folgendem Kommentar über mein Tagebuch: „(...)Vielleicht sollte Wigald Boning in die USA gehen, wo Donald Trump strikt gegen Masken tragen ist, aber dafür seit gestern 200.000 Tote zu zählen sind. Da sind Menschen, die Familienmitglieder verloren haben. Das ist doch nicht komisch, sondern maßlos traurig“.
Die Frau hat recht; die Lage in USA ist alles andere als lustig. Aber warum sollte ich „rüber“ gehen, zu Donald Trump? Offenkundig liegt ein Missverständnis vor. Ich habe nichts gegen Masken, halte auch den Einsatz von Masken in der Münchener Innenstadt, über den ich gestern schrieb, für sinnvoll, zumal, wenn er ermöglicht, dass Kindergärten weiterhin geöffnet werden.
Vielleicht aber habe ich in den Augen der Leserin dem Maßnahmenpaket zu wenig zugestimmt, offensiv und ironiefrei, ohne verschmitztes Nachfragen, dafür möglichst mit Hofknicks in Richtung Söder, des strengen Patriarchen, und mit laut bekundetem Respekt vor der epidemiologischen Lebensleistung des großen Mahners Karl Lauterbach.
„Bist du nicht mein Freund, bist du mein Feind“ urteilen die „Geh doch rüber“-Rufer und holen in ihrer hölzernen Analyse jene Querdenker ein, deren politisches Rüstzeug in einen Fingerhut passt, und die darum nicht erkennen, dass gemeinsame Demonstrationen mit Rechtsradikalen indiskutabel sind. Les extrêmes se touchent, hatschi, auch in der Welt der Viren.
Das ist etwas, was mir im Coronäikum extrem auf die Senkel meines MNS geht: die denkfaule Lagerbildung, das Unversöhnlich-Besserwisserische, und bei den Sagrotan-Moralisten ganz speziell der Hang zum Volkskommissariat, das den Andersdenkenden „nach drüben“ schicken oder gar mit dem „Erklärholz“ (hatten wir neulich auch schon mal) bearbeiten will.
Apropos. Im ethischen Fachgebiet Maskenmoral bewegt mich eine Frage in den letzten Tagen ganz konkret: Wir schützen uns mit Alltagsmasken gegenseitig - soweit, so gut. Was aber ist mit jenen, die FFP-Masken mit Ausatmungs-Ventil tragen? Während der Träger dieser Masken selber geschützt ist, entweicht dessen Atemluft durch das Ventil ungefiltert. Sind diese Masken in der Öffentlichkeit erlaubt? Unsereiner schützt Greti und Pleti, der FFP-Mensch pustet Greti und Pleti sein Aerosol ins Gesicht! Da ist doch eine Unwucht, oder?
Bei Sträter in Köln. Torsten Sträter ist einer meiner Helden in der Wirklichkeit, und das weiß er auch. Es ist ein merkwürdiges Privileg, das wir Fernsehonkels genießen: Sobald wir geschminkt sind, müssen wir keine Masken tragen, auch nicht rituell vor der Kamera, als eines jener „Signale“, die Leutnant Lauterbach immer wieder so dringend anmahnt. Dafür müssen wir auf den nach der Aufzeichnung obligatorischen Selfis mit Fans auf Abstand achten. Seit „Die Doofen“ bin ich dran gewöhnt, dass Fans mir fürs Foto auf die Pelle rücken, und jetzt bin ich es, der die mitunter aufgeregten Anhänger freundlich an unsere Abstandspflichten erinnert: „Wir haben Corona, bitte nicht ankuscheln!“ Ich fühle mich dann manchmal etwas spießig, aber: Et hilft ja nix.
P.S.: Wer sind eigentlich Greti und Pleti? Wo kommt das her?
24.9.
Als Münchener darf ich nicht mehr nach Mecklenburg-Vorpommern einreisen, was mein Leben zweifellos vereinfacht.
Ist nicht die enorme Vielfalt an Möglichkeiten eine der schwersten Bürden, die wir Wohlstandsweltler zu schultern haben? Das geht schon morgens beim Kaffee los: Früher gab’s Jacobs Krönung, mit Zucker und/oder Milch. Ich muss noch bei den Osternburger Nonnen im Kindergarten „Jungs die Mädchen“ und „Mädchen die Jungs“ gespielt haben, als ich erstmals von „Idee-Kaffee“ hörte, reizarm und magenfreundlich. Dann: Entcoffeiniert. Nescafé Gold, etcetera. Und heute? Americano, Latte freddo, Capuccino medium, large, espresso doppio, mit Karamel usw.
Ich habe Verständnis für jeden, der sich von Starbucks und Co überfordert fühlt und die einfachen Lösungen von anno dazumal bevorzugt, registriere ich doch auch an mir eine gewisse Trotzigkeit, mit der ich vermehrt zu jener Marke greife, welche ich mit der blonden Frau Sommer in Verbindung bringe, die von mir per Hand gebrüht wird (die gute Tasse Kaffee, nicht Frau Sommer).
Nicht nur McPomm ist für mich fortan Tabu, in einigen anderen Bundesländern dürfen mich Berherbergungsbetriebe nicht übernachten lassen. Scheint so, als müsste ich demnächst bei manchen Jobs mein kleines Zelt einpacken, um wild zu campieren - eine Aussicht, die mich keineswegs schreckt, sondern meine Reiselust eher intensiviert.
Aber gemach: So viele Jobs sind da nicht in nächster Zeit, was mir die Gelegenheit gibt, lange verschüttete Fertigkeiten wieder auszugraben. Heute zB schicke ich ein Passfoto zum Landesfischereiverband Weser-Ems. Nach nettem Mailverkehr weiß ich, dass ich mir einen neuen Angelschein ausstellen lassen kann; mein Exemplar habe ich Mitte der 80er verloren. Ungefähr mit 14 habe ich die Prüfung abgelegt und anschließend nicht einen einzigen Fisch mehr an Land gezogen (vorher, als Schwarzangler, ging auch nicht viel, aber mehr als 0).
Ich bin mir noch gar nicht sicher, ob ich mit neuem Ausweis überhaupt Angeln gehen werde, aber ich freue mich auf das Gefühl, dass ich‘s könnte, wenn ich denn wollte.
Pilzesammeln, Angeln: Untergründig drückt sich hier womöglich der Wunsch nach Ernährungsautonomie aus. Vielleicht sollte ich mich auch mit der Papierherstellung beschäftigen, um höchstselbst Bütten für den Toilettengang in der Krise zu schöpfen.
Mein Lauf-Streak hält nunmehr einen Monat an. Im Schnitt laufe ich etwas weniger als 10 km täglich, ganz verhalten, um ja keine Überlastung zu riskieren. Der Anfang ist gemacht, wobei es sich wirklich nur um den allerersten Anfang handelt; in der amerikanischen Streaker-Vereinigung kann man sich überhaupt erst anmelden, wenn man ein Jahr bei der Stange geblieben ist. Es zeichnet sich immerhin ab, wie ich die Lauferei simpel in den Alltag integrieren kann: Meine schwarzen Barfußschuhe taugen zum Laufen, aber auch für alles andere, und heute bin ich sogar ein Ründchen in Badelatschen gejoggt, im Anzug, mit roter Aktentasche auf dem Rücken. Der Ranzen trägt sich sehr bequem, wenn man seine Riemen vor der Brust mit den Senkeln meines Mundschutzes zusammenbindet. Für mich gewinnt der Mundschutz damit enorm an Bedeutung: Fortan werde ich mich tagtäglich bereits morgens darauf freuen, ihn beim Sport einzubinden, und die Resteinsätze werden zur irrelevanten Nebensache.
25.9.
Roland Tichy - ich lerne erst jetzt, dass er mit der CDU zu tun hat(te). Meinte immer, sein Magazin sei sowas wie Compact, also mit Kleinanzeigen für Reichsbürger, Schießbude für Rotgrün-Hasser, und im Merchandising gibt’s Ernst Jünger-T-Shirts (die der Meister nie, niemals getragen hätte).
Tichy stolperte über einen Artikel, der gegen Sawsan Chebli gerichtet war, irgendwas mit „G-Punkt“; ich hab’ den Sachzusammenhang gar nicht genau begriffen, stutzte aber beim Wort „G-Punkt“ weil ich diese Bezeichnung so lange nicht mehr gehört hatte. Ich sah spontan Ruth Westheimer vor mir, die geniale Sexualtherapeutin, der zuliebe ich mich als junger Mann auch für ein Anthropologiestudium mit Schwerpunkt Sexualität hätte entscheiden können, wenn ich nicht innerlich schon sehr festgelegt gewesen wäre, nämlich auf ein Studium der Musikwissenschaft, einem anderen genialen Frankfurter zuliebe, nämlich Theodor W. Adorno (zum Studieren fehlte mir dann allerdings die Zeit - bis heute).
Einer der berühmten Sätze von Westheimer lautet übrigens: „Hört auf, nach dem G-Punkt zu suchen“ - Hätte Tichy doch auf sie gehört...
Gedanken, die mir durch den Kopf stolpern, während ich Gastro-Quittungen für die Steuererklärung ausfülle. Oder, genauer: zwischen dem Bearbeiten der einzelnen Quittungen, denn beim Schreiben selbst gehe ich äußerst konzentriert zur Sache. Diese Konzentration hat einen ganz konkreten Hintergrund:
Als sehr, sehr junger Mann erlaubte ich mir einmal einen, nun ja, steuerlichen Schabernack, indem ich auf einem Bewirtungsbeleg in das Fach „Bewirtete Personen:“ eintrug: „Dr. Ruth Westheimer, Arnold Schwarzenegger und Ion Tiriac“.
Es handelte sich um eine Quittung der „Nordsee“-Filiale in Bremen-Huchting über DM 19,90.
Als ich einige Jahre später einer ersten Betriebsprüfung unterzogen wurde, endete diese mit einem denkwürdigen Abschlussgespräch.
Ich betrat das Büro des Steuerprüfers, und auf dem Schreibtisch vor ihm lag das offenkundig verdächtige Dokument. Ich schluckte trocken, mein Kopf wurde rot. Der Betriebsprüfer fragte dieses, beanstandete jenes, nichts dolles, wie das in einem gut geführten Selbstständigenhaushalt eben so ist. Innerlich richtete ich mich auf ein besonders scharfes Verhör bezüglich meiner Westheimer-Schwarzenegger-Tiriac-Connection ein, improvisierte bereits lauter krude Geschichten, und der Betriebsprüfer registrierte mit einem feinen Schmunzeln meine steigende Unsicherheit.
Auf die vor ihm liegende Quittung ging er aber gar nicht ein, sagte schließlich lächelnd: „Das war’s!“ und schickte mich nach Hause.
Neben den Quittungen liegt die Süddeutsche Zeitung. Sie beschäftigt sich heute mit den Reichsten der Reichen und wie sie die Krise meistern. Privatinseln scheinen schwer angesagt, weil man auf diesen virensicher leben könne. In Daniel Defoes „Die Pest in London“ flüchten die Reichen auf Hausboote, die auf der Themse dümpeln, wobei es mir eigentlich widerstrebt, die Pest (vor der Erfindung des Penicillins) mit Covid-19 zu vergleichen.
Sah man damals die typischen Beulen am Körper, war klar: Jetzt noch ein paar Stunden, dann ist Schicht im Schacht.
Über Covid-19 lese ich in den letzten Tagen vermehrt, eine der gefürchteten Langzeitfolgen sei anhaltende Müdigkeit. Nun ja; um aus dem Dauergähnen nicht mehr herauszukommen, braucht unsereiner kein Corona, dazu reicht mir ein Stapel Bewirtungsbelege und ein Kugelschreiber.
So, weg mit dem Tagebuch, weg mit der Zeitung und ran an den Stapel, gähn.
26.9.
Ulm. In der Therme mit Cyprian, zum ersten Mal, seitdem Söder weiss-blaue Rautentischtücher im Gesicht trägt. Mein lieber Sohn hat uns einen QR-Code ergattert; piep, rein in den Umkleidebereich. Ausziehen, Maske vorsichtshalber mitnehmen.
Am Eingang der Sauna wird der Belegungsplan studiert, so’ne Art Grundrisszeichnung mit stilisierten Männekens. Acht Personen dürfen rein, aber nur sitzend, liegen verboten. Vielleicht, weil die Aerosole sonst vertikal unter die Decke geatmet werden, wo sie sich ubiquitär verteilen?
Tür auf; ein älterer Herr hockt bereits im Warmen. „Grüß Gott!“ Wir setzen uns nebeneinander, der Herr poltert sogleich los, dass wie Abstand halten sollen, aber er kommt sprachlich von der schwäbischen Alb und trägt beunruhigend unpassende Provisorien im Mund; es zischt, knattert und knirscht, als er uns zurechtweist.
Ich beschwichtige freundlich, wir seien „ein Hausstand“. Das ist zwar faktisch nicht ganz korrekt, aber gefühlt durchaus, und es erzielt seine Wirkung. „Vazer unz Zohn?“ erkundigt sich der Schwabe, jetzt ein freundlicher Mix aus Paul Panzer und dem König von Tonga. Wir nicken. Dann erzählt er, dass er seit 50 Jahren zum Schwitzen in die Sauna gehe, wobei ich ihn wirklich nur mit äußerster Mühe verstehe. Die erzwungene Saunapause habe ihm sehr zu schaffen gemacht, meine ich mir weiterhin zusammenzureimen. Ich kann allerdings nicht ausschließen, dass er uns in Wirklichkeit von seinem kürzlich verstorbenen Schweißhund namens Sunny berichtet, der ein halbes Jahrhundert alt wurde und dessen Ableben ihn in tiefe Trauer gestürzt habe. Als ich vorsichtshalber nachfrage: „Hund oder Sauna?“ behauptet er, er habe ein Gör gemäht, ausgenommen, weil es beim Zaun aka Putt gehe. Als ich nachfrage, warum man denn Gören überhaupt mähen müsse, ob man Zäune in Ulm schon immer „Putt“ nenne, und wo er denn überhaupt herkomme, erläutert Cyprian flüsternd, dass er sein Hörgerät rausgenommen habe, weil es in der Sauna kaputt gehe. Ach so.
Kaltduschen (jede zweite Brause gesperrt), dann rein ins Tauchbecken. Anschließend, so will es eines der überall herumhängenden Schilder, desinfiziere ich den Handlauf, „zu ihrer und unserer Sicherheit“.
Ein fideler Bademeister weist uns zwei Liegen zu, tritt hierbei aber erfrischend nahe an uns heran, so dass ich instinktiv zum Mundschutz greife wie ein altes Tantchen in mondloser Nacht zur Damenpistole, wenn‘s im Unterholz raschelt.
Von hinten pirscht sich derweil der Besitzer des toten Hundes heran. „Grau schimmelt etz kauflöses Bindekeller Geiz baldig schnauzgebärtet Pula siebeng‘scheit?“ Ich nicke verständig und flüchte mit Cyprian Richtung Gastronomie. Maske auf. „Was gibt’s denn zu essen?“ Der Herr hinter der Plexiglasscheibe verweist auf die coronareduzierte Karte. Flammkuchen in vier theoretisch schmackhaften Varianten, von denen wir zwei auswählen. Maske ab, hamm-hamm. Maske auf, Maske ab. Dann wieder Schwitzen, und zwar in der leeren Außensauna „Münsterblick“. Der Saunameister stößt hinzu, rügt uns, weil wir zu abstandsarm beieinander säßen. „Ein Hausstand“ seufze ich, inzwischen geübt, und schiebe noch hinterher: „Ist ja sonst eh niemand da“. „Ich sag’s ja nur“, erklärt der Saunameister vergnügt und schickt sich an, Grüner-Apfel-Aufguss in den Ofen zu kippen.
Die Tür geht auf. „Hammel dafurch tengeling abisch Hantelnoi Maltipu chinakohl!“ kräht der Mann ohne Hörgerät. Ich blicke aus den Fenstern. Kein Münsterblick weit und breit. Wo ist er hin? „Strackpurzel Tütentisch badenheimer pintzeminz Hatschepsut schulle gallenmäck“ erklärt unser neuer Freund, also übersetzt: „Hinter den Bäumen; im Winter, wenn das Laub fehlt, ist die Kirche besser zu sehen“.
Fazit: Wer sich in übervollen Saunen unwohl fühlt, hat in Corona einen kraftvollen Verbündeten. Und Schwäbisch mit Provisorien ist gar nicht so schwer, wenn man sich erst einmal eingehört hat.
27.9.
Schon wieder Therme, heute mit meiner Frau Teresa, unseren Kindern und meiner lieben Schwägerin. Mein Schwiegervater empfiehlt uns ein großes Warmbad in Süddeutschland, dessen Namen nichts zur Sache tut. Er sagt: „Wann, wenn nicht jetzt, wird man die Anlage fast für sich alleine haben!“.
Frohen Mutes machen wir uns auf den Weg. Der Parkplatz ist verdächtig gut gefüllt, und in meinem Hang zum Um-die-Ecke-Denken sage ich noch: „Wahrscheinlich haben sie die Parkfläche weitervermietet, um einigermaßen durch die schwere Zeit zu kommen. Oder der Parkplatz ist schlichtweg okkupiert worden, von den Anrainern.“ Anrainer? Wir sind in einer sehr ländlichen Gegend unterwegs, Anrainer jibbet eigentlich nicht. Wie kommt man auf sowas?
Prasselnder, kalter Regen, klassisches Thermenwetter. Dreißig Meter lange Schlangen vor den drei Kassen.
„Willkommen im Paradies!“
Juhu, der beste Platz, um der Krise, den Viren, ach, was sage ich, dem Leben zu entfliehen. Wir legen unsere QR-Codes vor, werden händisch aus einer langen Liste gestrichen, ziehen uns um, duschen...und...trauen unseren Augen kaum:
Hunderte Menschen, dicht an dicht, stehen im großen Becken und frönen gemeinsam der Wassergymnastik. Dahinter, an der Bar im Wasser, hängen die weniger Bewegungslustigen an der Beckenwand und kippen sich Caipis hinter die Binde. Nein, ich korrigiere: Binden trägt hier niemand, und das Konzept „Abstand“ scheint völlig unbekannt. Meine Kinnlade klappt gen Gewässergrund.
Es gibt einen Film von Quentin Tarantino, „From Dusk till Dawn“, in dem es eine Kneipe gibt, die „Titty Twister“ heißt, und in der es allnächtlich hoch her geht, mit allen Schikanen, wie das bei Tarantino eben so ist. An genau dieses Etablissement erinnert mich die Therme, allerdings in XXL. Wir sind völlig perplex. Meine Schwägerin, die regelmäßig herkommt, stellt fest: So voll war es hier noch nie.
Ich möchte auf der Stelle umkehren, bedeute meiner Frau, ihre Sachen wieder zu packen. „Nix da! Die 50€ werden jetzt verschwommen!“ Seufzend stolpere ich ins Wasser, meiner frohlockenden Frau (Sternzeichen Fisch) hinterher. Sie schwimmt an die Bar. „Für mich einen alkoholfreien Caipirinha, für meinen Mann einen „Sex on the beach!“
Ich schlürfe fleißig den Cocktail, dann spüre ich die heißen Atemwolken der durchtätowierten Aquagymnastin in meinem Nacken, wanke an Land und bette mich auf eine mühsam ergatterte Liege, auf der ich versuche, meine Gedanken zu ordnen.
Keine Frage: Thermalbäder sind toll, und ob es vertretbar ist, hunderte Menschen gemeinsam ihren Samstag feiern zu lassen, wie am Ballermann, nur drinnen, entscheide ja nicht ich, sondern andere.
Jedem gönne ich sein Plaisir. Was ich allerdings nicht verstehe, ist die Rigidität, mit der an vielen Schulen ganztägig Maskenpflicht herrscht, auch bei Kindern, und im Paradies ist alles erlaubt. Natürlich, die Wirtschaft muss am Leben gehalten werden, möglichst sogar florieren, auch die Badelandschaften sollen blühen, aber warum dann das ganze Gewese um Risikogebiete wie Tirol, quasi ums Eck, komplexe Regelwerke für Bühnenkünstler, Gesangsverbote für Chöre, Alkoholverbot im Gärtnerplatzviertel, die ganze wohlbegründete Verboteritis, und hier: Gib ihm?!
Tut mir leid, ich check‘s nicht. Mir fehlt wahrscheinlich der Grips oder der Kompass, oder beides, und fröstelnd tapse ich mit meinen Lieben an die Ränder des Geschehens, zum Dampfbad, an dessen Tür ein Zettel hängt: „Geschlossen wegen Corona“.
Teresa drückt die Tür auf, der Raum ist leer, wir gehen hinein und singen aus Leibeskräften alle zusammen das Kufsteinlied: „Kennst du die Perle...“; es hallt himmlisch in der kargen Halle. Niemanden interessiert‘s, keiner kommt & guckt, ein toter Trakt im Paradies - hier sind wir Mensch, hier darf man’s sein.
28.9.
Gottesdienst in St. Achaz. Meine Frau singt auf der Empore Mozart und Händel, und ich schiebe die Kinder durch Sendling. Von den Mitmusikern wird sie auf den neuesten Stand gebracht: Gesangskollege X sucht einen Job als Bürokraft, Y ist ab sofort Personal Trainer im Fitnessbereich, Z macht gar nichts mehr.
Wie gut, dass mich niemand fragt, was ich von der weitgehenden Verbannung des öffentlichen Gesangs aus unserer Kultur halte. Das betrifft ja nicht nur den professionellen Gesang, sondern auch Kindergärten, Spielgruppen; schon Kleinkindern wird, ganz im Ernst, Gesang verboten, weil irgendwelche lebensfremden Fachidioten dies für eine epidemiologische Notwendigkeit halten - und wenn man eine solch einseitige Fokussierung unseres Daseins auf seine virologischen Aspekte hinterfragt, wird man bezichtigt, „Leben opfern“ zu wollen.
Die Absurdität dieses infamen Vorwurfs verdeutlicht am besten die infame Absurdität unserer Zeit.
„Die Vernunft kann nur reden. Es ist die Liebe, die singt.“ - das sagte Joseph de Maistre, dem ich als Teenager in einem Buch des großen E.M. Cioran begegnete („Über das reaktionäre Denken“).
Nach dem Auftritt Mittagessen im Hirschgarten. Jetzt neu: Jeder Gast muss ein eigenes Kontaktformular ausfüllen (bisher reichte eins pro Tisch). Ich frage den Security-Mann am Eingang nach dem Grund, und er zuckt mit den Schultern. „Einmal pro Woche kriegen wir neue Anweisungen. Zu den Gründen kann ich nichts sagen“.
Klar, in den letzten Wochen wurde viel Schindluder mit diesen Formularen getrieben: Mancheiner schrieb, er heiße Arnold Schwarzenegger, Joseph de Maistre oder Wigald Boning, auch wegen der Sorge, dass die Formulare nicht nur von den Gesundheitsämtern, sondern auch von der Polizei in Augenschein genommen werden. Aber wird diese Sorge dadurch genommen, dass man jeden einzeln einen Namen seiner Wahl eintragen lässt?
Oder handelt es sich um eine kleine Extrahürde, um den Leuten den Gang ins Wirtshaus zu verleiden („Stay home“)?
Oder handelt es sich um das Resultat erfolgreicher Lobbyarbeit der Papier- und Kugelschreiberminenhersteller?
Oder haben findige Virologen herausgefunden, dass derjenige, der gesenkten Hauptes schreibt, nur selten singt oder sonstwie gefährliche Aerosole verbreitet - jedes Blatt, das ausgefüllt wird, senkt den R-Wert; Kleinvieh macht auch Mist.
Oder ging es einfach darum, irgendeine Verschärfung der Maßnahmen in Petto zu haben, unabhängig von ihrer Wirksamkeit?
So, mehr Gründe fallen mir ad hoc nicht ein; ist ja auch nur eine unwichtige Kleinigkeit. Ich hätte in der Zeit natürlich auch den Grund googeln können, aber solange ich tippe, bringe ich niemanden in Gefahr (ja, die Idee gefällt mir).
Oder weiß zufällig irgendwer im Plenum Bescheid? Frau Huml, lesen Sie mit?
P.S.: 6:47. Nein, ich bin nicht glücklich mit dem heutigen Beitrag, habe mich gehen lassen und bereue ehrlich. Die Formulierung „Irgendwelche lebensfremden Fachidioten“ ist beleidigend - die Leute machen ja auch nur ihren Job. Jetzt, nach einer guten Tasse Kaffee, möchte ich gerne ändern zu: „hochverehrte lebensfremde Spezialisten“.
29.9.
Im Traum befinde ich mich im Paris des ancien régimes, die Straßen sind menschenleer, nur vereinzelt sehe ich Passanten mit spitzen Mundschutzen, wie man sie gegen die Pest zu tragen pflegt. Die vogelschnabelartigen Konstruktionen bestehen aus schwarz lackiertem Metall, durch Löcher am Rand quillt Rauch, weil im Innern des Schnabels Kräuter vor sich hin glimmen.
Ich gehe auf breiter Straße Richtung Bobigny, und vor mir sehe ich das Messegelände. Ein Bus fährt vorbei und hält neben mir. Kässbohrer-Setra, die Tür öffnet sich mit dem typischen „Pfffff“ der alten Zeit. „Steig ein!“ ruft man mir zu.
Im Innern lerne ich fast alle königlich-französischen Astronauten kennen (einer ist in Quarantäne), auf dem Weg zum Raketenstartplatz.
Das Fluggerät ist kurz und klobig, hüpft auf der Stelle; der Pogo-Effekt macht das Einsteigen schwer.
Die Sitze sind festgezurrte Schaukelstühle mit elastischem Holz aus den Kolonien, die Fenster mit rot karierten Vorhängen verziert.
Wo geht’s überhaupt hin? Zur Antwort legt der Kommandant seinen Zeigefinger auf die Lippen. Berittene Boten bringen Schriftrollen mit roten Siegeln - letzte Anweisungen von der Operationsleitung. Einer der Astronauten hat seinen silbernen Anzug (offenkundig einen Skioverall) oberseits ausgezogen und füttert den brüllenden Ofen mit Holzkohle.
Ich stehe im Weg, möchte mich gerne nützlich machen, weiß aber nicht wie. Am Kaffeeautomaten versuche ich mir einen Capuccino medium zu ziehen, aber der Filterbehälter muss gewechselt werden, wie mir die bourbonenlilienblaue Digitalanzeige mitteilt. Der Kommandant kümmert sich, und ich stehe betreten daneben; es ist mir peinlich, dass ich den Laden aufhalte, gerade jetzt, in der heißen Phase des Countdowns.
Da alle Schaukelstühle besetzt sind, hocke ich mich mit meinem Heißgetränk auf den Boden, und als wir abheben, schwappt ein Gutteil des Pappbecherinhalts auf die Dielen und rinnt in die Fugen.
Am Fenster erscheint ein Wellensittich und winkt uns aufmunternd zu. Als wir die Erdatmosphäre verlassen, holen die Astronauten ein Schachspiel aus der Kommode; Weiß eröffnet mit dem Damenbauern. Noch bevor Schwarz aufgeben kann, erreichen wir unser Ziel, und nach hartem Rumms wanken wir aus der Luke. Die Landschaft ist in Flokati gehüllt; einzelne Bäume mit ausladender Krone, ebenfalls mit langem Flor bespannt, spenden Schatten, wie in einem antiken Hain. Übergroße Libellen mit Schiebermützen sirren durchs Firmament. In der Ferne kratzt sich die Erde am Bauchnabel. Die Crew entfaltet eine Picknickdecke; es gibt hartgekochte Eier, Knack&Back und Bifi, nach den Worten unseres Kommandanten vom Küchenchef Ludwigs XIV. extra für den Einsatz in der Raumfahrt entwickelt.
Nanu, da ist ja der Wellensittich von vorhin!
Wo kommst du denn her? „Bin euch nachgeflogen“ sagt er putzig, und mit ausladenden, nachgerade flatterhaften Gesten loben wir unseren gefiederten Freund für sein Sprachtalent.
Verschämt frage ich den Kommandanten, ob ich Abstand halten soll? „Ach was“, winkt er ab, „wir sind doch quasi ein Hausstand!“
Der Steuermann holt eine aufblasbare Gitarre aus der Hosentasche und singt „Are you lonesome tonight“. Jetzt erst fällt mir auf, dass ich die einzeln stehenden Bäume schon einmal gesehen habe, und zwar in unzähligen ARD-Brennpunkten: Wir sind auf der Oberfläche eines Virus gelandet, und ich erwache, mit trockenem Hals und in herbstlicher Melancholie.
30.9.
Es nähert sich der 33. Todestag von Opa Walter, bei dem ich 20 Monate lang als „individueller Schwerbehindertenbetreuer“ meinen Zivildienst ableistete.
Walter hatte als Zeuge Jehovas im III. Reich einige Jahre im KZ Sonnenburg bei Küstrin verbracht, danach im Weinhandel gearbeitet und in den späten Fünfzigern einen schweren Unfall überlebt. Hiervon bereits stark gezeichnet, erlitt er mit 80 einen Schlaganfall, und zwar in der Hochzeitsnacht seiner zweiten Ehe.
Seine Frau Adelheid, ebenfalls Zeugin, war hochbetagt aus dem Wedding nach Bremen gezogen und fiel aus allen Wolken des Ehehimmels.
Walter saß fortan im Rollstuhl, beseelt vom Wunsch, noch einmal Laufen zu lernen, und Adelheid, selber bereits ziemlich tüdelig und pflegebedürftig, haderte mit ihrem Schicksal und versuchte, Trost im Glauben zu finden.
Ich war 19 und Opa Walter 85, als ich erstmals die mit den Möbeln aus zwei Hausständen gut gefüllte Zweizimmerwohnung betrat. Ich war hochmotiviert, hatte mir den Job bei der ISB ausgesucht, weil mich das Abenteuer, das Leben eines Menschen symbiotisch zu teilen, reizte.
Die Realität bestand aus drei Dritteln.
Ein Drittel war erfüllend: Nach einigen Wochen des Einhörens konnte ich mich mit Opa Walter recht gut verständigen, führte bei passendem Wetter im nahen Park mit ihm Gehübungen durch, ganz ähnlich wie in diesen Tagen mit meiner 10 Monate jungen Tochter: Ich hielt beide Hände, ging rückwärts voran.
Nie fiel ein böses Wort, zwischen Walter und mir herrschte allzeit Harmonie, und ich kann mich an viele anrührende Situationen erinnern, auch spannende Gespräche, etwa nachdem Matthias Rust auf dem Roten Platz gelandet war.
Das zweite Drittel war von Skurrilität geprägt. Adelheid kaufte regelmäßig Fleisch und deponierte dieses an geheimen Orten in der Wohnung, wohl als Notration für schlechte Zeiten. Für mich war es eine heikle Aufgabe, das Gammelfleisch verschwinden zu lassen (die Hausverwaltung drohte bereits mit geruchsbedingter Wohnungskündigung), möglichst ohne mich bei der Entsorgung von Adelheid erwischen zu lassen - sonst gab es Riesenärger.
Für den häuslichen Frieden war es überdies notwendig, sich mit Adelheid dem Bibelstudium zu widmen und die von ihr empfohlene Fachliteratur wenigstens quer zu lesen.
Noch heute bin ich bestens vorbereitet auf Hausbesuche der Zeugen Jehovas und verwickle diese mit Vorliebe in haarspalterische Fachgespräche.
Das dritte Drittel war trist. Die Mietskaserne, in der die mir Anvertrauten wohnten, war grau, der Himmel über Gröpelingen damals kaum bunter als heute. Ein schwerer Grauschleier liegt über meiner Erinnerung, wie bei einer ungeschickt gewaschenen Gardine.
Etwa einen Monat vor Ende meines Zivildienstes entzündete sich bei Opa Walter die Wurzel seines letzten verbliebenen Zahns. Hohes Fieber streckte ihn nieder; ich benachrichtigte den Hausarzt, und der Krankenwagen brachte Walter ins Hospital.
Der Zahn wurde gezogen und Antibiotika verabreicht, doch es war zu spät. Als ich Walter nach der OP besuchte, drückte er mir mit flehendem Blick besonders fest die Hand, und der nunmehr zahnlose Mund formte ein unhörbares „Danke!“
Ich ging hinaus in den Park, stapfte durch einen stürmischen, nassen Herbstabend. Als ich nach einer Stunde ins Krankenhaus zurückkehrte, war Walter tot. Stumm streichelte ich seine kalte Hand. Nur wenige Tage nach der Trauerfeier im Königreichsaal starb auch Adelheid, und die Arbeiterwohlfahrt erließ mir meine restlichen Arbeitstage.
Ob ich bei Walter und Adelheid etwas gelernt habe? Oh ja. Ich habe zB Grenzen der Belastbarkeit kennengelernt, bei uns dreien. Und ich habe gelernt, dass das letzte Lebenskapitel wirklich enorm grau sein und, wenn es dem lieben Gott gefällt, ruckzuck enden kann.
Glück heißt in diesem Lebensabschnitt vielleicht am ehesten: ohne Schmerzen bequem liegen. Und von Menschen umgeben sein, die man mag. Aber mehr kann ich dazu nicht sagen, weil ich bisher nur Walter die Hand halten durfte und das Ableben eine höchst individuelle Verrichtung ist.
1.10.
Mit Elan stemmt sich die Kanzlerin gegen die Nachlässigkeit, die allenthalben eingezogen ist. Selbst manch ehemaliger Hundertfünfzigprozentiger winkt inzwischen ab, wenn über Corona gesprochen wird. Drosten prognostiziert: „Jetzt wird die Pandemie erst richtig losgehen“, während die Stadt München die Maskenpflicht in der Innenstadt ab Freitag wieder aufhebt, mangels Neu-Infektionen. Das Verrückte: Alle haben sie auf ihre Weise recht: Merkel, die Abwinker, Drosten und die Stadt München.
Auch die Familie Boning gibt in dieser Gemengelage ein uneinheitliches Bild ab: Als wir am Nachmittag durch die Innenstadt radeln, mit dem Nachwuchs im Kindersitz, und wir uns im Unklaren darüber sind, ob wir uns schon in der maskenpflichtigen Zone aufhalten, radle ich mit Maske, meine Frau nicht.
Ach, die leidige Maskenfrage. Mir ist die Sache inzwischen total wurscht. Nun, da ich die Lappen besitze, werde ich sie auftragen, und das geht umso schneller, je häufiger die Dinger beansprucht werden.
Auch die Anzahl der Personen, die sich ein Stelldichein geben dürfen (in München momentan fünf, ab Freitag zehn), ist mir persönlich wumpe. Ich kenne in dieser Stadt kaum vier Personen, zu mehr reicht‘s bei mir nicht.
Ach, Corona. Das Ding langweilt mich, und auch eine Zahl wie 19200 (Neuinfizierte zu Weihnachten, wenn wir so weitermachen), ja, selbst die Meldung, dass Menschen mit starkem Neandertaler-Genom-Anteil einen schwereren Covid-19-Verlauf zu erwarten haben, alarmiert mich nicht so, wie es sein sollte.
Es ist Zeit, sich den wichtigeren Themen zuzuwenden, zB dem Klima. Corona hat gezeigt, wie viel möglich ist, wenn die Politik entschlossen handelt und die Bevölkerung mitzieht. Ich persönlich glaube, dass missionarisches Handeln kontraproduktiv ist und würde daher niemals behaupten, dass ich dem Klima zuliebe radle oder aufs Fliegen verzichte. Nein, ich bewege mich für mein Leben gerne an der frischen Luft und fühle mich in Blechhüllen unwohl, fertig.
André Gide war begeisterter Tagebuchschreiber und ordnete dieser Tätigkeit vieles unter. Unter anderem wechselte Gide die Liebschaften, wenn sie als literarischer Rohstoff ausgedient hatten.
Auch dies geht mir in diesen Tagen durch den Kopf, wenn ich an Corona denke. Mon amour, ich hab mich für dich verkleidet, fremde Schöne aus der Ferne nur gegrüßt; ich hab mein Schreiben Dir gewidmet, und nun bist Du weder da noch weg. Deine Sprachrohre vertrösten mich, zu Weihnachten käme die große Bescherung, Du, nur Du, allein: der Reiz ist verflogen, ein Alltagseinerlei hat alles Herzklopfen ersetzt.
Ach, Facebook. Tagebuch schreibe ich seit meinem 10. Lebensjahr. Die ersten Bände entsorgte ich mit 16 im Sperrmüll (ein schwerer Fehler), aber zig Jahrgänge schleppe ich seit Jahrzehnten mit mir herum (ohne je wieder hineingeschaut zu haben).
Indem ich seit Mitte März hier bei Facebook „öffentlich“ schrieb, verlor die Übung ihren spielerischen Charakter, und ich musste lernen, ernst genommen zu werden. Ja, plötzlich lasen Leute mit, lobten, likten, lästerten, manche gar warfen mir vor, nicht ihrer Meinung zu sein. Dann bekam ich regelmäßig einen Schreck, weil mir erst aufgrund der Reaktion auffiel, wie sehr ich daran gewöhnt bin, in meinem Tagebuch naturgemäß meine Meinung zu notieren, ohne nützliche Hintergedanken. Und so habe ich einige emotionale Achterbahnfahrten hinter mich gebracht, für die ich sehr dankbar bin: Euch, den treuen Leserinnen, und Elvis.
Ihr lest den 190. Eintrag meiner Coronik. Diese Woche mache ich noch voll.
2.10.
Ihr Lieben!
Ich habe mich sehr über Eure warmen Worte gefreut. Zu erfahren, wie sehr Ihr mein Tagebuch schätzt - das rührte und trug mich durch den Tag. Aber es hilft ja nichts. Ich bin momentan auf zu vielen Baustellen beschäftigt: Wohnungssuche, Erschließung neuer kunsthandwerklicher Erwerbsarbeitswelten, Streak, Möbel verkaufen, Vorhänge fürs Gardinophon kaufen usw. - ich werde diesem Tagebuch nicht mehr den gewohnten zeitlichen Rang einräumen können.
Mit Beginn des Lockdowns hatte ich den Eindruck, ich könnte mich durch die öffentliche Schreiberei nützlich machen - einerseits sah ich Bedarf an Coronisten, die das Geschehen adäquat einordnen, andererseits wollte ich der bedrückenden Schwere der Situation ganz bewusst etwas burschikoses entgegensetzen - mir persönlich waberte gar zu viel bleierne Angst durch die Köpfe meiner lieben Mitmenschen, und Blei hat im Kopf noch weniger verloren als fiese Viren. Also schrieb ich mich wacker durch Lockdown & den folgenden Sommer.
Allabendlich, wenn Teresa die Kinder in den Schlaf stillte, brütete ich über dem Text des Tages, anschließend las meine Gattin Kontrolle, um mich davor zu schützen, dass ich mich um Kopf und Kragen schrieb, und nicht selten stand ich noch in der Nacht auf, um der Sache den letzten Schliff zu geben. Nach dem morgendlichen Posten war es mir ein Vergnügen, alle Eure Kommentare zu lesen, Fragen zu beantworten und die bisweilen dargereichten Fehdehandschuhe so freundlich wie irgend möglich wenigstens zu begutachten (tagesformabhängig).
Und so waren die letzten Monate eine erfüllende Zeit. Unschwer zu spüren, dass ich dem einen oder der anderen von Euch ans Herz gewachsen bin, aber leider hat meine selbstverordnete, tagebuchspezifische Offenheit mich auch einige nette Bekanntschaften gekostet - liebe, jahrelange Weggefährten, denen meine zeitweilige leise Kritik an den „Maßnahmen“ gar zu suspekt erschien.
Nun ja; wie sagte Luther? Ich tippe hier und kann nicht anders, amen. Schmerzhaft waren die Abschiede allemal, und ich hoffe, dass man bei Gelegenheit wieder zueinander findet. Meine Tür jedenfalls steht immer offen (Schloß kaputt).
Wie nun verfahren? An Corona habe ich mich abgearbeitet, und ich habe meiner Frau versprochen, dass wir ab dem Wochenende nicht mehr drüber reden. Die Texte werde ich ausdrucken und in einem Schließfach der Zillertaler Sparkasse deponieren. Wer weiß; vielleicht wird ja tatsächlich mal ein Buch draus? Schulbuchlektüre für die Mittelstufe 2099/100 - das würde mir schmeicheln, wenngleich eher unklar ist, ob es in achtzig Jahren noch Schulbuchlektüren gibt oder ob Wissen nicht doch eher per Chip durch die Rachenwand implantiert wird (kleiner Scherz).
Einstweilen werde ich mein Tagebuch wieder auf Privatbetrieb umstellen bzw auf der Ifpupo-Seite in anderer Form weiterführen, wenn denn die technischen Voraussetzungen geschaffen sind. Ich gebe gegebenenfalls Bescheid.
Eigentlich wollte ich bereits nächste Woche an zwei Abenden im Münchener Lustspielhaus aus dem Tagebuch vorlesen, aber das Lustspielhaus hat seine Pforten wieder geschlossen, vorerst bis Mitte November, glaube ich. Seufz; eines Tages...
Ich wünsche Euch allen ein erzformidables Wochenende!