Freitag, 28. Juni 2019

Hüttenglück


Weiterhin bin ich auf der Suche nach einem Tagesanbruchsritual in Form einer täglich murmelnden Wanderung. Es stehen bereits: Links an den Freisinger Nachbarn vorbei bergauf, am Steinmandl halbhalblinks, um die Schulter herum, dann auf bestem (aber nicht markiertem) Weg mit Blickrichtung auf den Rifflerkogel. Bei markanter Baumgruppe scharf rechts, steil bergauf, wieder links, zwischen Kuppe und See (verlockend bei über 30 Grad; noch schwimmen allenthalben Eiswürfel). An der Kühsteinalm steil bergauf zum Schartenjoch. Auf dem Kamm entlang zur Speikspitze (wo man, wie Börnie vorschlägt, einen Flachmann verstecken könnte), zurück zum Schartenjoch und runter zur Brunnalm. Ja. Hier bin ich noch auf einer Suche nach einer Abkürzung, die auf alten Karten gepunktet eingezeichnet ist, aber bei meinen Erkundungen schreckte ich vor allem viel Wild auf. Der Rückweg auf dem Kammweg nordwärts (auch er in alten Karten angegeben) endete im steilen Bergwald. 

Der Star ist der Kamm: Totaler Überblick, es locken Mannskopf und Kapaunsalm, blühende Alpenazaleen und Gendtners Alpenmohn, wenn mein Blumenbestimmungsbuch nicht lügt. Ferner stehen dort mehrere fein aufgeschichtete Steinhaufen, ähnlich wie die Nuraghen in Sizilien - so stelle ich mir sie jedenfalls vor. 







Frühstück um halb neun. Jetzt im Sommer ist das Leben hier der pralle Luxus: Die Speisekammer ist voll, die Kuhglocken bimmeln, auf der anderen Seite des Zillertals reflektieren die Dächer der Seilbahnbergstationen die Morgensonne. In der größten von ihnen begegnete ich eines Winters Sasha. „Was machst du denn hier?". 

Am Spätvormittag kommt unser netter Verpächter mit seinem Onkel und dessen Frau. Wir kredenzen unseren kärglichen Pflaumenkuchenrest und reden über Gott und die Welt. Franz hat Obstler mitgebracht, ein feines Tröpfchen. „Die Kühe sind auch nicht mehr das, was sie mal waren!" winkt der Onkel ab. Alle verwöhnt und verzärtelt. Eintopf wird aufgetischt, Fliegenschutz vor die Tür geschraubt, die herabhängende Markise mit einem schmucken Stützpfeiler versehen. 

Dann fügt Angela zu den Themen Gott und Welt die Politik hinzu. Flüchtlingskrise. Ist sie wahnsinnig? Gaanz dünnes Eis! Afrika. Alle retten geht nicht. Kollateralschäden für Europa. Kurz? Ein Guter. Uff, Thema durch. Mit Franz verabrede ich mich zum Wandern im August. 




Unsere Rosenheimer Vorgänger waren mal drei Wochen hier, die Nachbarn oben schaffen nur eine, wie sie freimütig bekennen. Man kann eben nicht „mal eben in den Supermarkt". Und Amazon fällt auch flach. Meine Liste mit Dingen, die im August vonnöten sind, sein könnten, wird immer länger. Vor allem sollte die Bibliothek weiter ausgebaut werden. 

Überraschung des Tages: Milch direkt von der Kuh schmeckt gar nicht soo anders als handelsübliche Vollmilch. Ich hatte mit einem deutlichen Unterschied gerechnet, wäre aber nicht einmal sicher, ob ich im direkten Vergleich zuordnen könnte. Kann natürlich sein, dass meine Papillen schon altersbedingt abgestumpft sind. Klar. 

Am Abend staunen wir über den Abendhimmel. Das Band der Milchstraße, hurra; ich traue meinen Augen kaum. Ja, eine richtige Kamera muss auch her. Mit Stativ. Einstweilen ein Abendblick nach Westen: 









Dienstag, 25. Juni 2019

Auf der Alm...



Wir haben gestern geheizt. Meine Frau fand es abends etwas kühl, und zudem mag sie das Knistern und Knacken des Holzes. Heute nun, als in der Mittagszeit alle Welt satte 40 Grad beschwitzte, heizten wir erneut ein, nämlich zum Backen eines Pflaumenkuchens à la 1850. 






Zunächst zog der Ofen nicht, womöglich war es auch dem Rauch zu heiß in der prallen Sonne, er weigerte sich, auch nur in Schornsteinnähe zu ziehen, doch schließlich gelang der Kuchen doch. Den ganzen Nachmittag pendelte ich hochkonzentriert zwischen Schür- und Knethaken und schwitzte dabei wie ein Dampflokheizer in der Bagdadbahn. 

Am sehr frühen Morgen (5 Uhr irgendwas) war ich um „unseren“ Berg herumgelaufen, ohne störende Altschneefelder (das war vor einer Woche noch völlig anders, als ich adrenalindurchsotten über tiefgefrorene Hänge balancierte). 

Melde: Speikspitze problemlos erklommen, arkadisches Terrain.




Die Kühe sind zZt nachts auf der Alm, tagsüber stehen sie im Stall, mit an der Decke festgebundenen Schwänzen. Hansel melkt am Nachmittag; unseren Kuchen verschmäht er. 

Angela kommt vom Tegernsee herbeigeradelt, kettet ihr Rad an eine der Pistenraupen am Parkplatz, stiefelt dann zu uns herauf und isst mit uns Eintopf und Pflaumenkuchen.





Hängematte montiert. 12 mal den Kopf an der tiefhängenden Markise gestoßen. Handstaubsauger als effiziente und tierfreundlichste Bremsenbeseitigungsmethode entdeckt.  

Theo spielt mit einem unserer Wasserbottiche oder räumt Holzkisten aus. Gerade bei letzterer Tätigkeit gelangt er in ernsthaften flow. Geht auch mit Mamas Koffer. 

Gerade sind Teresa und Angela draußen und bewundern die Ziegen, die soben zu den Kühen auf die Alm stoßen. Theo schläft. Ich auch gleich. Morgen wieder früh raus, auf die Speikspitze und evtl anschließend auf den namenlosen Gipfel nebenan. Du liebe Güte, ist das schön hier! 


Dienstag, 18. Juni 2019

Deutsche Flüsse (46): Donau



Die Donau kann man nicht ernst nehmen:

Sie faulenzt dahin, lässt sich treiben.

Bei einem Gegenstand bleiben? Nein.

Dafür fehlt ihr der sittliche Ernst. Schämen


sollte sie sich, aber gründlich!

Alle arbeiten: die Wärter der Schleusen,

die Donaufischer mit ihren Reusen;

die Fährleute queren sie stündlich,


hagere Bauern mit klapprigen Mähren

pflügen und eggen am Ufer das Feld. 

Was lebten wir in einer fleißigen Welt, 

wenn diese stinkfaulen Flüsse nicht wären.





Samstag, 15. Juni 2019

Auf Bremens höchsten Berg



Die höchste (natürliche) Erhebung des Landes Bremen (von „Berg" mag man hier nicht wirklich sprechen), befindet sich im Friedehorstpark im Ortsteil Lesum, also in Bremen-Nord: 32,5 Meter über Normalnull, und damit abgeschlagen auf dem letzten Platz unter den Sixteen Summits der deutschen Bundesländer. 
In den einschlägigen Foren wird er als Geheimtipp gehandelt, denn er ist der einzige Höhepunkt, auf den nicht mit Gipfelkreuz, Stein, Hütte, Plakette oder sonst wie hingewiesen wird. Hanseatische Bescheidenheit? Oder der klammen Kasse des Senats geschuldet? Nichts wie hin zum Ortstermin. 



Mag der (bezeichnenderweise namenlose) Berg der kleinste sein, so wird dafür meine Anfahrt die längste: Morgens um 5:15 besteigen mein Faltrad und ich die Hafenfähre „Reeperbahn" an den St. Pauli Landungsbrücken und lassen uns über die Elbe nach Finkenwerder schippern. Am frühen Vorabend war ich mit dem Kollegen Hirschhausen in Pilawas Quizduell zu Gast (gewonnen!), und ich durfte mit Alsterblick übernachten - darum ist Hamburg Ausgangspunkt der heutigen Expedition. 

Von Finkenwerder aus radele ich nach Buxtehude und auf eher ereignisarmen Radwegen weiter nach Zeven. Dort kehre ich im Ratscafé zum Kaffeetscherl ein, mit Blick auf den Takko-Markt. 




Es gibt gewiss viel schönere Wege von Hamburg nach Bremen, allen voran den offiziellen Radfernweg, aber zum einen möchte ich mittags bei Muttern in Oldenburg sein, und für eine echte Bummelei fehlt mir die Zeit, zum anderen handelt es sich bei dieser Strecke um eine Traditionstour. Regelmäßig, am liebsten einmal pro Jahr, befahre ich diese Route, einmal sogar zT mit meinem verehrten Sportfreund Uwe Weist, und als Konservativer ändere ich nur im Notfall die Fixpunkte meines Sportkalenders. 

Hinter Zeven passiere ich die namensstarken Ortschaften Hipstedt und Ostereistedt. Hinter Tarmstedt rechts durchs Teufelsmoor, dann quer durch Worpswede, das berühmte Künstlerdorf. 

Dass man eine betont öde Gegend bewohnt, um sich bildnerisch in ihrer Trostlosigkeit zu spiegeln - das macht ja heutzutage niemand mehr. Die Instagrammer gieren alle nach Berlin, Dubai und Co. 



Paula Moderson-Becker hätte womöglich auch Instafame gesammelt, aber, nun ja, mit ganz anderen GIFs. Die Blattstrünke in heutigen Selfis gehen ja zumeist eher in diese Richtung: 🌿



Jetzt wird die Landschaft pittoresk. Weite Horizonte, viel Entengrütze in den Kanälen. An Ritterhude vorbei in die Freie Hansestadt. Der Friedehorstpark ist per Komoot schnell zu finden, nach 115 km Anfahrt. Rein in den kleinen Park und staunen. Tatsächlich, da ist nichts, was man für eine Bodenerhebung halten könnte. Eine Baumgruppe etwa da, wo Spezialseiten den Gipfel verorten, davor ein Brennesselnest. 



Ja, das könnte es sein. Die pieksige Brennessel als wehrhafter Wächter des Tors zum Himmel. Könnte. Kaum zu fassen, dass man derlei nicht anständig markiert. Bremen, so behauptet jedenfalls mein Papa gern, habe eine der größten Sektionen des DAV. Also, liebe Bremer Alpinisten, erklärt Euch, mir, warum man den Peak mühsam suchen muss. Interessiert mich wirklich! Da baut man in Bremen gernegroße Groschengräber wie den Space-Park, und die echten Attraktionen, vom lieben Gott für umme in den (Earth-)Park geworfen, versteckt Ihr Bremer geradezu. Oder gibt es hier gar keinen „höchsten Punkt"? Alles gelogen? Nein, meine Quellen sind seriös (Internet).
Um auch ja nichts zu verpassen, radle ich kreuz und quer über alle Wege. Stattliche Bäume wachsen hier. Klar, wir sind ja auch jenseits der Baumgrenze - von oben gesehen. 



Mit gemischten Gefühlen („I did it"-Gipfelglück, verquirlt mit dem Gleichmut des Desillusionierten) verlasse ich den Friedehorstpark wieder und rolle rüber nach Vegesack zur Weserfähre. Ehe wir ablegen, darf ein Seeschiff Richtung stadtbremische Häfen passieren - eine Besonderheit heutzutage. Die meisten haben schon in Bremerhaven keine Puste mehr oder steuern gleich den Jade-Port, Hamburg oder Rotterdam an. Auf der Oldenburger Seite pette ich am Deich entlang, komme zu einem Strandkorb, der mit einem Pappschild versehen ist, auf dem „Pause" steht. Würde gerne, will aber ins Elternhaus, das ich, nach Linkskurve in Berne und Endspurt durch hochsommerliche Mittagshitze, um kurz vor zwei erreiche. 153 km und ein, äh, Berg. Tolle Tour!  

Donnerstag, 13. Juni 2019

Seltene Erden (5): Kondensat



Die beiden großen Beiträge der nordamerikanischen Indianer zur Weltkultur sind: Kraulschwimmen und Rauchen. Mit dem Erkalten der Glimmstengel bleibt fürderhin nur noch das Kraulen übrig. Schade. 


Meine persönliche Raucherkarriere begann am 14. Januar 1983, sechs Tage vor meinem 16. Geburtstag. Mit der Band KIXX absolvierte ich mein erstes Konzert, und zwar im Jugendzentrum Papenburg. Für die Zugabe erklomm ich eine Getränkekiste und blökte auf dem Altsaxophon eine punkige Fassung der deutschen Nationalhymne. Nach dem Gig ließ ich mir erklären, wie man mit Filterpapier und Halfzware Shag eine Zigarette bastelte. Das frisch erworbene Wissen belohnte ich umgehend mit meiner ersten Selbstgedrehten - Heerscharen glühender Kämpfer an der Hustenfront sollten folgen. Für unser erstes Konzert kassierten wir übrigens eine Gage von DM 400,-. Auf dem Heimweg im babyblauen Opel Kadett unseres Schlagzeugers ging der Wagen kaputt. Ein zufällig vorbeikommender Bauer erklärte sich nicht nur bereit, uns abzuschleppen, sondern auch, das Auto zu reparieren, und die Reparatur kostete genau DM 400,-. Wie gewonnen, so zerronnen, wie Donald Duck zu sagen pflegte - eine Lektion fürs Leben.


Ich rauchte also gerundet vom 16. bis zum 44. Lebensjahr und müsste in diesen Jahren mindestens 100.000 Zigaretten vertilgt haben. Jetzt, da ich dies notiere, ärgere ich mich etwas, dass ich nicht von Anfang an mitgezählt habe - ein Fest zu Ehren meiner 100.000sten Zigarette wäre nicht unulkig gewesen, mit Freitabak für alle Festgäste, dem Sensenmann als Stargast und einer Tombola. Hauptpreis: Eine Reise auf die Plantagen in Reval, Trostpreis: Eine Dauerkarte im Hallenbad (weil: Kraulschwimmen und Rauchen schließen sich aus. Schlaue Leute, die Indianer). 


In Friedenszeiten ist das entschlossene Dauerrauchen eine der besten Gelegenheiten, anderen, aber vor allem sich selbst, die eigene Heroentauglichkeit zu beweisen: Der Raucher raucht, komme, was wolle, solange das Zwerchfell ein Inhalieren ermöglicht (der Beitrag der Lunge ist nebensächlich). Ich kenne einige baff machende Heldengeschichten, etwa jene meines Freundes J., der sich nach einem schweren Herzinfarkt selber ins Krankenhaus kutschierte, auf dem Weg jedoch erstmal einen Zigarettenautomaten ansteuerte, um ein paar Päckchen Marlboro zu erwerben. O-Ton J.: „Woher sollte ich denn wissen, wie lange ich im Krankenhaus bleiben würde?! Da geht man doch lieber auf Nummer sicher."


Meine eigene Raucherkarriere endete unspektakulär mit einer Erkältung. Nach einer verschleimt-fiebrigen Woche ließ ich’s einfach bleiben, und zu meinem größten Erstaunen ereilte mich seither praktisch nie das Verlangen, wieder anzufangen. Durchschnittlich einmal im Jahr träume ich, dass ich in irgendeiner zugigen Ecke stehe und frierend an der Kippe sauge. Da spukt also noch irgendwas im Hinterkopf, aber im Wachzustand denke ich nie dran. 


Den Siegeszug der E-Zigarette kapiere ich nicht. Sie riecht nach Pups und hat - nicht unpassend - die Aura eines verschossenen Arschgeweihs.


Kondensat, dies gebe ich gerne zu, ist unter den elaborierten Teeren eine Spezialität. So wie Onassis die Bar seiner Yacht angeblich mit Hockern möbliert hatte, die mit der Vorhaut von Bartenwalen bespannt waren, so werden die Superreichen der nahen Zukunft ihre Privatstraßen mit Fahrbahnbelägen aus einst inhalierten Asphalten ausstatten. Jahrgangsteere. Sortenreiner Virginia. Oder exhumierte Rauchrückstände von Prominenten, etwa Georges Perec, Ben Webster oder Helmut Schmidt. 


Und als Fahrbahnbegrenzungspfähle empfehle ich überdimensionale Zigaretten. Sehen ja eh ganz ähnlich aus. 

Mittwoch, 12. Juni 2019

Seltene Erden (4): Slime



Im hohen einstelligen Alter öffnete ich eine apfelshampoogrüne, miniaturisierte Mülltonne. In ihrem Innern steckte eine gleichfarbige, klebrige, halbflüssige Substanz, deren Einsatzmöglichkeiten ebenso diffus wie divers waren: Man konnte die Weichknete von der Schwerkraft in die Länge ziehen lassen, die Haare der Schwester besudeln und - nein, an weitere Funktionen erinnere ich mich nicht. „Slime“, so hieß die geheimnisvolle Substanz, wurde in Fernsehwerbespots beworben, an deren Ende jemand auf einen großen Gong haute, während eine martialische Stimme „von Matell“ deklamierte. 

Aus derselben Spieleschmiede stammte auch das „Spiel des Lebens“, mit dem ich hunderte Stunden auf einem Bastteppich im Zimmer meines Nachbarn hockte und dem ich alle wesentlichen Vorbereitungen auf meinen weiteren Weg verdanke. Auf dem Bastteppich erfuhr ich, dass Hochzeiten mit Geschenken verbunden sind, Lottospielen lohnt und, vor allem, so’n „Leben“ enorm lang sein kann. Es zieht sich mitunter wie Slime, um auf diese merkwürdige Substanz zurückzukommen, die unter anderem aus Borsäure (Bild) besteht und während des Spiels damals weit mehr Bor absonderte, als in der EU heute erlaubt ist. 

Ich, der ich zur ersten verslimten Generation gehöre, müsste eigentlich schwere Gesundheitsschäden davon getragen haben, womöglich sogar tot sein. Dass ich noch lebe, verdanke ich wahrscheinlich der ausgleichenden, das Dasein dehnenden Kraft des „Spiel des Lebens“. 

Die Lebensdauer des Homo ludens kann man womöglich als Summe seiner spielerischen Aktivitäten begreifen, minus und plus, und ganz zum Schluss drückt Gott auf den größten Knopf seiner Registrierkasse, das Resultat erscheint, und wir hören, komprimiert wie aus einem verschneiten Nordmende-Portable mit drei schwarz-weißen Programmen, den finalen Gong. 

Dienstag, 11. Juni 2019

Seltene Erden (3): Blasenstein



Alle Adern ausgebeutet, alle Böden durchgesiebt. Diamanten konnten schon damals, im 21. Jahrhundert, künstlich hergestellt werden, und was heute nicht synthetisiert werden kann, wird recycelt. Nein, Bodenschätze sind démodé; Bergwerke werden nur zu touristischen Zwecken unterhalten, als Escape rooms. Das große Ding der Jahrhundertwende sind: Blasensteine. 

Große Exemplare sind begehrt als Schmucksteine (etwa als Augenweide, also in der Iris), aus kleinen lassen sich individualisierte Displays und Mangiotheken fertigen. Für Weltenbürger ohne Zugang zu KI oder WI (wohltätige Intelligenz), dafür mit der passenden Veranlagung, ist eine purinreiche Spezialdiät, unterstützt durch Power-Enzyme, die auf den Bargeldmärkten überall angeboten werden, ein gangbarer Weg zu Ansehen und Wohlstand. 

Ist der Blasenstein groß genug, wird er von Mineralienhändlern auf den Messen in Antwerpen oder Xi‘an verkauft. Ein Exemplar der ersten Güteklasse entspricht einem (alten) Emissionszertifikat, mit anderen Worten: Der Spender hat ausgesorgt, von der fälligen Belobigung durch die Loge der weisen Rechenmaschinen ganz abgesehen. 

Ein Problem ist höchstens die rationierte Operationskapazität: Vor den Toren Xi’ans, bis hinein in die Wüste Gobi, warten Abermillionen auf ihr Date mit dem OP-Roboter. 

Weitsichtige Eltern lassen ihren Kindern bereits während der Schwangerschaft die Blase durch ein widerstandsfähigeres Kunstorgan ersetzen, damit die Mineralienzucht schmerz- und komplikationsfrei abläuft. Meine eigene Blase ist aus recyceltem Neopren - ganz was feines. Einen Stein von mir könnten Sie womöglich schon mal gesehen haben: Ludmilla (₩•₽•¥°), ja, die „Gletscherfrau aus Gibraltar", trug ihn neulich im linken Auge, von innen senfgelb beleuchtet. Ja, das war meiner. 

Da staunen Sie, was? Zurecht! 

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