3.7.
Wird Zeit, dass meine geliebte Frau wieder beruflich etwas mehr zu tun kriegt. Teresa hat eine Vielzahl außergewöhnlicher Talente, unter denen ich zwei hervorheben möchte: Singen und Forschen. Für eine Opern- und Konzertsängerin waren die vergangenen Monate nicht ganz optimal; abgesagt wurde im Grunde alles, was auch nur entfernt an ein Konzert erinnerte, mit einer Ausnahme: In Kirchen scheinen Sopranistinnen umso wichtiger, je weniger die Gemeinde singen darf, und so hatte Teresa einige erbauliche Stunden auf den Emporen der Stadt. Wenn epidemiologisch nichts dagegen spricht, wird sie auch in diesem August wieder in der bestrickenden Basilika in Mondsee singen, die Bach-Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ (was passte besser) und die „Coronation Mass“ von Mozart (den kleinen Spaß wollten sie sich gönnen).
Zu ihrer Promotion letztes Jahr schenkte ich ihr (bzw. uns) ein Klingelschild, auf dem „Dr. Boning“ steht. Ihre Dissertation schrieb Teresa über das Thema „Funktionale Gesangspädagogik im psychiatrischen Setting“; sie erforschte, welchen Einfluss Singen auf Menschen mit psychischer Erkrankung hat, und nicht nur sie, nein, auch ich habe durch die vielen Begegnungen viel gelernt. Die Ergebnisse der Studie in alleräußerster, total unwissenschaftlicher Verknappung: Gegen Schizophrenie hilft Singen nur in Spezialfällen, ebenso bei posttraumatischen Belastungsstörungen, bei Depressionen hingegen oft. Meine Bewunderung für die Offenheit und die Energie, mit der sie sich den Patienten widmete, war und ist grenzenlos, und wurde nur noch von jenem Staunen übertroffen, mit dem ich ihre Arbeit an der Niederschrift der Diss. quittierte, die im wesentlichen nachts stattfand, als Theo - und ich - schliefen.
Teresa ist ein ganz und gar angstfreier Mensch, das drückt sich schon in ihrer Lieblingspartie als Sopranistin aus, nämlich der „Königin der Nacht“: Die Arien sind höllisch schwer, und jeder meint zu wissen, wie‘s klingen soll.
Noch ein Beispiel: Stillen. Teresa stillt beide Kinder, nach Bedarf, das bedeutet, in der Tram, in der Kirche, backstage sowieso, und je größer die Kinder, desto größer die Augen mancher empörter Passanten. Obwohl doch die Vorteile des Stillens allgemeinen bekannt sind.
Ein besonderes Abenteuer war der von meiner Gattin geleitete Patientenchor im Rahmen ihrer Studie im Klinikum Rechts der Isar: Einigen der Teilnehmer war die Last ihres Lebens ins Gesicht geschrieben, und umso ergreifender war die Lösung der Herzensfesseln, die Leichtigkeit, die sich dieser lieben Menschen bemächtigte, wenn sie im Chor zusammen sangen. Ich war bei fast allen Konzerten dabei, unter anderem bei Gottesdiensten „für Menschen mit und ohne psychiatrische Erkrankungen“. Einerseits waren dies einige der spannendsten Konzerte, an die ich mich erinnern kann, und andererseits habe ich bei diesen Veranstaltungen die leidlindernde Kraft des Glaubens gerade für jene Mitmenschen begriffen, denen es weniger gut geht als uns.
Aus den allseits bekannten Gründen ist Singen im Krankenhaus momentan nicht sonderlich gern gehört, und es wäre beglückend, wenn sich dies eines schönen Tages wieder ändert.
Bei mir hingegen tut sich einiges: Ab morgen darf ich mich in Köln wieder ausgiebig mit dem SAT1-Vorabendprogramm beschäftigen, und ich freue mich auf die lieben Kollegen, an erster Stelle auf Hugo Egon Balder, den coolsten Typen, dem ich je begegnet bin. Bin nicht zuletzt auf das Hygiene-Konzept gespannt.
Und, neu im Programm: Ich lese aus diesem Tagebuch vor. Am 23. dieses Monats auf Sylt, am 24. auf Amrum. Jeweils zwei Veranstaltungen vor limitiertem Publikum à 50 Minuten. Könnte ein interessanter Freistil-Mix aus Lesung und gruppentherapeutischer Gesprächsrunde werden.
4.7.
Tabakwerbeverbot, endlich. Ist natürlich schade für die Indianer Nordamerikas, deren wirkmächtigste Beiträge zur Weltkultur Kraulschwimmen und Rauchen waren. Ansonsten gilt: Hauptsache gesund!
Katalysator, Fahrverbot, Lebensmittelampel, Krebsvorsorge, Helmpflicht, Corona-App - unser Leben wird immer länger, und das ist doch ein erfreulicher Trend.
Zur Reichsgründung 1871 betrug die Lebenserwartung keine 40 - weniger als die Hälfte jener Jahre, auf die man heute hoffen darf. Als utopisches Fernziel lockt die Vierstelligkeit - jedenfalls viele.
Meine Oma Gerda starb mit 94. Sie hatte viel erlebt, und kurz vor ihrem Tod sagte sie „Jetzt reicht’s auch“. Den Begriff „Lebensmüdigkeit“ begriff ich, als ich ihr dabei zusah, wie sie sich täglich in heroischem Kampf die dreizehn Stufen zu ihrer Wohnung hinauf kämpfte.
Ob ihr Leben erfüllter gewesen wäre, wenn sie zB 150 Jahre lang gelebt hätte? So manche Gefühlslage dürfte sich in einem so langen Leben wiederholen - es sei denn, jede Lebensphase würde extrem gestreckt werden: 20 Jahre Schule, 30 Semester Studium, fünf Jahre Dating bis zum ersten Kuss, 50 Jahre später dann das erste Kind - langsam leben, wie der Grönlandhai, der ohne Hektik durchs Kaltwasser gondelt und Jahrhunderte alt wird.
Aber: Das lange Leben hat seinen Preis. Kein Rasen, keine Orgien, kein Bier vor vier, Zucker und Fett streng rationiert, keine Bergtouren in Badelatschen, keine Tätowierungen, Maske Tag & Nacht obligatorisch, tägliche Tests auf alle bekannten Krankheiten, laute Musik verboten (Gehörschutzgesetz), neun Stunden Schlaf gesetzliches Minimum, aufregende Filme ausschließlich mit Attest des Kardiologen.
Nur mit zuverlässiger Sozialkontrolle lässt sich die Lebenserwartung ausreizen; die Chinesen leisten Pionierarbeit, und wir folgen, die Zeigefinger gereckt - auf freiwilliger Basis, versteht sich.
Eigenverantwortung, so sagen die Lebensverlängerer, ist der frisch ondulierte Zwillingsbruder der Verantwortungslosigkeit, und die Mehrheit nickt - wer will schon früh sterben?
Mein Papa pflegt jedoch zu sagen: Die Summe der Laster bleibt gleich. Auch im grellen Schein der Totalüberwachung werden sich schattige Plätzchen finden, an denen Homo ludens in Unvernunft schwelgen kann.
Weltraumbahnhof Coloneum. Kommandant Balder lädt Hella von Sinnen und mich zu 34 weiteren Umrundungen des Planeten Ossendorf. Ohne Publikum, dafür mit Plexiglasscheiben zwischen den Besatzungsmitgliedern und neuem Spielsystem. Als Kandidaten fungieren Pärchen, mit sehr praktischer Begründung: Wer im selben Haushalt wohnt, muss keinen Abstand halten - das tut der Optik gut.
Statt banaler Scheiben hätte ich natürlich lieber rundum abschließende Kapseln, wie damals bei „Der große Preis“, aber sei‘s drum.
Bester Witz der Durchlaufprobe: Wir haben den Sicherheitsbeautragten der Firma Tönnies abgeworben, der als erste Amtshandlung unsere Klimaanlage hochgedreht hat.
Zweitbester Witz: Ich bin Superstar und hätte mein Plexiglas gerne dunkel getönt (ist sogar von mir).
5.7.
Endlich wieder Fernsehfabrik! Ich versuche auszuschlafen, bin aber leider schon um 5:30 wach wie ein Wanderfalke. Also aktiviere ich die Kaffeemaschine in meinem Komfort-Appartment, für die ich (ganz geübter Stammgast) noch gestern eine Jumbo-Packung mit 30 Kapseln erworben habe, außerdem Müesli, Milch und Orangensaft.
An ein Duschpflaster habe ich erneut nicht gedacht, und so beginne ich den Tag mit sehr spezieller Brausengymnastik: Geldusche, ohne dass der OP-Verband nass wird (Gel-Dusche, besser mit Bindestriche, nicht Geld-Usche. Wüsste nicht, was das sein soll). Anschließend studiere ich das ausgelegte DIN-4-Blatt mit den Sicherheitsvorkehrungen. Sauna ist erlaubt, aber maximal 40 Minuten pro Hotelgast. Da habe ich mich doch gerade mal ausgezogen. Im Frühstücksraum ist man gehalten, seinen Platz nach der Nahrungsaufnahme zügig freizugeben, damit alle dran kommen. Ich finde dieses Angebot nicht überwältigend und frühstücke lieber im Bett. Dann schwinge ich mich auf meinen Tretroller und genieße den Arbeitsweg: Vom Hotel zum Rhein, Fordwerke bis zur Leverkusener Autobahnbrücke, dann links ab zum Studio in Ossendorf. Viele Radtouristen mit Urlaubsgepäck und Zelt auf’m Gepäckträger, alle Altersklassen, alle Ausrüstungskategorien. Camping trendet. Unter anderen Umständen könnte deren Anblick auch bei mir Reiselust verursachen, aber ich genieße es, endlich wieder mitquizzen zu dürfen. Drei Shows pro Tag - so nah am Arbeitsleben der alten Normalität, wie man in unserer Branche überhaupt kommen kann.
Was ist hinter den Kulissen neu? Es gibt kein Büffet mehr, in den Garderoben liegen Speisekarten aus. Ins Treppenhaus darf immer nur eine Person, und eine Raumpflegerin wuselt ohne Unterlass die Flure entlang und desinfiziert Lichtschalter und Klinken. Maskenpflicht für alle, die nicht maskiert sind (wenn ihr wisst, was ich meine).
Hinter den Kameras sitzen bei uns 18 Zuschauer (nie im Bild), die für Stimmung sorgen. Funktioniert prima. Bei einem anderen Sender, so hörte ich, wird auf Publikum komplett verzichtet, obwohl ein solches (limitiert, mit Abstand) durchaus zulässig wäre. Grund: Nach den ersten Shows mit Zuschauern gab es haufenweise böse Briefe; die Leute wollen keine Menschenansammlungen im TV, auch keine kleinen.
Wir jedenfalls sitzen in unseren Plexiglas-Separées und fühlen uns wie Postbeamte oder wie in Telefonzellen. Man spricht unwillkürlich lauter gegen die Scheiben, weil man annimmt, dass die anderen einen sonst nicht hören. Wir könnten gegen die Scheiben hauchen und in den Beschlag hineinschreiben oder unsere Nasen dran plattdrücken oder Gardinen vorhängen oder Blumenkästen, aber mein Gefühl sagt mir, dass man die Schutzmaßnahmen gar nicht thematisieren sollte. Wir wissen ja nicht, wie die Story sich entwickelt; entweder das Virus verschwindet geheimnisvoll von jetzt auf gleich, so wie von Trump vorhergesagt, oder es kommt die zweite Welle. In der Schweiz brennt die Bude bereits (sagt jedenfalls die Süddeutsche Zeitung), Katalonien zieht die Gardinen zu, und auch Österreich meldet einen Anstieg hie und da. Sicher erscheint mir lediglich, dass es einen zweiten Lockdown in Europa nicht geben wird. Grund: Wir könnten ihn uns gar nicht leisten, der Kreditrahmen ist ausgeschöpft. Man wird stattdessen lokal reagieren: Mal hier einen Burggraben fluten, mal da eine Zugbrücke hochziehen.
In den Umbaupausen wird natürlich viel über Corona gesprochen, und wie nicht anders zu erwarten, wenn Berufshumoristen gemeinsam die Zeit totschlagen, entstehen mitunter originelle Ideen. Zum Beispiel: Wohin mit all den Schweinen, die jetzt nicht bei Tönnies geschlachtet werden können? Antwort: Auf die Kreuzfahrtschiffe mit ihnen. Da ist momentan eh viel Platz, und die Tiere haben sich eine schöne Reise verdient.
6.7.
Mecklenburg-Vorpommern will die Maskenpflicht im Handel abschaffen und sucht den Schulterschluss mit anderen norddeutschen Bundesländern. Warum eigentlich? Wenn Manuela Schwesig findet, dass Masken überflüssig sind, kann sie doch auch alleine Gesicht zeigen. Die Infektionszahlen sind jedenfalls ähnlich klein wie die Zahl der Elche zwischen Wismar und Usedom. Oder hat sie ohne Buddies Angst vorm gestrengen Markus Söder, dessen Schützlinge hinter weiß-blauem Rautenstoff verschwunden bleiben (wenn nicht bis in alle Ewigkeit, dann doch wenigstens bis nach der zweiten Welle)?
Womöglich ist die Angst übertrieben, und eigentlich ist der Markus ganz umgänglich - zumal er gerade ein neues Lieblingsthema entdeckt hat: „Agrar-Ökologie statt Agrar-Kapitalismus“ fordert er auf Instagram; Söder will kleinere Betriebe stärken, dem Tierwohl größeren Rang einräumen. Grüner wird‘s nicht. Aber folgt ihm die Union? Bei Twitter kommentiert jemand die Videobotschaft folgendermaßen: „Tja, für den Machterhalt werden auch noch andere "konservative" Positionen aufgegeben, insbes. zur Gesellschaftspolitik... das "C" der Unionsparteien ist bald nur noch ein Feigenblatt, wenn's so weitergeht... schade“.
Auch in der Hoffnung, meinen unangenehm niedrigen Blutdruck an diesem schwülen Tag durch ein gepflegtes Scharmützel anzuheben, schreibe ich drunter: „Wobei ich das „C“ in den großen Agrarfabriken auch nur mit Mühe erkenne. In der Vogelpredigt von Franz von Assisi wird Wiesenhof jedenfalls nicht erwähnt“.
Natürlich ist Söders Ansatz richtig, und man könnte sogar argumentieren, dass die Union, indem sie während der Corona-Krise ohne zu Zucken den Begriff „Systemrelevanz“ nicht mehr den Banken, sondern Ärzten und Pflegern übereignete und wirtschaftliche Überlegungen hintenanstellte, das „C“ nachgerade wiederentdeckt hat - so christlich wie in den letzten Monaten präsentierte sich die Politik schon lange nicht mehr.
Leider gerate ich durch den kleinen Twitter-Disput nicht in Wallung und gähne mich weiterhin schlupflidrig durch den Tag. Habe frei, Familie ist zuhause; es herrscht eine ungewohnt reizarme Ruhe, die mich aufs Sofa zwingt. Kaum schaffe ich‘s zu einer kleinen Spazierfahrt auf meinem Tretroller, durch Adenauers Grüngürtel, um im Fachbereich „Schwarz-grün“ zu bleiben, danach bereite ich mir mein Mittagessen zu: Matjes Hausfrauenart mit Pellkartoffeln. Immerhin genossen die Heringe ein Leben in Freiheit und mussten keine „Kastenhaltung“ oder ähnliche Schweinereien erdulden. Aber vielleicht ist mir diese Differenzierung auch nur deshalb so wichtig, weil sie mein Gewissen teilerleichtert - dem Hering hilft es in der Hausfrauensoße wenig, sich an sein schönes Leben in der Nordsee zu erinnern, zumal seine Gedächtnisleistung wissenschaftlich umstritten ist.
Nachmittags zwinge ich mich ein drittes Mal in die Lotrechte und besuche die Kirche St. Ursula (in neuen Badeschlappen), um mich für mein schönes Leben zu bedanken, und nebenbei auch für den Umstand, dass ich als Mensch das Privileg genieße, mein Dasein nicht in einer Agrarfabrik zu fristen, um bald nach meinem erzwungenen Ableben als Billigfleisch verramscht zu werden.
7.7.
Dumm! Unsolidarisch!! 6-!!!
Erstaunlich, wie man mit vermeintlich unwichtigen Nebensätzen für Aufregung sorgen kann. Seitdem ich mein Tagebuch öffentlich schreibe, habe ich mir mehrfach kräftigen Widerspruch eingehandelt - manchmal war dieser absehbar, manchmal nicht.
Dass Mund-Nasen-Schutzmasken kontrovers beurteilt werden, war für mich keine Überraschung - eher schon die Schärfe, mit der ich im April dafür kritisiert wurde, dass ich meine ersten Maskenerlebnisse mit eher wenig Euphorie schilderte.
Mancheiner sah zu Beginn der Krise sogenannte Prominente, mithin auch mich, in einer Vorbildfunktion („Stay home!“). Ein ums andere Mal wies ich auf den Tagebuch-Charakter meiner Coronik hin, dass ich mich als Amateur-Ethnologe mit mir selbst als zu studierendem Objekt beschäftige und dass meine Texte eher als Protokolle der Feldforschung begriffen werden können, keineswegs jedoch als ideologische Statements.
Als ich mit meinem Bericht einer Bergbesteigung in Badelatschen einen zünftigen Shitstorm auslöste, war ich überrascht, denn wer mein Buch „Bekenntnisse eines Nachtsportlers“ gelesen hat, weiß, dass ich schon unter einigen hundert Gipfelkreuzen stand, bisweilen unter nicht gerade gesundheitsförderlichen Bedingungen, und dass es zu meinen sportlichen Zielen gehört, die Zugspitze in Stöckelschuhen zu erklimmen, was deutlich mehr Konzentration erfordert als eine läppische Badelatschentour auf den Hamberg im Zillertal.
Meine Gattin Teresa hielt die deutliche Kritik für ein Zeugnis der Zuneigung meiner Leser, einen Ausdruck der Mütterlichkeit gar, der nichts mit einem coronäischen Klima übergriffiger Sozialkontrolle zu tun hat, wie zunächst von mir vermutet.
Auch wird mein Tagebuch von Menschen wahrgenommen, die mir evtl vorher gar nicht oder nur im Pantoffelkino begegnet waren. Gestatten: Boning; so langsam lernt Ihr mich kennen, und je mehr ich, je mehr man von sich preisgibt, desto größer ist die Chance, auf Ablehnung zu stoßen.
Als ich vorgestern wahrheitsgemäß notierte, dass in meinem Hotelzimmer eine „Caffissimo“-Maschine steht, die ich mit passenden Kapseln betreibe, führte dies bei manchem zu Entrüstung: „Kapselkaffee geht gar nicht“, las ich in diversen Abwandlungen, und ich fragte mich, ob ich wohl einen Fehler gemacht hatte. Daheim koche ich Kaffee im French-Press-Verfahren, auf unserer Hütte gibt’s Filterkaffee unplugged, aber da im Hotelzimmer eben nur diese eine Maschine steht, meinte ich in meiner Nonchalance keine Wahl zu haben. Hätte ich Kanne plus Porzellanfilter von zuhause mitbringen müssen? Aus der Sicht eines rigorosen Umweltschützers wäre dies natürlich die einzig richtige Lösung gewesen!
Spannend finde ich an diesen Schurigeleien, dass sie bisweilen durch ein einziges Wort ausgelöst werden, in meinem Fall zB „Grundrechtseinschränkungen“, „Badelatschen“ oder eben „Kapselkaffee“. Schade, dass ich dieses Tagebuch nicht schon vor Corona bei Facebook geführt habe, denn sonst könnte man untersuchen, ob sich die Wirkung passender Ein-Wort-Trigger im Laufe der Krise verstärkt hat - da ich dies allerdings versäumt habe, wäre jeder Versuch einer eingehenderen Analyse Spökenkiekerei.
Auf jeden Fall freue ich mich auch weiterhin über jede Kritik, auch pauschale Herabwürdigungen sind mir willkommen, weil bekanntlich auch die unangenehm scharfkantigen Steinchen das Mosaik unserer Zeit komplettieren.
Festhalten lässt sich schon mal, dass Facebook und Corona vortrefflich zusammenpassen. Für die jungen Leute sind Tiktok und Snapchat gefährlichere Erkrankungen, die Alten erliegen eher der Zucker-Krankheit - oder eben Corona. Beides mutiert, und ist man die Seuche los, bleibt man nicht sein Leben lang immun. Immerhin sind wir bei Facebook der Herdenimmunität deutlich näher als bei Corona. Man mag beides furchtbar finden, aber wir werden bis auf weiteres mit beidem leben müssen.
8.7.
Wir haben Glück: Das neue Spielsystem, aus der Coronot geboren, funktioniert nicht nur prächtig, es funktioniert mindestens so gut wie das der 386 präcoronäischen „Genial Daneben Das Quiz“ - Sendungen.
Um die Anzahl der Mitwirkenden zu reduzieren, gibt es nur noch ein Kandidatenpaar anstatt der bisherigen sechs. Zudem spielen Hella von Sinnen, ich und die Gäste im Panel nicht mehr gegen die Kandidaten, sondern wir beraten sie. Einerseits entfällt der Duell-Charakter (lag mir eh nicht, mangels charakterlicher Wettbewerbsorientierung), andererseits fiebern wir mit den Kandidaten kräftig mit und wünschen ihnen Erfolg. Hinzu kommt das neue Studio, das mich mit seinen pink-gelben Knallfarben erfrischt. Auch das kleinere Studiopublikum kommt uns zugute: weniger Remmidemmi, weniger Hektik. Nun hoffen wir, dass der geneigte SAT1-Zuschauer die Änderungen ebenso begrüßt wie wir. Einstweilen laufen hervorragende, fulminante und bestbesetzte, von viralen Gefahren noch gänzlich unbeeinflusste Sendungen, durch die man die „alte Normalität“ gleichsam im Rückspiegel genießt (werktags 19 Uhr, SAT1).
Hätte nichts dagegen, noch ein paar hundert Shows mit meinen Freunden zu zelebrieren. Völlig unklar, wie oft wir insgesamt schon vor der Kamera standen. Hella lernte ich Anfang der 90er bei RTL-Samstag-Nacht kennen, da war sie gemeinsam mit ihrem Spezi Dirk Bach zu Gast; später saßen wir bei „TV-Quartett“ für Leo Kirchs Ballungsraumsender vor der Kamera, in den Originalkostümen von „Raumschiff Orion“, anschließend gab’s die erste Dekade „Genial Daneben“ und, auweia, „Der Klügere kippt nach“ für Tele 5.
Eintausend gemeinsame Sendungen könnten’s mittlerweile sein; schade, dass niemand mitgezählt hat. Und nun sitzen wir in unseren Plexiglasverschlägen und, oh Wunder, fühlen uns wohler denn je.
Hugo hat inzwischen eine hübsche neue Verschönerungsidee für die Scheiben: schwarze Raubvogelsilhouetten draufkleben, krah-krah.
Mit dem Tretroller geht’s morgens bis nach Worringen am Rhein, dann durch den Bruchwald und über Lindweiler zum Studio in Ossendorf. Zwischen den drei Shows konsequent Nickerchen, außer es gibt Spezialtermine, wie etwa heute eine Fotosession für das Marketing von SAT1 - meine erste Fotosession in Coronazeiten. Ist natürlich eine etwas merkwürdige Sache, weil Hugo, Hella und ich schon aus privater Tradition am liebsten untergehakt, eng umschlungen, kuschelnd beieinander stehen, wir aber nunmehr eineinhalb Meter Abstand einhalten müssen. Oder sollen, dürfen, was weiß ich. Also positionieren wir uns fürs Foto zu einem gleichschenkligen Dreieck, wobei die Hohlkehle, in der wir agieren, für echte 1,50 m recht knapp bemessen ist. Warnend weise ich auf diesen Umstand hin und bin mir selber unsicher, wie groß die Portion Ironie ist, die in meinem Einwurf steckt. Eine Prise? Ein Fuder? Ist jedoch insofern egal, als dass man auf den späteren Fotos kaum einen Zollstock wird anlegen können.
Apropos Vogel: Brasiliens Präsident Bolsonaro ist an Covid-19 erkrankt. Ohne Zweifel ist er ein homophober, vulgärer Widerling, aber dennoch wünsche ich ihm einen milden Verlauf und zügige Besserung. Gewiss, einen winzigen Moment lang schoß mir durch den Kopf, dass ein nicht ganz so milder Verlauf pädagogisch wirksam sein könnte, nämlich indem er Bolsonaros Sicht auf das Virus und anschließend dessen Politik ändert. Aber Sekunden später geißelte ich mich für diese Idee. Nein, niemandem wünsche ich Intensivstation und Intubierung, auch nicht einem Bolsonaro. Zur Erleuchtung sollte er, wenn irgend möglich, auf anderem Wege kommen.
9.7.
Im Traum gerate ich in eine Polizeikontrolle. Die junge Wachtmeisterin richtet ihre Fiebermesspistole auf meine Stirn, und anschließend zeigt sie mir die graue Digitalanzeige des föhnformatigen Geräts: 38 Grad. Unbehagen befällt mich. Die Polizistin erklärt mir, dass ich mich einer Befindensprüfung unterziehen müsse. Zunächst solle ich zwei Rollen vorwärts absolvieren, anschließend aus dem Liegestütz über eine zusammengelegte Polizeilederjacke springen.
Die Rollen sind kein Problem, aber der Sprung aus dem Liegestütz gerät zu kurz; ich lande mit dem Brustbein auf der Jacke, schwer schnaufend, und im Augenwinkel sehe ich, wie die Polizistin einen Kabelbinder zückt, wohl um mir die Hände zu fixieren. Schweißnass erwache ich; es ist noch dunkel.
Ein Blick auf die Nachrichten-App: Katalonien erwägt eine Maskenpflicht für draußen. Träume ich noch immer? Ok, wir lernen in dieser Krise alle permanent hinzu, aber ich hielt es bereits für hinlänglich belegt, dass das Risiko, sich bei Einhalten des Mindestabstands draußen anzustecken, minimal ist. Allerdings habe ich mich entschlossen, alle Maßnahmen mitzutragen, die notwendig sind, um Corona in Schach zu halten; notfalls würde ich auch den Mount Everest in Badelatschen mit Mundschutz erklimmen, wenn es die Gesetzeslage verlangen würde.
Aber, schluck, sonderlich schön finde ich die Vorstellung nicht, Wälder, Wiesen und Auen nur hinter leuchtendem Ährengold zu durchrollen, oder einem anderen passenden Stoff.
Nun ist Katalonien weit weg, und womöglich gibt’s im Pyrenäenvorland Fallwinde, welche die Aerosolverbreitung fördern. Andererseits fürchte ich Söders Motto, immer einen Tick strenger zu sein als alle andern. Was die Katalanen können, kann der Franke erst recht. Quantitativ wäre Deutschland für eine Maskenpflicht an der frischen Luft mittlerweile gerüstet: Ab August sind heimische Produktionsstätten in der Lage, jährlich sieben Milliarden zusätzlicher Masken herzustellen.
Wenn ich die Bebilderung der entsprechenden Zeitungsartikel richtig deute, handelt es sich um Vliesmasken, mithin um Einwegartikel. Wäre es nicht sinnvoller, auf unkaputtbare Dauerstoffe zu setzen, die man auch zu SARS CoV 56 wieder aufsetzen kann? Womöglich auch thermoregulierte Exemplare, die man im Hochsommer zur Gesichtskühlung, im Winter gegen Erfrierungen einsetzen kann?
Hierüber grübelnd schlafe ich wieder ein.
Als ich zum zweiten Mal erwache, ist es taghell. Kapselkaffee zum Frühstücksfernsehen. Ein junger Mediziner beantwortet Zuschauerfragen. Ob Mücken Corona übertragen können? Der Arzt lacht auf, der Moderator erläutert: „Nerze können das immerhin auch!“ Der Mediziner argumentiert, dass sich die Viren im Blut nur in einem kurzen Zeitfenster tummeln. Genau dann müsste die Mücke zustechen, sich vollsaugen, anschließend...und dann winkt der Fachmann ab, erklärt das Szenario für unrealistisch, woraufhin der Moderator zur Tagesschau abgibt.
Die Mückenfrage begleitet mich noch eine Weile durch den Tag. Man müsste die frisch mit virenträchtigem Blut gefüllte Mücke erlegen und mit den eigenen Schleimhäuten in Kontakt bringen - eine Popelei, die mir machbar erscheint.
Ist Bolsonaro wirklich krank? Selbst die FAZ zweifelt seine Covid-19-Infektion an, obwohl es für ein Simulieren nicht ein einziges Indiz gibt, im Gegensatz zur Erkrankung - diese wird immerhin vom Tropen-Trump höchstpersönlich behauptet. Die Spekulationen der FAZ sind zwar nachvollziehbar (Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er eine Grube gräbt). Dennoch: Seriöser Journalismus ist das nicht. Anders als bei „Genial Daneben das Quiz“ - hier entscheiden ausschließlich die nackten Fakten über Wohl und Wehe der Kandidaten.
10.7.
Bin jetzt schon gespannt auf die nächste Zoonose. Vielleicht springt mal ein Virus vom Meerschweinchen über, oder vom Dobermann? Dann kriegte Martin Rütter viel zu tun!
UN-Generalsekretär Gutteres warnte unlängst, dass Neu-Seuchen theoretisch ansteckend wie Corona, aber dabei gefährlich wie Ebola sein könnten. Vielleicht sogar ultimativ tödlich (das ist zwar eigentlich kontraproduktiv für das Gedeihen der Viren, aber ein bisschen Schwund ist bekanntlich immer - sogar beim Wechsel des Wirtstieres).
Was dann? Puh, dann wäre Leben in der Bude! Noch mehr Brennpunkte, noch längere ZDF-Spezials. Aber nur kurz, denn schon bald wird der Reigen der Sondersendungen abgelöst von der großen Sendepause, und in besagter Bude kehrt Ruhe ein.
Solange Gevatter Hein ausnahmslos uns allen begegnet, könnte man sich mit der finalen Pandemie wohl am besten arrangieren. Noch ein paar heiße Orgien, nix mit „social distancing“, Kohl&Pinkel satt, mit meiner Frau die Mozart-Lieder singen und Charlie Parker durchhören, noch einmal Boden wischen und Schuhe putzen, und dann würde ein großes Aufatmen um den Planeten huschen - nicht von uns Menschen, aber von den allermeisten unserer Mitgeschöpfe.
Nur wenige Kulturfolger wie Chihuahua und Alpendohle werden uns nachweinen, alle anderen machen die Beckerfaust, die Säge, schmeißen sich in Ronaldo-Pose, singen uns freudentrunken Spottlieder hinterher, à la „Wie hustet Homo Sapiens? Öff-öff-öff!“
Von der Waldameise bis zum Blauwal: Alle werden sie sich über unser Verschwinden freuen, und auch die Pflanzen, ob Wildkräuter in deutschen Vorgärten oder der Regenwald am Amazonas, winken zufrieden mit ihren Blättern im Wind.
Dass wir uns überhaupt für rettenswert halten, ist doch im Wesentlichen Folge unserer humanozentrischen Weltsicht - ein neutraler Beobachter irgendwo im Weltall könnte auch zu dem Schluss kommen, dass wir Menschen lang genug die Evolutions-Dividenden verprasst haben. Andere wollen auch mal auf‘s Karussell!
Ich weiß, es ist für uns Menschen unangenehm einzusehen, aber niemand wird uns vermissen, „Lebbe geht weiter“, wie Stepanovic einst sagte (außer für uns).
Nur wenige Jahre nach dem Z-Day sind wesentliche Zeugnisse menschlicher Kultur, vom Lidl bis zum Autobahnkreuz, zu Ruderalfluren geworden; Birken brechen durch den verwaschenen Beton, und ein paar Dekaden weiter haben sich andere Geschöpfe an die Schalthebel begeben.
Komplexer wird die Situation, wenn nicht wir alle, sondern sagen-wir-mal zwei Drittel der Menschheit dem Sensenmann die Hand drücken. Alle wollen weiterleben, und darum werden die Schlagbäume runtergehen, Schluss mit Flugverkehr, Intensivbetten nur für Privilegierte, also im Grunde ähnlich wie gehabt, nur mit noch spitzeren Ellenbögen.
Dieses Szenario male ich mir eher ungerne aus.
Schluss damit; beschäftigen wir uns lieber mit den leichten Malaisen, mit den medizinischen Konversationsstücken: Ob ich mein OP-Pflaster schon abnehmen kann? Zwei Wochen soll es drauf bleiben; heute sind zehn Tage um - das sind doch so gut wie zwei Wochen, oder? Neugierig schaue ich im Spiegel auf den Verband, und ich fühle mich wie ein Kind, das weiß, wo Mama die Weihnachtsgeschenke versteckt hat, sich aber nicht traut, diese schon mal in Augenschein zu nehmen.
Was passiert eigentlich, wenn man das Pflaster zu früh abnimmt? Wahrscheinlich kann im schlimmsten Fall die Wunde aufreißen, und dann suppt’s, gell?
11.7.
„Brille kaputt, Karriere am Ende“ - diese Boulevard-Schlagzeile, witzelten wir zu Samstag-Nacht-Zeiten, werde eines Tages das Ende meiner Laufbahn markieren. Nun ist es soweit; ein Bügel ist mittig abgebrochen. Immerhin sitzt das Ding weiterhin leidlich auf meiner Nase.
Zehn Uhr: Ich stehe vorm Optiker in der Kölner Innenstadt. Eine junge Mitarbeiterin ruft in die Menschenmenge: „Wer hat Termin?“ Ich nicht, muss warten. Nach einer Weile bin ich an der Reihe, muss meine Hände desinfizieren. Bzw: In einer Hand trage ich Hut und Brillenbruch, so dass nur die andere eingesprüht wird - klassischer halber Kram, interessiert aber nicht weiter. Diagnose: Brille müsste eingeschickt werden, was natürlich nicht geht, denn ohne liefe ich schnurstracks gegen die nächste Litfaßsäule oder wäre doch wenigstens ein herausragendes potentielles Opfer auch für den ungeschicktesten Trickbetrüger. Stattdessen kaufe ich mir Sekundenkleber und versuche, die havarierten Bügelhälften zusammenzukleben. Durchmesser der Metallstangen: Ein Millimeter. Laut Verpackung hing ein 4,1 t schwerer Pick Up Truck eine Stunde lang an einem Stahlzylinder von 7 cm Durchmesser, festgeklebt mit dem von mir erworbenen Produkt. Nun war dieser Stahlzylinder 70 x dicker als mein Brillenbügel, aber meine Brille wiegt auch nicht unwesentlich weniger als ein Pick Up Truck. Ein Dutzend Versuche später ist die Tube leer und zwei Hosen sind in der Schrittzone ruiniert, aber der Bügel hält nicht.
Schade, dass der Kleber laut Verpackung keine Lösungsmittel enthält, am Tag meines Karriereendes wäre eine zünftige Dröhnung nicht unwillkommen.
Derweil versucht Teresa mit unseren Kindern per Bahn von München nach Köln zu gelangen. Just als ich meine Reparaturbemühungen einstelle, klingelt das Telefon: Der ICE macht schlapp, im Niemandsland zwischen Nürnberg und Würzburg. Zwei Stunden Stromausfall, mithin unklimatisiert bei 30’, dann Evakuierung durch die Feuerwehr. Umstieg in Busse, weiter nach Würzburg, alle in den nächsten ICE, in dem nunmehr, ums mal vorsichtig auszudrücken, Mindestabstände nicht mehr eingehalten werden können. Essen Fehlanzeige.
Ein Platz im überfüllten Anschlusszug ist frei, und nach sechs Stunden Irrfahrt fragt Teresa (Mathilda in der Trage, Theo auf‘m Arm) vorsichtig, ob sie sich vielleicht hinsetzen dürfe. Die Dame verneint und zeigt ihr Ticket. „Den habe ich reserviert, wegen Corona - sie wissen schon, Abstandhalten ist das A und O!“ Zwei Stunden sieht die Dame meiner Gattin dabei zu, wie sie am Boden im Gang sitzend die Kinder bei Laune hält. Drei Minuten vor Ankunft in Köln-Deutz hat sie schließlich ihre Angst überwunden und bietet Teresa von sich aus den Platz an. Meine Frau bedankt sich und steigt aus.
Ich nehme mir derweil vor, die Halbbügelbrille bis zum bitteren Ende zu tragen, denke dabei an Wolfgang Borchert. In „Draußen vor der Tür“ trägt Hauptfigur Beckmann eine mit Gummiband befestigte Gasmaskenbrille, ein Mitbringsel aus dem Krieg. Kaputte Brillen haben Charakter!
In den 80ern habe ich sogar mal mutwillig eine Brille geschrottet, um auf mich aufmerksam zu machen. Der größte Held meiner Jugend war nämlich der Gitarrist und Sänger Arto Lindsay, und bei einer Matinee im Rahmen des Jazzfestivals in Moers stand er nur wenige Meter von mir entfernt und nuckelte an einer Apollinaris-Flasche. Zunächst steckte ich meine Hose in die Socken, und als er mich daraufhin immer noch nicht beachtete, nahm ich meine Brille und schlug diese fest auf eine Tischkante, so dass eines der Brillengläser zersplitterte. Frisch neu bebrillt schaute ich in seine Richtung, und tatsächlich: Arto Lindsay schaute zurück! Mein Held musterte mich kurz, schmunzelte spöttisch und sagte: „Nice socks you got there!“ - der Höhepunkt meiner Laufbahn.
Höhepunkt des Tages: Dass ich Teresa und die Kinder am Abend wohlbehalten in die Arme schließen kann.
12.7.
Bevor ich zum Pflaster komme...
Eines Tages werde ich Bahnchef sein, Bahnchef Boning. Mein Programm: Bahnfahren muss attraktiver werden, und zwar so attraktiv, dass Pünktlichkeit als lästig empfunden wird. Man muss so lange wie möglich im Zug bleiben wollen.
Für die Alternative, einen Expressbetrieb à point, ist der Investitionsstau inzwischen zu groß - der Zug ist abgefahren.
Schon heute scheint die Bahn jedem Reisenden ein individuelles Abenteuererlebnis bescheren zu wollen; schier unendlich ist die Auswahl an Gründen für „Verzögerungen im Betriebsablauf“.
Lasst uns die Corona-Krise nutzen, aus der Not eine Tugend machen und die DB in BB (Bummelbahn) bzw GB (Geisterbahn) umbenennen.
Schluss mit der Behauptung, Pünktlichkeit überhaupt anstreben zu wollen, lasst uns die Weichen Richtung Lässigkeit und Savoir-trainer stellen.
Meine erste Amtshandlung wird daher die Inbetriebnahme von Wellness-Waggons sein. Eine Sauna an Bord ist technisch schnell umgesetzt: Holzverkleidung, ein paar Bänke, fertig ist die Laube. Auf einen Ofen kann getrost verzichtet werden - im Sommer sind die Klimaanlagen sowieso in der Regel kaputt, im Winter könnte man grundsätzlich mit angezogener Handbremse fahren, so dass die Reibungswärme die Sauna erhitzt. Schaffner kümmern sich um die Aufgüsse.
Für die fällige neue Uniform denke ich an das Outfit von Lukas dem Lokomotivführer und setze hierbei auf eine Kooperation mit der Augsburger Puppenkiste. Raubeinigkeiten einzelner Zugbegleiter, dargeboten mit rußgeschwärztem Gesicht, werden vom Fahrgast eher als Ausdruck individuellen Charmes gedeutet als bisher.
„Sitzen ist das neue Rauchen“ titelte der Stern, nur wer liegt, siegt. Sämtliche Sitze im Personenverkehr werde ich daher durch Hängematten bzw Stockbetten ersetzen.
Ja, die Renaissance des Schlafwagens wird das Hauptziel meiner Amtszeit, und zwar nicht nur in der Nacht, sondern auch tagsüber.
Das Angebot „Schlafwagen 1. Klasse Einzel mit Dusche“ würde ich zum Appartement erweitern, das auch langfristig angemietet werden kann. So wird der Wohnungsmarkt entlastet, und man bleibt auch während eines Lockdowns mobil. Merke: Nur wer alleine reist, reist coronasicher.
Größtes Augenmerk werde ich auf die Bordgastronomie legen. Dass auch auf der Schiene frisch gekocht werden kann, beweisen die tschechischen Staatsbahnen. Ich werde im großen Stil Straßenköche aus Bangkok anwerben, die dem Hungrigen in Thailand für zwei Euro am Bordstein eine leckere und gesunde Mahlzeit zaubern - das geht auch für 15 Euro im ICE. Im Appartement gibt’s natürlich auch Kitchenetten für Hobbyköche, und in den Gesellschaftswagen erhält eh nur Einlass, wer eine Schale Nudelsalat, Kuchen, Feuerzangenbowle etc von zuhause mitbringt. Sharing heißt caring, bzw.: Willst Du verweilen, musst Du teilen.
Familien- und Mutterkind-Abteile gibt es momentan beim ICE nur in der zweiten Klasse, dabei gehören diese doch zwingend in die erste - um dort dann von allen Fahrgästen klassenlos genutzt werden zu können. Ein Turnwaggon mit Bällebad und Kletterwand ist das Mindeste, was ich den kleinen Fahrgästen anbieten werde.
Im Zusammenhang mit der Corona-Krise stolperte ich wiederholt über den Begriff „Entschleunigung“, den manche mit den „Maßnahmen“ verbinden, zumeist in schwärmerischer Konnotation. Auch diesen Trend wird ein Bahnchef Boning langsam, sehr langsam vorantreiben: Draisinen, aerosolsicher offen oder mit luftigem Regenschutz, sollten für Selbstfahrer bzw Fahrgemeinschaften im Nahverkehr, aber auch auf Langstrecken angeboten werden. In der „fitten Klasse“ ist man für umme unterwegs, verbrennt Fett und schützt das Klima. Und wo ich dies gerade so notiere, kommt mir die Idee, dass man den gesamten DB-Fernverkehr auf Muskelbetrieb umstellen könnte; junge Interrail-Touristen treten in die Pedale und lassen sich den eingesparten Strom als Prämie auszahlen. Ich werde sogleich eine Machbarkeitsstudie in Auftrag geben.
Schönen Sonntag allerseits, Ihr Bahnchef Boning.
Pflaster noch dran.
13.7.
Doppelgeburtstag auf der Dachterrasse in Köln: Meine Mama wird 79, mein kleines Söhnchen zwei Jahre alt. Wir sind zu zehnt, feiern im Kreise der Familie eifrig vor uns hin, und den roten Faden der Konversation habe ich zu verantworten: Mir, uns nahestehende Menschen fragten mich unlängst, wie alt meine Mama denn werden würde, und in einem Moment schwer verzeihlicher Unkonzentriertheit sagte ich „80“. Als meine liebe Mutter am Morgen die mitgebrachten Geschenke auspackte, amüsierte sie sich zunächst über Glückwunschkarten zum 80., auch über ein Buchgeschenk, dessen Titel auf diesen runden Geburtstag Bezug nimmt. Immerhin trafen auch Glückwünsche für meine Mama und „ihre Enkelin“ ein (sachlich unrichtig), zum ersten Geburtstag ihres Enkels (sachlich genauso unrichtig), ferner Kurznachrichten, die mit „beste Grüße nach Bremen“ endeten (geografisch ungenau). Nun klingt dies so, als wollte ich den schwarzen Peter auf andere Schultern schieben, auweia; für den wesentlichen Lapsus bin ich höchstselbst verantwortlich. Peinlich, peinlich.
Was wollen wir nächstes Jahr feiern? Den 90.? Oder wollen wir die Feier des 79. Geburtstages nachholen? Immerhin ahnt Mama nun schon mal, wie man sich als frischgebackene Octogénaire fühlen könnte.
Theodor bekommt zum Geburtstag mehrere Hubschrauber geschenkt, aus Metall, Kunststoff und Holz.
Man mag hinter dieser Luftflotte einen Absprachemangel vermuten, ich interpretiere ihn jedoch zuvörderst als Zeichen für die Konvergenz der Gedankengänge innerhalb der Familie Boning.
Zwischendurch diskutieren wir natürlich auch die Berichte meiner lieben Nichte, die in Schweden Theologie studiert und in Bälde auf Heimatbesuch kommt (natürlich nicht ohne zunächst in zweiwöchige Quarantäne zu müssen - sofern ein Schnelltest sie nicht direkt nach ihrer Ankunft entlastet). Fußnote: In Schweden sinkt jetzt, endlich, die Zahl der Neuinfizierten unter 50 pro 100.000 Einwohner.
Nach sieben Stunden Sonnenschein, einem Sekt und einem Grauburgunder verliere ich etwas die Orientierung, fühle mich selber wie knappe 80, sehe überall Hubschrauber und verwechsele anschließend Sonnenbrille und Mundschutz, was dem Infektionsschutzgesetz nicht genügt, dafür das Sehvermögen erheblich einschränkt.
Nach Abschluss des wunderbaren Familientreffens, als Teresa den alkoholfrei angeheiterten Jung-Jubilar und seine Schwester ins Bett zu bringen versucht, gönne ich mir den langerwarteten Moment der Wahrheit und entferne mit mannhaftem Ruck mein OP-Pflaster.
Der sich mir darbietende Anblick ist so unspektakulär, dass ich lachen muss: ja, mit frischeren Augen könnte man eine vier Zentimeter lange, feine Narbe vermuten, ja, man fühlt unter den Fingerkuppen eine gewisse Verholzung im Gewebe, aber das dermatologische Souvenir ist so dezent, dass es fast schon wieder spektakulär ist.
Schade eigentlich: Narben habe ich bisher keine, auch keine Ohrlöcher, keine Piercings und keine Tätowierungen. Unveränderliche Kennzeichen habe ich immer gemieden. Heute, im Zeitalter der Gesichtserkennung, ist diese Vorsicht überholt, und so hatte ich auf eine kräftige, markante, maskuline Narbe gehofft, einen Schmiss, der für offene Münder sorgt, den man mit der Erzählung einer Hammerhai-Attacke unterfüttern kann, wenn die Situation danach verlangt. Das, was unterm Pflaster verborgen war, lässt sich kaum mit einer Goldkarausche assoziieren. Und so kehre ich diesem schönen Tag schließlich einen glatten, allzu glatten Rundrücken zu.
14.7.
Die Ergebnisse der „Sächsischen Schulstudie“ lassen hoffen. Eines der interessanten Ergebnisse: Je schwerer die Erkrankung, desto größer die Ansteckungsgefahr. Da Kinder seltener schwer erkranken, sind sie weniger infektiös. So trugen Kinder das Virus nur ausnahmsweise in ihre Familien, und auch die Lehrer sind weniger gefährdet als zu Beginn der Pandemie befürchtet. Bin gespannt, ob es gelingt, auf der Grundlage dieser Studie Eltern und Lehrern die Angst zu nehmen - ich habe von einigen Lehrkräften gehört (alle über 60), die sich per Attest („Angststörung“) vom Unterricht haben befreien lassen. Was passierte eigentlich, wenn ich darum bitten würde, mich bei „Genial Daneben“ zu ersetzen und ein entsprechendes Attest vorlegen würde? frage ich Hugo Egon Balder, und seine Antwort kommt prompt: „Du weißt, dass wir auf dich nicht verzichten können, möchten es aber trotzdem zum nächsten Ersten versuchen“. Ich gehe davon aus, dass es sich um eine scherzhafte Antwort handelt, und vorsichtshalber lache ich beflissen.
Riesenaufregung: Am Ballermann wird gefeiert. Ich reibe mir die Ohren, als ich davon höre. Titelte der „Spiegel“ nicht gerade eben noch, dass Mallorca eine Geisterinsel sei? Kellergeister womöglich. Dabei lässt sich gerade Sangria infektionssicher durch einen Strohhalm aus dem Eimer saugen, der mittig in die FFP-3 Maske integriert ist. Rückflüsse evtl infektiöser Speichelschorlen könnten per Ventil unterbunden werden.
In der dritten Show des Tages sitze ich neben dem von mir hoch geschätzten Ralf Möller. Ich frage ihn, wie der Infektionsschutz im amerikanischen Fernsehen gehandhabt wird. Hinter den Kameras trage man Mundschutz und achte auf Abstand, davor eher nicht, berichtet er, und dann schwärmt er von Myokinen, hormonähnliche Botenstoffe, die bei der Kontraktion der Muskeln freigesetzt werden und das Immunsystem stärken. Durch tägliches Training sei er vor Corona somit geschützt. Ich staune, habe sogleich einen Haufen Fragen, aber dann beginnt auch schon die Aufzeichnung, in der es um völlig andere Fragen geht.
Teresa schickt mir derweil ein Foto aus einem Bus der Kölner Verkehrsbetriebe. Blickdichte Plastikfolie schirmt den Fahrer ab, und wenn dereinst nach einem petrochemischen Symbol für unsere Ära gesucht wird, dürfte Plastikfolie sich mit Plexiglas ein enges Rennen liefern. Wer hätte gedacht, dass der erfahrene Vermüller der Weltmeere auf seine alten Tage nochmal so richtig ins Rampenlicht tritt? Bis vor kurzem meinte ich, im Zeitalter der Süßkartoffel zu leben. Tempi passati.
Muss schließen; die Hantelbank wartet.
15.7.
Der Tourismus der Zukunft wird ohne viel Reiserei auskommen - das meinte ich allerdings auch schon vor Corona. Mein Sohn Cyprian hat sich in seiner Bachelorarbeit mit der Frage beschäftigt, was die Tiroler Volkswirtschaft anstellt, wenn der Schnee in den meisten Winterdestinationen ausbleibt. Mein Vorschlag schon damals: Zeitreisen. Man fährt/radelt/wandert in eine Ären-Schleuse, wird neu eingekleidet und landet im Jahr 1975 oder 1925 oder 1830 oder, oder, oder. Diese Zeitreservate lassen sich prinzipiell überall einrichten; manche werden für den Digital Native sportlich-erholsame Aufenthalte offerieren, etwa als Landarbeiter im Rokoko, andere können durchaus Abenteuercharakter haben, etwa wenn man als Küstenbewohner an der Ostsee von Wikingern angegriffen und gebrandschatzt wird. Als ich Cyprian vorschlug, eine Machbarkeitsstudie dieser Vision als Thema einzureichen, empfahl sein Professor, sich der Zeitreiserei lieber in der Masterarbeit zu widmen, wenn überhaupt. Die Lage in Ischgl dürfte auch untersucht worden sein, allerdings müsste ich nachschauen, und das Buch steht zuhause in München im Regal, während ich auf meinem Garderobensofa in Köln-Ossendorf herumlümmele, mit Blick auf die Ikea-Filiale im warmen Landregen.
Für einfachen Erholungsurlaub kann man natürlich auf raffinierte Kulissenbauten verzichten - dafür reicht eine VR-Brille und eben besagtes Sofa. Auch kann ich mir vorstellen, dass sich zünftige Corona-Partys, etwa in Ischgl oder am Ballermann, wunderbar in der Virtuellen Realität durchführen lassen. Da eine Immunisierung offenbar eh nicht lange anhält, wäre es vielleicht sinnvoller, die in die Suche nach einem Impfstoff investierten Milliarden in die Perfektionierung der VR-Geräte zu stecken, auf dass diese haptisch, visuell, olfaktorisch, akustisch ein Erlebnis bieten, das sich von dessen analoger Grundlage nicht unterscheiden lässt.
Moderne Schachcomputer gönnen dem Menschen kaum eine Chance - ein vergleichbares Niveau im Bereich digitaler Urlaub, inklusive Sonnenbrand, Sangria satt, One-Night-Stand, Kater, Urlaubsliebe, ungewollte Schwangerschaft und allem Pipapo würde der darbenden Tourismusbranche neue Möglichkeiten eröffnen. Und wer „wirklich“ weit reisen möchte, buche einfach eine Zeitreise ins Jahr 2019 (huch, jetzt habe ich mich selber dialektisch ausgetrickst). Mir persönlich reichen zum Urlauben Sauna und Fahrrad. Wo, ist völlig egal.
Kleine Aufregung am Nachmittag: Ich habe eine Kaffeetasse unters Ratepult geschmuggelt, und als ich nicht im Bild zu sehen bin und mir einen Schluck genehmige, bekleckere ich Dödel mein Hemd. Der Regisseur will abbrechen, Producer Christian findet den Fleck telegen und lässt weiterlaufen. Ich versuche anschließend, das Malör als ersten Schritt eines mutwilligen Plans zu verkaufen: Immer mehr, immer größere Flecke; Ei, Ketchup, Majo, solange, bis die Boulevardmedien fragen, wie es um meinen Gesundheitszustand bestellt ist. Garantiert würde sich dieser Plan günstig auf den Quotenerfolg auswirken, behaupte ich, und ich müsste noch nicht einmal an die technische Leistungsgrenze gehen, um ihn schauspielerisch umzusetzen.
Kleckern kann ich mit links.
16.7.
In einer der gestrigen Aufzeichnungen lerne ich, dass im Nordamerika des 19. Jahrhunderts Maiskolben als wiederverwertbarer Klopapier-Ersatz verwendet wurde.
Die Struktur eines Maiskolbens verspricht einerseits ein komfortables Putzerlebnis ohne Fissuren und Hautirritationen, zum anderen ist die Säuberungswirkung nicht zu unterschätzen - behauptet jedenfalls die Erklärung, die Kommandant Balder im Anschluss an unsere Raterei verliest.
Zu den verstörendsten Nebenwirkungen der Coronakrise gehörte bekanntlich - in Deutschland - das verbreitete Hamstern von Toilettenpapier. Mit Blick auf die mögliche zweite Welle erwäge ich, Mais als Doppelreserve zu horten: Als gesunde Kohlenhydratquelle und eben zur sanitären Anwendung.
Hella von Sinnen fällt ein, dass sie noch über Bestände verfügt, allerdings im Tiefkühlfach. Balder rät ihr, die Kolben vor Anwendung aufzutauen. Gewiss ist die Konsistenz aufgetaut haut- und putzfreundlicher. Andererseits weiß ich, dass kalte Stäbe bei Hämorrhoiden als Therapeutikum eingesetzt werden (ohne dass ich an dieser Stelle behaupten möchte, dass meine liebe Kollegin an Hämorrhoiden leide).
Man mag sich über den Aspekt der Wiederverwendbarkeit wundern. Die Auflösungserklärung verrät, dass der Kolben gedreht werden kann und so mehrere nebeneinander liegende Putzflächen offeriert. Ferner seien im alten Amerika die Kolben an Seilen befestigt gewesen, so dass sie von der Klodecke herabgebaumelt hätten.
Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, dass ich in meiner Eigenschaft als Generaldirektor des Instituts für Putzpoesie bereits eine mehrlagige Gedichtsammlung zum Thema „Sanitäre Anlagen“ verfasst habe, unter anderem eines, das den Ursprung des Stillen Örtchens behandelt. Hier ist es:
Das erste Klo
War ein Waldstück
Nicht so nah bei der Höhle
Dass man viel riechen konnt‘
Aber auch nicht so weit,
Dass man‘s nicht sicher schaffte
Im Falle eines Falles
Geputzt wurde dort nie
Man kackte wie das Vieh
Im Stehen und las Zeitung
Und nach seiner Verbreitung
Im Staate Homosapien
Erfand ein kluger Nutzer sogar
ein Namenswörtchen,
Und zwar: „das stille Örtchen“
Das Ur-Klo, tief im Urwald
war lange gut erkennbar:
Die Bäume wuchsen höher
Dann kam „Plakate Ströer“
Ein Herr von Sanifair
Und einer von der Stadt
Und schnitt die Bäume ab.
Der Wald wurde gekachelt
Ein Drehkreuz aufgestellt
Der Mensch, anders als Tiere,
Braucht heut‘
Zum Kacken
Geld
www.ifpupo.de
Live: Brandenburg/Havel, Freilichtbühne Marienberg, 29.8.
17.7.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Stürzen der Denkmäler rassistischer Persönlichkeiten und dem häufigen Händewaschen heutzutage?
Ich denke schon.
Das häufige Waschen soll uns von Krankheitserregern befreien und vor Ansteckung schützen. Infektionsketten sollen auf diese Weise unterbrochen werden, getrieben von der Sehnsucht nach einem besseren, gesünderen Leben.
Auch der Denkmalsturz soll Infektionsketten unterbrechen, unsere Mitmenschen vor Ansteckung durch rassistisches Gedankengut schützen. Auch der Aktivist, der den Rassisten vom Sockel holt, hofft auf ein besseres Leben, wenigstens auf Einzahlungen auf sein Karma-Konto.
Doch so, wie uns auch hundertmaliges Händewaschen nicht vor Siechtum und Tod schützt, so wenig läutert das Unsichtbarmachen ihrer Irrwege die Menschheit. Rassismus, so improvisiere ich jetzt mal unter dem Vorbehalt meiner begrenzten Fachkenntnis, entsteht aus dem Bedürfnis nach einer Steigerung des Selbstwertgefühls, erzielt durch das Sich-Erheben über andere. Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt deutete Xenophobie als Versuch, die Bande innerhalb einer sozialen Gruppe zu stärken, indem sie sich nach außen abgrenzt.
Irgendwo zwischen diesen Erklärungsansätzen könnte sich der Schlüssel befinden.
Die Menschheit täte sich einen großen Gefallen, wenn andere, bessere Quellen für ein sattes Selbstwertgefühl den Vorzug erhielten, etwa die Liebe.
Ein Kind, das von seinen Eltern nicht wegen irgendwelcher Errungenschaften, Schulnoten, Höchstleistungen geliebt wird, empfindet den Vergleich mit anderen als entbehrlich, und wenn wir auch untereinander nicht den Wettkampf, sondern die Liebe in den Mittelpunkt stellen würden, entfiele das Bedürfnis, über andere zu triumphieren, entfiele die Grundlage des Rassismus.
Eibl-Eibesfeldt erklärte Fremdenhass als eine Folge unseres tierischen Erbes, eine Theorie, für die er heftig kritisiert wurde: Hass als „natürliches Verhalten“ zu erklären, würde ihn rechtfertigen - ganz so, als seien wir Menschen nicht in der Lage, unser tierisches Erbe zu überwinden. Doch, wir schaffen das, glaube ich - jedenfalls theoretisch. Voraussetzung wäre allerdings, dass wir Menschen uns unserer Verhaltensmuster bewusst werden - eine Bildungsaufgabe.
Sodann stellt sich die Frage, wie man den Zusammenhalt einer Horde, eines Clans, einer Gesellschaft steigern kann, ohne sich nach außen abzugrenzen. Vielleicht, indem man das große Ganze, das Weltbürgertum betont? Wir alle leben auf dem blauen Planeten und teilen ein Interesse: dass wir gemeinsam in Frieden eine schöne Zeit auf dieser durchs All rasenden Kugel verbringen, und unsere Kinder auch.
Hm. Zu abstrakt? Ein anderer Weg dürfte das gegenseitige Kennenlernen sein. Wer freundschaftliche Beziehungen zu jenen entwickelt, die „fremd“ sind, hat weniger Lust, im Krieg aufeinander zu schießen. Truffauts „Jules und Jim“ fällt mir ein - wenn mehr Deutsche und Franzosen miteinander befreundet, einander geliebt hätten, wäre der erste Weltkrieg ausgefallen, ganz einfach. Womit wir schon wieder bei der Liebe wären. Immer wieder lande ich bei der Liebe. Komme mir schon vor wie ein ewig alle umarmender Hippie, aber glaubt mir, Love is all you need, Love is the Stoff, aus dem die Helden sind.
Die Helden auf den Denkmälern wiederum sind in diesem Zusammenhang völlig egal. Die sind Teil unserer Geschichte, aus der wir lernen dürfen. Und wo keine Geschichte, keine Denkmäler sind, gibt es nichts zu lernen. Also wascht Euch die Hände, wegen mir zwölfmal am Tag eine Stunde lang, aber stellt Euch für den Rest des Tages vor die Denkmäler, fragt, warum die Dargestellten Rassisten werden konnten und wie man dies in Zukunft verhindert.
Und dann schaut Euch tief in die Augen und küsst Euch - notfalls mit Mundschutz.
18.7.
Am Vormittag stürmt eine Frau in unser Stammcafé, schreit „Scheissmaskenträger!“ und rennt wieder raus. Tourette? Nervenschwäche? Agitprop? Man weiß es nicht.
Ich packe anschließend meinen Rucksack und tretrollere zum Studio, um die letzten beiden Shows aufzuzeichnen, mit Steven Gätjen und Eckart von Hirschhausen. Ein weiteres Mal vergesse ich, mein Mikrofon eigenhändig anzulegen (früher, vor Corona, war dieser Akt dem Fachpersonal vorbehalten), ein letztes Mal passiere ich die „Nur eine Person pro Maske“-Schilder im Maskenraum - wobei mit „Maske“ in diesem Fall „Schminkplatz“ gemeint ist und nicht Mund-Nasen-Schutz. Erst heute fiel diesbezüglich der Groschen; ich hatte gemeint, mehrere Mitarbeiter hätten sich unhygienischerweise ein Stück Stoff geteilt.
Für die regulären „Genial Daneben“ - Sendungen im September planen wir mit 150 Zuschauern, unmaskiert. Ich bin verhalten skeptisch, dass sich dieses Ziel schon so bald verwirklichen lässt, würde mich aber natürlich freuen.
Auf dem Weg zum Bahnhof lasse ich mich von Eckart für dessen Podcast interviewen. Im gemieteten Kleinbus sitzen wir durch robuste Folie voneinander getrennt, es riecht kräftig nach sehr jungem Polyethylen. An drei Seiten schließen Spalte an, durch die Aerosole diffundieren können. Und das soll vor Ansteckung schützen, zumal auf langen Strecken? Kann ich mir nicht vorstellen.
Im Interview geht es u.a. um die Klimakatastrophe. Ob ich noch Hoffnung habe? Eher nein. Allerdings, so füge ich hinzu, blättere ich ab und zu in „Global 2000“, dem Weltuntergangsszenario, das der Club of Rome Ende der 70er für das Millenium entwarf, und tatsächlich konnte der saure Regen rechtzeitig mit technischen Mitteln (Katalysator, Kraftwerksfilter) wirksam bekämpft werden. Heißt: Manchmal kommt es doch besser, als man denkt. Wer weiß; vielleicht gelingt irgendeinem Wissenschaftler ja doch noch der ganz große Wurf? Den nötigen Willen der Politik könne ich jedoch nicht erkennen. Hirschhausen zitiert Jane Goodall: „Wenn der Mensch wirklich so intelligent ist, warum zerstört er dann sein Zuhause?“ Ich doziere breitbeinig, dass dies an der Kombination aus verhaltensphysiologischen Atavismen (das Thema von gestern) und seiner Hybris liegen könne. Kleinhirn trifft Größenwahn - ungünstige Kombi. Der Mensch hält sich für dem lieben Gott nicht nur ebenbürtig, er hält sich sogar für überlegen. Wenn der liebe Gott so’n toller Hecht ist: Was sollen dann all die doofen Krankheiten? Nein, er, der Mensch, glaubt, dass wenn nicht Gott, sondern er die Zügel in der Hand halten würde, die Erde ganz anders aussähe. Nicht so mimosenhaft empfindlich, sondern robust wie ein Porsche Cayenne. Ich rede mich in Rage und glaube mir am Ende selbst - ein Phänomen, das ich schon häufiger am Ende ausgedehnter Genial-Daneben-Staffeln an mir habe entdecken können.
Als Zuglektüre greife ich auf Daniel Defoes „Pest in London“ zurück, das ich immer noch nicht ganz durchgelesen habe. Viele furchtbare Geschichten: Todgeweihte, die sich zu den Massengräbern schleppen, um sich höchstselbst hineinzustürzen, oder eine Mutter, die an ihrer Tochter Pestbeulen entdeckt und daraufhin zu schreien beginnt - und weiter schreit, bis zu ihrem letzten Atemzug. Bei Dafoe stürmt wiederum niemand ins Café und krakeelt„Scheissmaskenträger“, dafür werden Ordnungskräfte, die unter Quarantäne stehende Wohnhäuser bewachen sollen, von den Bewohnern mit Sprengbomben beworfen und getötet, um fliehen zu können. Pest 1605 - das war dann doch ein ganz anderes Kaliber als Corona 2020.
19.7.
An der Donnersberger Brücke gibt’s in der Nacht ein Fensterkonzert für Fortgeschrittene. In drei Fenstern unterschiedlicher Geschosse eines Altbaus frönen Gitarristen den Freuden des Punkrocks, und eine vieldutzendköpfige Menge steht auf dem Gehsteig und an der vorgelagerten Tramhaltestelle und stößt mit Bierflaschen an. Ich passiere die Party in gebührendem Abstand und freue mich, dass es Orte gibt, an denen die Musik spielt, denn: Eine Gesellschaft ohne Konzerte hat verloren. Echtes Aufatmen durchfährt mich, und ich gehe zufrieden, voller Hoffnung ins Bett.
Mittags kommt Olli Dittrich nebst Familie zu Besuch; wir singen den Kindern den „Großen-Onkel-Quetschungs-Blues“ vor, essen Mango-Eis mit Mango und lassen die junge „Neue Normalität“ Revue passieren.
Kaffeetscherl im Hirschgarten. Am Eingang des Biergartens erhalten die Kinder vom Sicherheitspersonal mit grüner Tinte einen Corona-Virus auf den Handrücken gestempelt. Zunächst sind wir skeptisch, ob alle Eltern damit einverstanden sind, dass ihre Kinder grafisch coronifiziert werden, dann jedoch ergreift uns Begeisterung, und beim Weggang bitten auch Teresa und ich um Stempelung. Todschick sieht das aus! Bald, so prognostizieren wir, werden viele Leute so durch die Gegend laufen, mit Corona abgestempelt, gerne auch auf der Stirn, und es ist leicht vorstellbar, dass dem schmucken Erreger auch eine Karriere als Tattoo-Motiv gelingt. Besser als ein Arsch-Geweih ist ein Kopf-Corona allemal. Oder wäre der Hals sinniger? Jedenfalls kann es nicht mehr lange dauern, bis eine Gegenbewegung einsetzt und die ersten Profi-Provokateure behaupten, dass Corona genau ihr Ding sei. Wenn Death-Metal Mainstream ist, dann wird es den Fans seiner Vorstufe erst recht gelingen, die Massen zu mobilisieren.
Wie wird Corona-Rock klingen? Etwas schief intoniert, formal ausgefranst, ein bisschen wie „Agharta“ von Miles Davis. Die Sänger tragen dazu merkwürdige Lockdown-Haarschnitte, etwa Richtung Klaus Nomi.
Und so wie der FC St. Pauli den Totenkopf zum Symbol erkoren hat, so werden Fußballvereine auf der Suche nach einem markigen Image auch das Virus entdecken. Wer weiß? Vielleicht benennt sich der VfL Wolfsburg eines Tages in FC Corona um - schon, um nicht in erster Linie an Dieselskandal & Co zu erinnern.
Abends in der Sauna lese ich über Bronislaw Malinowski, den polnischen Sozialanthropologen, dessen Bericht „Argonauten des westlichen Pazifik - über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea“ (1922) die ethnologische Feldforschung revolutionierte, weil er mit und unter den Inselbewohnern lebte, eine Methode, die spätere Wissenschaftler als „teilnehmende Beobachtung“ bezeichneten. Und sogleich stelle ich mir vor, Malinowski zu sein, zu Gast auf dem Virus-Archipel, das von einem Volk mit geheimnisvoll fremdartiger Kultur besiedelt ist: Alle Erwachsenen tragen Masken aus Vlies oder Stoff, manche bedecken nur den Mund, manche tragen Kinnschützer aus gleichem Material. Auf den Bahnhöfen des Archipels darf man sich ohne Maske nicht blicken lassen - außer man raucht, in den dafür gekennzeichneten Bereichen. Fürwahr mysteriös. Da gibt es noch viel zu erforschen.