Meine schönste Fahrradtour in Gesellschaft war gleichzeitig meine längste. Sie hätte evtl. kürzer sein können, aber dazu gleich mehr. Start jedenfalls war in Füssen, abends um sechs. Auf den berühmten Schuss warten hier: Hannes, sein Bruder, der damals erst 19-jährige Cornelius, Bernd (Banker aus Frankfurt, der im Internet von unserem Vorhaben erfahren hatte) und ich. Ohne Rad zu sehen sind ferner Geli und Jonas, Hannes‘ Familie, die uns gleich zum Abschied winken wird, und hinter uns steht das Wohnmobil von Sigi, der uns erfreulicherweise begleiten möchte. Das nächste Bild zeigt uns in raffinierter Windschatten-Formation bei der Einfahrt in die erste von drei Dämmerungen, die wir erleben werden. Könnte bei der Auffahrt zum Zirler Berg sein.
Ein Blick in Sigis Wohnmobil, Mitternacht auf der Brennerpasshöhe. Schnell wird klar, welche Vorteile sich mit einer solchen rollenden Verpflegungsstation auftun: Man muss nicht, wie im ordinären Gartenlokal, auf verschlafene Kellner warten und darf in der Gaststube den Hut aufbehalten. „All you can eat" ist obligatorisch, und Sperrstunde jibbet nicht. Während dieses Nachtmahles geht draussen gerade ein Gewitter hernieder - es sollte das einzige bleiben. Ansonsten immer eitel Sonnenschein.
Einen halben Tag später überfahren wir den Po, also den Fluss (hahaha, auf der Fahrt nach Paris bin ich ulkigerweise auch schon mal die Meuse entlanggeradelt) und kommen in eine Gegend, in der mein Navi plötzlich streikt. Nanu! Strassen enden im Nichts, obwohl sie laut Navi weiterführen sollten, andere Strassen, deutlich sichtbar, kennt unser Navi nicht. Will sagen: mein Navi. Denn für die Wegfindung zuständig bin ich. Damals, 2012, waren Navi-Apps noch unbekannt, und man befestigte an der Lenkstange mehr oder weniger klobige Spezialgeräte zur Wegfindung. Ich besass als einziger solch ein Gerät und stecke nun in der Tinte, da ich, nach reichlich 20 Stunden Fahrt mehrfach im Kreis fahren lassen muss. „Wir müssen nochmal zurück, der Abzweig dürfte vor ungefähr einem Kilometer gewesen sein" - solche Sätze stossen nach über 500 km Pedalieren nicht bei jedem auf Verständnis.
Hier sieht man mich beim Versuch, die Unzulänglichkeiten meines Navis anhand einer Landkarte zu ergründen, und in den Blicken meiner Sportkameraden erkennt man eine gewisse Düsternis. Ich hingegen verbreite lächelnd Optimismus. Wahrscheinlich witzele ich gerade: „Keine Sorge; alle Wege führen nach Rom" oder sowas ähnliches.
Der Konflikt wird wenige km nach der Aufnahme dieses Bildes gelöst: Wir kommen in ein Städtchen, ich glaube es heisst San Felice sul Panaro, das von einem Erdbeben schwer getroffen wurde. Das Zentrum ist ein Trümmerhaufen, und Soldaten halten Wache, um Plünderungen zu verhindern. Wir begreifen: Die alten Strassen sind nicht mehr existent, und mein Navi kennt die neuen Behelfsstrassen noch nicht.
Am Ortsausgang befindet sich ein riesiges Zeltlager für jene, die obdachlos geworden sind. Gebeutelte, graue Gestalten schleichen zwischen den Zelten umher. Wir stellen unsere 5000-€-Carbonräder ab und stärken uns in der Lager-Cafeteria - ziemlich nachdenklich gestimmt.
Am Abend, in der Innenstadt von Bologna, verfransen wir uns erneut. Diesmal ist es tatsächlich meine Schuld. Es kommt zu Vorwürfen, die ich mit einer lautstarken Explosion kontere. Anschließend fahre ich mit Höchstgeschwindigkeit voraus, um allerdings an der nächsten roten Ampel auf meine Freunde zu warten. Tja; manchmal ist der Typ, den man im Grenzbereich in sich kennen lernt, gar nicht soo sympathisch. Ich bitte die anderen um Entschuldigung. Angenommen, Schwamm drüber.
Übernachtung hinter Bologna, nach über 600 km. Hannes hat Knieprobleme, sein Bruder keine Lust mehr. Cornelius auch nicht, also fahren Bernd und ich alleine weiter. Netterweise begleiten alle anderen uns aber fürderhin im Wohnmobil und winken beizeiten. Huhu! Einträchtig rollen Bernd und ich nach kurzem Powernap Richtung Florenz.
Das Tempo ist nunmehr deutlich verringert. Einerseits fehlt der Windschatten, und auf jeder Kuppe warte ich auf Bernd. Normalerweise könnte solch eine Tempodifferenz durchaus nerven, hier jedoch überwiegen die Vorteile: Immerhin einer, der mir Gesellschaft leistet. Alleine hätte ich mich schwerlich zur Weiterfahrt aufgerafft. Danke, Bernd!
Wir überqueren den Arno, nehmen uns in der Mittagsglut die herrlichen Hügel der Toskana vor und erreichen am Spätnachmittag Siena. Auf dem dortigen Marktplatz, berühmt durchs Pferderennen, treffen wir die bestens ausgeruhten Wohnmobilisten wieder und stärken uns gemeinsam mit ihnen. Der Kellner erkennt in unseren Gesichtern den Ernst der Lage und kredenzt uns Cola in Maßkrügen.
Die Nacht verbringe ich in einem ausgetrockneten Straßengraben, direkt neben der Staatsstraße SS2. Überall dorniges Gestrüpp, Gekkos und Müll. Aber das ist mir egal; ich ziehe mich aus, lege mich auf meine Isomatte und schlafe sofort ein.
Drei, vier Stunden später geht‘s weiter: Es ist Sonntagmorgen, und die breite Staatsstrasse gehört uns. Als wir in Acquadependente eine Bäckerei betreten, um uns mit Espresso zu dopen, verzieht der Bäcker das Gesicht: Wir starren vor Dreck, und Fluchtfliegenschwärme umschwirren uns. So dreckig war ich noch nie! Auch meine Handykamera ist mit schmierigen Fruchtriegelresten eingekleistert. Immerhin entsteht dadurch ein interessanter Weichzeichnereffekt:
Wahrscheinlich handelt es sich um den Lago di Bolsena. Das ganz hinten könnten aber auch die white Cliffs of Dover sein, oder die Kreidefelsen auf Rügen.
Wir machen noch einige Male Rast, unter anderem am Braccianosee:
Gut, ganz soviel kann man da auch nicht erkennen. Gerne würden wir ins Wasser eintauchen, aber unsere Hintern sind gerade gut verschorft, und wir wollen den Schorf nicht aufweichen. Also weiter.
Am frühen Nachmittag kommen mir bereits Bushaltestellendesigns von früheren Rombesuchen bekannt vor. Und exakt in dem Moment, in dem wir die Stadtgrenze überqueren, springt der Kilometerzähler auf „1000 km":
Vierstellig. Wenn ich nicht mehrfach als Navigator versagt hätte, wäre uns der Stolz auf die runde Summe versagt geblieben! So ist alles im Leben immer für irgendwas gut. Und weil‘s so schön war, hier nach brutto 56 Stunden unsere Ankunft am Hotel, Bernd und ich, mit Triumphatorengeste. Veni, vidi, vici.