Mittwoch, 7. Oktober 2020

The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befassen wird, watt willste machen. Was in der Zwischenzeit passiert ist: Donald Trump hat sich infiziert (was ich natürlich lustig fand: Kaum steige ich bei Facebook aus, holt sich der Trotzkopf im weißen Haus einen blauen Schein). Ich erwartete den „grösste Arztroman aller Zeiten“ mit Irrungen, Wirrungen, hatte erwartet, dass Trump die Haare ausfallen, er ein Techtelmechtel mit der Oberschwester beginnt, dass Melania ihren Gatten per Handauflegen heilt und/oder eine Körpertemperatur von 45 Grad twittert, aber es kam anders. Schon gestern meldete er sich zurück zum Dienst, ließ sich zuvor eine Runde Spazierenfahren und präsentierte sich als Schnellgesunder. Beim ihm verabreichten Medikamentencocktail wahrscheinlich zwangsläufig, sofern die Nebenwirkungen nicht zum sofortigen Multi-Organ-Versagen führen. 

Damit reiht Trump sich (vorerst) in die Reihe der Survival-Helden des rechten Lagers ein, neben Bolsonaro, Berlusconi und Borisjohnson (sind Machtmenschen, deren Namen mit B beginnen, anfälliger für schwere Covid-19-Verläufe als Neandertaler?). 

Vor einiger Zeit las ich ein spannendes Buch, „Der schwimmende Souverän“, das sich mit Staatsmännern beschäftigte, die gerne öffentlich schwimmen gehen/gingen, etwa Mao Tse-Tung oder Beppe Grillo. Eine These des Autors: Alle eifern sie Karl dem Großen nach, der seine Pfalz hauptsächlich deswegen nach Aachen verlegte, weil es dort ganzjährig warmes Quellwasser gab, mit dem er monumentale Schwimmbecken füllte. Täglich hielt er schwimmend Hof, immer begleitet von schwimmenden Rittern (knapp 100, meine ich mich zu erinnern). 

Der schwimmende wird in diesen Tagen vom hustenden Souverän abgelöst. Wer auf sich hält, bellt. Nur die harten kommen in den Garten, während die Vertreter des modrig-morschen liberalen Pluralismus (Merkel, Von der Leyen) symptomfrei in Quarantäne müssen dürfen. Derlei Sperenzchen hat ein Trump nicht nötig. Die Haxen noch nass vom Wadenwickel, hustet, äh, winkt er seinen Fans zu, die das Aerosol ihres Helden inbrünstig zur Brust nehmen würden, wenn da nicht die geschlossene Wagenscheibe wäre. 

Innerdeutsche Reisebeschränkungen werden neu diskutiert, nachdem Berlin-Mitte in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein nicht mehr willkommen ist. Der Trend zum Klein-Klein (alles mit Bindestrich) setzt sich fort. Vom Kreis über den Stadtbezirk zum Straßenzug. Weiter zur Straßenseite, zum Einzelhaus, zur Etage. Schlagbäume im Treppenhaus, der Dachboden ist Risikogebiet, die Bettstatt links der Besucherritze (hinter Plexiglas). 

Russia Today behauptet bei Instagram, Tommy Krappweis‘ Twitch-Kanal werde von Merkel bezahlt, und die Beteiligten träfen sich zum Livestream, weil es „verschiedene Auffassungen über Körperhygiene“ gebe. Eine schöne Ehrung. 

Abends ungläubig den Film bestaunt, mit dem Trump seine Rückkehr ins weiße Haus illustrierte. Speziell die unterlegte Musik ist gar zu süffig, man wähnt sich in einer platten Satire. Natürlich gibt es viele, die sich ärgern, dass Trump offenbar mit hellblauem Auge davonkommt. Aber, merke: Das Virus straft niemanden; unsere Händel, unsere Antipathien sind ihm völlig egal. 

Kenzo Takada stirbt, Trump nicht - bei diesen Aufrechnungen gilt es zu berücksichtigen, wie unerheblich in Wirklichkeit ein paar Wimpernschläge mehr oder weniger sind, jedenfalls im größeren Zusammenhang. Höchstens zählt, dass man überhaupt mal husten, hadern, sterben durfte - damit zählt man zur Elite jener Molekularstrukturen, die man gemeinhin mit Leben in Verbindung bringt. Ein Privileg! Zum Vergleich: Steine sterben nicht, sie erodieren bzw werden zu Gehwegen oder Colliers verarbeitet. Ist das besser? 


Gekündigt

14.9.
Wieder habe ich eine sehr brauchbare, schöne Stoffmaske gefunden („Alltagsmaske“), auf der Straße, offenbar verloren oder aus Verzweiflung entsorgt. 
Mittlerweile packe ich solche Schätze kaltblütig ein, waschen sie lauwarm bis heiß durch und tragen sie auf. 
Wobei ich mich immer häufiger frage, welcher Anfänger sich den Begriff „Alltagsmaske“ ausgedacht hat, wenn es doch offenbar gar keine Festtagsmasken gibt. Aber vielleicht ändert sich dies mit der kalten Jahreszeit: Erstens entfalten schwere, opulente Brokatstoffe erst bei Frost gediegenen Tragekomfort, und zweitens könnte der Dezember völlig neue Maskentypen populär werden lassen: Mit Rentieren, Tannennadeln, mit halben Christbaumkugeln und aus China-Matten, per Lang-Lunte an den Ohren befestigt. Bin ja eh der Meinung, dass man von Anfang an mit der Sexyness von Masken hätte arbeiten müssen. Und warum gibt’s eigentlich immer noch keine coolen Designpreise für Rachenklappen? Fendi-Award. Goldener Zorro. Arteri e Vene Ziano. Positives Feedback jenseits von Solidarität (zieht nicht bei jedem). 
Apropos Holiday Season. Beim Frühschoppen im Palmenhaus wird am Nebentisch das Geschlecht eines noch ungeborenen Babys bekanntgegeben, eine Festivität amerikanischen Ursprungs, die laut meiner Frau „Baby Shower“ heißt (oder so ähnlich). Ich wende zwar ein, dass „Shower“ eine Dusche ist und nach der Geburt unproblematischer durchgeführt werden kann, aber egal. Meine Eltern wiederum fühlen sich sogleich an die „Puppvisite“ in Ostfriesland erinnert. Watt is datt denn? Nach positivem Schwangerschaftstest wird ein großer Topf Ostfriesische Bohnensopp aufgesetzt, also Rosinen in Branntwein, und sobald das Baby geboren ist, kommen Familie, Freunde, Nachbarn, verzehren die Bohnensuppe (außer die stillende Mama und ihre „Puppe“). 
Anders positiv sind die 10.000 Neuinfizierten in Frankreich - von dieser runden Summe erfahre ich kurz, nachdem meine neue Fitnessuhr mir erstmals 10.000 absolvierte Schritte anzeigt. Ich überlege, ob diese Koinzidenz irgendetwas zu bedeuten hat, komme aber schnell auf die Antwort: Nein - ich bin ja kein Franzose. 
Aber Münchner. Hier liegt der Wert weiterhin unter der Fünfziger-Marke, ab der Teile des öffentlichen Lebens gedrosselt werden. Gestern schon las ich in einem Aushang an einer Kita, dass nach den Bestimmungen des städtischen „3-Stufenplans“ derzeit Vorwarnstufe herrsche; womöglich werden in Bälde alle Kinder erneut daheim bleiben müssen, außer man hat systemrelevante Eltern oder ist alleinerziehend. Ich überlege, ob letzteres für manch überlastetes Elternpaar eventuell ein Trennungsgrund sein könnte, verbiete mir die Überlegung jedoch proaktiv, da sie mir unangenehm zynisch vorkommt. 
Was noch? „Corona Fehlalarm“ schafft es bisher nicht, dass ich mich festlese; alles, was drinsteht, weiß ich bereits aus tausenden Medienberichten. Oder waren es Facebook-Einträge? Heutzutage kann man sich ja nur im Spezialfall daran erinnern, wo man was aufgeschnappt hat; alle Schnipsel, Tweets, Kommentare wandern im Laufe des Tages in einen neuronalen Topf und werden dort zu einem zähen Mus eingekocht. 
Nein, vergesst „Corona Fehlalarm“; die beste Lektüre über unsere Ära ist weiterhin „Die Pest in London“ von Daniel Defoe. Auf dem Höhepunkt der Epidemie 1665/66 starben über 1000 Londoner täglich, und immer mehr Häuser standen leer. Die Nachfrage nach Neubauten brach ein, und vom Baugewerbe hingen abertausende Handwerker ab, die pleite gingen - was damals bedeutete, dass es nichts mehr zu essen gab, nicht einmal zähes Mus. Im September 1666 schloss sich an die Epidemie der „große Brand“ an, dem nicht nur viele der wenigen Rest-Bewohner erlagen, sondern auch praktisch alle Pesterreger tragenden Flöhe und Ratten. 
Mit diesem fortissimo-Schlussakkord in Moll endete „The great Plague“, und für das Handwerk ging es wieder aufwärts. 
Keine Ahnung, was wir heutigen Coronesen aus dieser Geschichte lernen können.

15.9.
Ein gutes Beispiel für das, was die Skeptiker skeptisch werden lässt und den weit verbreiteten Hang zur Verschwörungstheorie erklärbar macht: 
Am Sonntag wurde Hendrik Streeck ganzseitig von der „Welt am Sonntag“ interviewt. 
U.a. ging es um die Infektionssterblichkeitsrate (IFR) von Covid-19. In der Heinsbergstudie wurde diese mit 0,4 % angegeben, also viermal höher als bei der Influenza. 
Streeck wurde vorgeworfen, dass die Zahl deutlich zu niedrig angesetzt sei, und er verteidigte sich mit dem Verweis auf Studien aus Island und den USA, die zu einem ähnlichen Ergebnis kamen. „Aber es gibt auch Studien“, so Streeck weiter, „die eine höhere IFR annehmen.“ 
Soweit, so gut.
Heute nun erscheint in der Süddeutschen Zeitung ein „Faktencheck“, der das Buch „Corona Fehlalarm“ von Sucharit Bhakdi unter die Lupe nimmt. 
Bhakdi behauptet, die IFR unterscheide sich nicht wesentlich von der Grippe, und die Süddeutsche Zeitung hält dem entgegen, dass die meisten Wissenschaftler von einer IFR von 0,5-1% ausgehen. 
Es ist - zumal für einen Laien - witzlos, darüber zu diskutieren, wer Recht hat und welche Zahl die Realität am präzisesten abbildet. 
Es fällt allerdings auf, dass die Süddeutsche Zeitung von höheren Zahlen ausgeht als Streeck. Nimmt Streeck im internationalen Forscherfeld eine Außenseiterposition ein? 
Sogleich vermute ich, dass die beiden Autoren des „Faktenchecks“ die Heinsbergstudie für unseriös halten. Sind ihnen die isländische und die US-Studie unbekannt, auf die Streeck sich bezieht? Wer sind die erwähnten „meisten“ Wissenschaftler? Hat die Zeitung abstimmen lassen? Oder spricht gegen die Heinsbergstudie, dass diese von Bhakdi in seinem Buch als die einzige in Deutschland durchgeführte Studie erwähnt wird, aus der sich Rückschlüsse, etwa auf die IFR, ziehen lassen? 
Ich bin weder ein „Streeck-Ultra“, noch möchte ich Bhakti verteidigen, i wo, aber die Autoren des „Faktenchecks“ bringen mich, den lakonischen Verteidiger aller demokratisch beschlossenen Anti-Corona-Maßnahmen, ins Grübeln. Wähnen sie sich - womöglich, ohne sich dessen bewusst zu sein - in einem ideologischen Kampf „Disziplin vs. Risiko“, also „Vernunft gegen Covidioten“? Gehört Streeck in den Augen der Süddeutschen Zeitung gar ebenfalls zu den „Leugnern“, den „Verharmlosern“? Oder höre ich die Fruchtfliegen husten bzw habe irgendein Detail falsch verstanden? Man hätte Streeck wenigstens erwähnen müssen, um Fragen wie die meinigen erst gar nicht aufkommen zu lassen.
Im Laufe des Tages gerate ich zunehmend in Unruhe: Mache ich etwa eine Fruchtfliege zum Rhinozeros? 
Langsam habe ich Sorge, dass die Pandemie mich zum Paranoiker macht, Popp-Popp-Stolizei, dass ich in jedes „Geht‘s gut?“ einen Verweis auf den Microsoft-Gründer hineininterpretiere, dass ich Abos kündige, auf Russen-WhatsApp umsteige, dass ich mit Taschenlampe vorm Spiegel stehe und nach dem Chip suche, der mir per Wattestäbchen durch die Nase ins Hirn getackert wurde. 
Uff. Wie sang Hildegard Knef? „Ich brauch‘ Tapetenwechsel, sprach die Birke, und machte sich in der Dämmerung auf den Weg...“

16.9.
„Äh...Du hast was gemacht?“ Mir fällt fast die Kaffeetasse aus der Hand.
„Ich habe unsere Wohnung gekündigt. Zum 1.1.21. Ich mag keinen Streit mit den Nachbarn, und sie war eh recht teuer für uns Corona-Künstler“ - „Stimmt. Aber wo sollen wir dann hin?“ -  „Das besprechen wir jetzt“.
Ich hole Papier und Bleistift zum Esstisch, und abwechselnd schlagen wir uns Wohnideen vor. 
„Wir könnten mit einem Caravan quer durch Europa fahren“. - „Brumm-brumm. Ich bin nicht sonderlich Auto-affin, außerdem ist dann Winter, und Thomas D. & Jenny Elvers haben das auch schon mal gemacht, Ende der 90er. Ansonsten gut.“
„Wie wär’s mit Dangast am Jadebusen, meinem Lieblingsort?“ Meine Frau tut so, als würden ihr kalte Schauer über den Rücken laufen. 
„Erstmal ein paar Wochen Indoor-Zelt? Im Tropical Island?“ Wir schütteln beide mit dem Kopf und lachen. Sicher langfristig nicht gesund, die chlorhaltige Luft. 
„Afrika? Dakar? Da wollte ich immer schon mal hin!“ - „Ja, engere Wahl“, sagt meine Frau. „Kinderarztbesuche laufen dort aber anders ab als hier“,  schränke ich ein. 
„Mit Tandem und Kinderanhänger über die Route 66?“ - „Zuviel Schnee und vielleicht zu wenige Spielplätze am Wegesrand“. 
„Wo bleiben eigentlich unsere Möbel?“ - „Wird alles verkauft“, bestimmt meine Frau. 
„Du hattest doch neulich ein Angebot für eine Gesangsprofessur in China? Wie hieß das Kaff?“ - „Kaff ist gut, Guangzhou ist eine Millionenstadt. Die warben mit ihrer sauberen Luft, tsts“. 
„Sizilien fände ich auch gut, Bornholm oder Malle“. - „Ist da nicht Corona?“ - „Doch, leider. In Deutschland würde mich Hildesheim reizen. Löbau. Oder Hamburg-Wilhelmsburg, da habe ich mir doch neulich sogar mal eine Wohnung angeschaut. Oder Finkenwerder; von dort könnte man immer mit der Hafenfähre in die Stadt fahren!“
„Oder wir suchen deutschlandweit das billigste Haus ever. Ich sach mal: Kurz vor Stettin könnte man fündig werden. Möglicherweise auch im Pfälzer Wald, oder hinter Deggendorf“. 
„Heureka; Hausboot! Da gab‘s doch mal die „Havel Lady“ bei ebay; soll ich nachschauen, ob das Schiff noch da ist?“ - „Vergiss nicht, unsere Kinder können noch nicht schwimmen“.
Was ist eigentlich mit unserer Hütte? Da können wir doch auch hin.“ - „Bei zwei Meter Schnee und minus zwanzig Grad? Ein paar Tage gerne, aber für länger? Pardon, das pack‘ ich nicht“. 
„Venedig, das wäre was!“ - „Sind die Mieten dort hoch?“ - „Keine Ahnung. Die Kaufpreise können nicht so gewaltig sein, geht ja sowieso alles in ein paar Jahren koppheister“ - „Wer spricht von kaufen? Natürlich nur mieten. Man muss ja erstmal checken, ob die Gegend uns behagt“. 
„Wie sieht’s eigentlich mit Arbeit aus, kommt da noch was? Für uns?“ - „Schwer zu sagen. Brauchbare Verkehrsanbindung könnte günstig sein, aber vielleicht müssen wir sowieso umschulen, und dann machen wir, was vor Ort möglich ist“. 
„Wilhelmshaven soll bei Künstlernaturen besonders beliebt sein, wegen der niedrigen Lebenshaltungskosten - hat mir mal jemand von der dortigen Stadtverwaltung erzählt“ - „Naja; dann allerdings können wir auch gleich zu meinen Eltern nach Oldenburg ziehen - das Haus nebenan steht leer. 
Und so vergehen die Stunden, und das Blatt Papier füllt sich. 
Bin gespannt, wo es uns am Ende unserer Wohnsitzsuche hintreibt...
Zum 1.1. sind wir auf jeden Fall weg.

17.9.
Gestatten, Schweinepest. Afrikanische Schweinepest. Das neue Corona, wenigstens in den Nachrichten. Und die Folgen nicht nur für die Neuinfizierten sind dramatisch: Fast immer verläuft diese Krankheit tödlich - jedenfalls wenn man ein Schwein ist in dieser Welt.
Die Allesfresser mit der Steckdosennase haben soeben ihr eigenes Nine-eleven erlebt: Die EU hat an diesem Tag drei Landkreise an der Spree zum Seuchengebiet erklärt. Betroffene Zonen werden mit Elektrozaun umgeben. Betreten verboten, außer von Jägern, die jedes Wildschwein in dieser Kernzone töten MÜSSEN. 
Fälle in Schweinemastbetrieben haben zur Folge, dass sämtliche Tiere ebenfalls sofort liquidiert und auf sichere Weise beseitigt werden müssen. 
Kurz male ich mir aus, was es für unsere Gesellschaft bedeuten würde, wenn man gegen Covid-19 mit vergleichbaren Mitteln vorgegangen wäre. Was ist die menschliche Entsprechung für einen Schweinemastbetrieb? Ein Schnellrestaurant? Kantine? 
Alle notschlachten, und dann kommt der Nettoyeur, wie er bei Luc Besson heisst. 
Ja, kranken Artgenossen gewähren wir Menschen schonendere Therapien. 
Schön ist es, auf der Welt zu sein - wohlgemerkt als Mensch! Nur im Einzelfall stört das homo-sapiensche - zB, wenn’s um Fehlfunktionen der Verdauung geht. Da werden wir rot und sprechen vom „Allzumenschlichen“.
Eine alte Frau wurde nachmittags am Romanplatz von Durchfall ereilt. Die verzweifelte und verwirrte Dame sitzt auf dem Gehweg und hat ihre weißen, nunmehr gebräunten Hosen bereits ausgezogen. Meine Gattin kommt mit den Kindern vorbei, hilft ihr auf und begleitet die konsternierte Halbnackte durch den Spätsommertag zu ihrer Wohnung. Bald stoße auch ich hinzu, reiche Feuchttücher und eskortiere. Den Tränen nah stammelt die Dame immer wieder, dass ihr so etwas noch nie passiert sei. Ich erzähle ihr daraufhin (wahrheitsgemäß), dass mir ähnliches Ungemach in den letzten zwanzig Jahren mindestens dreimal widerfahren ist, einmal in Potsdam, früh morgens, direkt vorm Schloss Sanssouci, was ich grimmig grinsend mit dem Slogan „Ich scheiss auf Preußen“ kommentierte. 
Nach fünfhundert mühsamen Metern am Schiebegriff unseres Kinderwagens (einem Rollator ebenbürtig) erreichen wir die Wohnung der Verdurchfallten, und Teresa hilft ihr noch in die Badewanne. 
Ich bin sehr stolz: Erstens auf meine wunderbare Frau, aber auch auf die wackere Nachbarin, die heute ihre Premiere im Jenseits-der-Kindheit-in-die-Hose-kacken feierte, mit 84 recht spät, wie ich finde. Und da ich glaube, dass dieses Schicksal nicht nur uns alle eines Tages ereilt, sondern sogar unerlässlicher Teil einer kompletten Erfahrung dieses Dingsbums ist, das wir „Leben“ nennen, hat sie heute subjektiv gewiss eine Peinlichkeit erlebt, objektiv jedoch ihrem Dasein einen weiteren interessanten Mosaikstein hinzugefügt. Ja, von mir aus einen braunen. 
Und nun ein besonders herzlicher Dank an all die Leser, die uns mit Tipps, Wohnungsangeboten und guten Ratschlägen beglückt haben! Nirgends auf dem facebook-Kontinent begegnet man so netten Leuten wie hier, in den Kommentaren unter meiner Coronik. Warum dies so ist, weiß ich nicht. Womöglich schreckt die Bildlosigkeit in Kombination mit länglichem Text Raudies und Einfaltspinsel ab, schrieb mir unlängst eine Leserin. 
Wie auch immer: Heißen Dank Euch allen!

18.9.
Raus aus der Stadt, rauf auf die Berge, zur fröhlichen Pilzsuche. Zunächst stellen wir von der Hütte aus auf mittlerer Höhe Steinpilzen nach, finden jedoch nichts. Wohl zu spät dran. Dann schnalle ich mir Theo nochmals auf den Rücken und gehe auf Franz’ alter Skitourenroute durch den Wald. Und siehe da: Ein paar große, dotterfarbene Pfifferlinge - damit kann man in der frühherbstlichen Hüttenküche einiges anstellen. 
Natürlich denke ich sofort an Löbau vor einem Jahr. Damals nämlich drehten wir im Haus Schminke „Privatkonzert“ für DW und MDR, und in den Pausen gingen Managerin Steffi und ich im Garten auf Pilzsuche. Ich hatte, angeregt von meinem Schwiegervater, soeben die Welt der Pilze für mich entdeckt, eine Lern-App heruntergeladen und versuchte, alles zu bestimmen, was nicht niet- und nagelfest war. Im Garten entdeckten wir unter anderem Rickens Riesenschirmling und einen Pfifferling. Dachten wir. Jedenfalls spielten wir mit der Idee, den „Pfifferling“ beim Catering abzugeben und braten zu lassen, und wir hätten die Idee auch gewiss realisiert, wenn ich nicht verfrüht zu einer Probe gebeten worden wäre. Später lud ich ein Bild meines „Pfifferlings“ auf meiner App hoch und wurde darauf hingewiesen, dass mein „Pfifferling“ in Wirklichkeit ein Kahler Krempling sei, ein Blätterpilz, der das sogenannte Paxillus-Syndrom auslösen kann, eine Pilzvergiftung, die mit etwas Pech geradewegs unter den Sargdeckel führt.
Anschließend beömmelten sich Steffi und ich in den Drehpausen über die hübsche Fernsehidee, zwei Prominente Pilze sammeln zu lassen, die anschließend von ihnen zubereitet und verzehrt werden. Stimmungsvolle Waldbilder, urige Hütte, und zum Abspann hört man Dialogfetzen à la „Mir ist ein bisschen flau im Magen“, „wo bitte gehts zum 00?“ oder „Was macht eigentlich der feuerspeiende Jumbo Jet hier im Hallenbad - und warum schlägt er mit den Flügeln?“
Jetzt also zweiter Versuch. Vorsichtshalber lassen wir die Fundstücke per WhatsApp von einer Pilzfachfrau aus dem Freundeskreis für unbedenklich erklären (gibt einem auf den letzten Metern ein gutes Gefühl). Dann rein in die Pfanne mit den Cantharellaceae, salzen, Petersilie dazu, fertig. Wir garen extra lange (als wenn uns das bei einer Verwechslung retten könnte), und vorsichtshalber kriegen die Kinder nichts - wobei uns, als die Pfanne schon halb leer ist, der Gedanke kommt, dass es für die Kleinen sicher auch nicht optimal ist, wenn beide Eltern wimmernd ausfallen und sie auf sich alleine gestellt sind. 
20:49 Uhr. Ich schreibe vorsichtshalber schonmal diesen Tagebucheintrag, für den Fall, dass die Nacht spannender verläuft als erhofft. Tja. Vielleicht sollte ich mich gar nicht so sehr auf mein intestinales Geschehen konzentrieren, auch nicht im Tagebuch - wobei Diary und Diarrhea wenigstens im Englischen miteinander verschwistert erscheinen. 
Was gibt’s also sonst noch mitzuteilen? Im Supermarkt unten im Zillertal herrscht wieder Maskenpflicht, und „Die Presse“ titelt: „Berlin warnt vor Wien“. Jetzt geht das wieder los. Noch ein paar Zischlaute, Watschn, Leberhaken, dann sind die Grenzen wieder zu - und wir sitzen in der Hütte und warten auf den ersten Schnee.
22:00 Uhr. Wenn die Pfifferlinge in Wirklichkeit verkleidete Fliegenpilze waren, müsste man doch so langsam irgendwas merken, oder? Ich lege mich jetzt ins Bett und terminiere diesen Beitrag vorsichtshalber auf sechs Uhr morgen früh. Sollte ich die Nacht nicht überleben, kann mein Tagebuch nichtsdestotrotz von den letzten Stunden künden. We did it. Geschmeckt hat’s prima.

P.S.: 6:03 Uhr. Entwarnung; alle wohlauf. Premiere erfolgreich. Guten Morgen allerseits.

19.9.
Moria. Es gibt geografische Bezeichnungen, die Karriere gemacht haben: Ramstein, Eschede, Harrisburg, Waterloo - Moria könnte durchaus einen Platz in diesem Städtebund des Schreckens beanspruchen. Und so wie man bei Eschede sogleich an ICE denkt und bei Harrisburg an AKW, so verbinde ich Moria spontan mit gleich zwei Kürzeln: EU und k.o. Die Geschichte des Lagers, aus der Not geboren, im Feuer bestattet, symbolisiert die dramatischste Schwäche der EU. Wir (und damit meine ich: wir Europäer) sind offenbar nicht nur unfähig, uns auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zu verständigen, wir schaffen es noch nicht einmal, uns auf ein kleines 1 x 1 des zwischenmenschlichen Umgangs zu einigen. Ich konstatiere maximal nüchtern: Die einen finden es vertretbar, Tränengas auf Kinder zu schießen, die anderen eher nicht. 
Der Weg von Moria zu Corona ist nicht weit; auch bei der Seuchenbekämpfung ergab man sich der Schlagbaumeritis: Schotten dicht und fertig; medizinische Exportgüter wurden an der Grenze für den Eigenbedarf einkassiert, auch wenn der Besteller die Container bereits bezahlt hatte. Rücksichtslosigkeit statt Kooperation. 
Nun ist es nicht so, dass es nationale Egoisten nur in Ungarn und umzu gibt, auch bei uns denkt manch Politiker nur von Veitshöchheim bis Berchtesgaden, und auch bei uns scharen genau diese Dünnbrett-Volkstribune Mehrheiten hinter sich. 
Wie umgehen mit diesem doppelten Kentern der EU? Für Deutschland ist die EU eine tolle Sache, aber nur die Eintracht mit Frankreich ist im engeren Sinne lebenswichtig. Wenn also die EU ansonsten aus destruktiven Eigenbrötlern besteht, so lasst uns einstweilen geduldig sein, aber dafür das Verhältnis zu Frankreich renovieren und vertiefen. Eintracht ist gefragt, und die gibt es nur, wenn Deutschland auf Alleingänge nach Art Schröderscher Gaspipelines verzichtet (Ob ich nicht doch bei „Volt“ mitmachen sollte?)
Hilfe, jetzt politisiere ich schon wieder. Das ist bei mir abends häufig der Fall, wenn ich große Teile des Tages mit meiner Familie auf einer Picknickdecke verbracht habe und Bauklötze auf der Basis von Brennholz mithilfe dreier Matchbox-Baufahrzeuge zu rustikal anmutenden Wohngebäuden aufgetürmt habe, in denen zwei preiswerte Playmobil-Plagiate hausen. 
Und wenn ich nicht gerade politisiere, Baustelle spiele, Windeln wechsle oder verzweifelte Freunde aus meiner Branche am Telefon tröste, träume ich mich mit Teresa an die unterschiedlichsten Orte, um deren Tauglichkeit als unseren neuen Lebensmittelpunkt zu antizipieren. Heute klar vorn: Venedig. Ich sehe mich in schwarzem Kleppermantel mit Vatermörder und Kreissäge durch die Winternebel spazieren, dann paddle ich in einer futuristisch bemalten Colani-Pirogge durch die Grachten, oder wie das dort heißt, als fleischgewordener Mix aus Birgit Fischer und Lorenzo da Ponte. 
In diesem Tagtraum werden wir waschechte Venezianer, und zwar aus reinem Spaß an den Freuden der temporären Assimilation (bei einem harten Lockdown ist Venedig aber auch nicht viel besser als Hürth-Kalscheuren).

20.9.
Muh! An manchen jener Tage, die ich in dieser Coronik aufbereite, komme ich mir vor wie ein Wiederkäuer. Steigende Zahlen, fallende Zahlen - das erinnert nicht nur sprachlich an „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, es ist eine Daily Soap mit hunderten Folgen, in der wir mitspielen, die Plots wiederholen sich, vielleicht auch, weil der Autor im fensterlosen Verschlag ganz alleine schreibt, alleine schon aus Kostengründen, und wir, die Darsteller und Komparsen, gähnen verstohlen, wenn zB, so wie heute in München, mal wieder über mathematische Modelle gestritten wird. 
Oberbürgermeister Dieter Reiter kritisiert das RKI, weil es für die Berechnung der Neuinfizierten veraltete Einwohnerzahlen verwendet, nämlich jene vom 31.12.2018. Damals zählte München 1,47 Millionen Einwohner, heute jedoch sind es 1,56 - fast 100.000 mehr. Mit den aktuellen Zahlen würde München unter der kritischen Marke von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohnern bleiben (nämlich bei 47,6). 
Die Hauptfrage, die ich mir indessen stelle, lautet: Was zum Teufel wollen all die Leute hier? Ja, die Isar plätschert anmutig, ja, nirgendwo sonst werden Fans krachlederner Beinkleider weniger scheel angesehen, aber andererseits: Das Oktoberfest ist démodé und dann die Mieten! Erst kürzlich fragte ein Bekannter aus Tirol, was man denn in München fürs Wohnen so zahle, meine Frau nannte den Quadratmeterpreis, woraufhin unser Gesprächspartner auf der Stelle rückwärts aus den Latschen kippte und pulslos nach Luft rang. 
Es ist kein Wunder, sondern unter anderem haushalterische Vernunft, dass die Familie Boning sich anderweitig nach einem Dach umsieht - was wiederum unangenehme Folgen für die Argumentation des Oberbürgermeisters hat: Wenn wir gehen, nähert sich die Neuinfiziertenzahl wiederum der magischen 50, jedenfalls solange, wie wir gesund bleiben. 
Tja, solch eine Story zieht die Wurst nicht vom Tisch, wie mein alter Freund und Kupferstecher Olli Dittrich zu sagen pflegt, und ich erwäge, an Tagen wie diesen meine Daily Soap um unerwartete Nebenplots zu ergänzen, zB Kochrezepte. 
Meine Oma Gerda hat in den Zwanzigern als Beiköchin auf Norderney gearbeitet, meine Mama wuchs sozusagen in einem Profihaushalt auf und ist selber eine äußerst talentierte Köchin. 
An ihren Kreationen gefällt mir vor allem, wie einfach sie aufgebaut sind. Erstes Beispiel: Schalotten (einen Beutel) halbieren, in Öl braten, mit Weißwein ablöschen. Sauce Hollandaise, Kapern und Dosenthunfisch dazu. Schmeckt besonders gut mit Jugendherbergsnudeln. 
Zweites Beispiel: Pumpernickel in Rollenform. Auf jedes der runden Plätzchen kommt Philadelphia oder ein anderer Frischkäse (ich bin ein Fan der amerikanischen Unabhängkeitserklärung, die bekanntlich in Pennsylvania unterzeichnet wurde, darum bin ich in diesem Falle markentreu). Sodann belege man das befrischkäste Pumpernickelplätzchen mit Rumrosinen (ich setze diese einige Tage zuvor selber an) und kröne das ganze mit reichlich rotem Pfeffer. 
Ja, das klingt nicht nur verwegen, sondern das ist es auch! Ich garantiere, dass das ungewöhnliche Geschmackserlebnis auch Neuinfiziertenzahlen oberhalb der magic fifty wenigstens für eine gute Sekunde vergessen lässt.
Guten Appetit!

21.9.
Alles fließt, alles ist in der Schwebe, und wir sind selber dafür verantwortlich. Fest steht lediglich, dass man den Winter mit zwei kleinen Kindern wohl eher nicht auf der Hütte verbringen kann. Natürlich hatte ich auch dies durchgespielt: Man bräuchte einen Skidoo, um bei Bedarf zügig zum Wanderparkplatz zu gelangen, bis zu dem die Straße geräumt wird. Ein, eher zweimal pro Woche würde man so zum Einkaufen kommen und anschließend die Therme in Fügen besuchen, um mit den Kindern planschen zu gehen, selber richtig sauber zu werden und um anderen Kindern zu begegnen (unsere Dusche ist nur sommertauglich, und den Kindern würden in der Höhe die Spielkameraden sicher fehlen). Da aber Wetterlagen auftreten können, die auch einen Skidoo kapitulieren lassen, würde die Speisekammer gut gefüllt werden müssen, um zur Not auch einen Monat in der Höhe überleben zu können. Bei diesem Gedanken registriere ich eine angenehme Pulserhöhung; ich denke an Langzeitaufenthalte auf der ISS und an das Trapperdrama „Wie ein Schrei im Wind“ mit Rita Tushingham und Oliver Reed. 
Die Holzkammer will unser Verpächter Franz sowieso noch vor Wintereinbruch füllen, zudem müsste man zugunsten wärmerer Nächte ein-, besser zweihundert Briketts einlagern, überdies müsste die Hausapotheke auf Profiniveau gebracht werden. 
Man würde gewiss sehr viel Schnee schaufeln, um auch den Aussenbereich so wohnlich wie möglich zu gestalten - wenigstens mit dem Ziel der Schwarzräumung. Aber weiter muss ich gar nicht denken; Teresa hat bereits abgewunken - sie hätte das Gefühl, eingesperrt zu sein. Zurecht. Gegen einen Winter in der Hütte wäre auch ein harter Lockdown pillepalle. 
Wohin also mit uns? 
Und so gesellen sich in meine Gebete erstmals nach acht Jahren zu den Lobeshymnen und Danksagungen zaghafte Bitten, allerdings etikettiert mit der Einschränkung, dass meine Bitten sich mit einer Art Luxusverwirrung beschäftigen, einer Not, mit der ich meinen lieben Gott eigentlich nicht behelligen möchte. Gott hat eh genug zu tun; so‘ne Schöpfung erledigt sich nicht nur nicht von alleine, sie will auch weiterhin gepflegt werden. Die Idee, die Alltagsarbeit an die Evolution zu delegieren, hat sich im Grunde bewährt, aber weiterhin klingelt alle Nase lang irgendwer durch und beschwert sich über Petitessen.
Wer gesund ist, verteufelt gut aussieht und gerade noch den letzten Teller leckerstes Pfifferlings-Risotto verzehrt hat, sollte sich wunschlos auf dem Canapé recken und mit Vertrauen alles begrüßen, was da kommen mag. 
Leukämiepatienten haben größere Berechtigung, bang in die Zukunft zu blicken: In der Pandemie wurden Typisierungsaktionen, bei denen sich potentielle Knochenmarkspender registrieren lassen können, ausgesetzt. 20.000 Stammzellenspender fehlen in diesem Jahr. Interessierte können sich fürderhin online anmelden, und ich kann nur herzlich darum bitten, diese Möglichkeit zu nutzen. So‘ne Typisierung kann Leben retten und ist dabei noch weniger lästig als zB ein Corona-Test. Ich selber war immerhin schonmal in der engeren Auswahl für eine Knochenmarkspende und hoffe, dass ich‘s eines Tages ins Finale schaffe, gewinne und mich auch auf diese Weise nützlich machen kann.

22.9.
Ab Donnerstag gilt in München an bestimmten öffentlichen Plätzen Maskenpflicht - im Grunde in der gesamten Innenstadt. All jene, die partout unmaskiert München durchschlendern wollen, sollten heute losziehen. Gilt auch für alle Junggesellenabschiede und sonstigen Feierbiester. Wäre mir mein Pegel wichtig: Jetzt oder nie! Wer weiß, ob man jemals wieder so jung zusammen kommt! 
Streeck vorgestern bei Anne Will: „Es ist unseriös zu behaupten, dann und dann gibt’s einen Impfstoff. Das kann auch erst in fünf oder zehn Jahren soweit sein“. Ich habe einen lieben Kollegen, der bis Corona viel öffentlich auftrat und mir in den letzten Monaten mantrisch zu sagen pflegte: „In Frühling ist es soweit; ich habe Kontakte nach Amerika - die sind ganz nah dran!“ Mittlerweile gefalle ich mir als Pessimist und behaupte: Auf die Maskenpflicht wird ein europaweites Alkoholverbot folgen, und alle Theater und Tanzlokale werden umgebaut zu Gesundheitsvorsorge-Centren. 
Sie ist nämlich heute das Wichtigste, die Gesundheit. Ist doch frappierend, wie sich das geändert hat: Von Napoleon bis Hitler galt als grösste Tugend, unerschrocken vorzurücken, hinein ins gegnerische Maschinengewehrfeuer - zum Wohle der Volksgemeinschaft. Und heute ist Vorsicht angesagt, im Dienste der Solidarität. Und lernte man noch in der DDR als Schüler, mit Stabhandgranaten auf den Klassenfeind loszugehen, so lernen heute die ABC-Schützen als allererstes, dem Virus aus dem Weg zu gehen. 
Die Bayerische Staatsoper als Tempel des Wohlbefindens: Traviata ist sehr krank, Mimi auch, Makropoulos lebt ewig - das sind die Plots unserer Zeit, der Rest kann weg, und in den Logen darf unter Opernbegleitung getestet, beraten und therapiert werden. 
Fest steht, dass alle Verschärfungen der Maßnahmen auch weiterhin grundsätzlich von Markus Söder bekannt gegeben werden - immer zwei Stunden vor Bürgermeister Dieter Reiter. 18% aller Deutschen sind die Maßnahmen zu lasch, und dieses Wählerpotential will geborgen werden! Ein Verbot der aerosolintensiven Konsonanten p, t und k rege ich zu diesem Zwecke an. „Potzblitz!“ schleudert explosiv gefährliche Virenmengen in den Luftraum, „Papa“ gleicht die doppelte Dosis. Schluss damit, sagt gefälligst „Du liebe Güte!“ und „Vater“, und alle bleiben gesund. 
Dem Wahlerfolg zuliebe gehört auf den Prüfstand ferner die Freundschaft. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es Freunde waren, deren Pranken ich packte, bereits zu Zeiten, als noch Polizisten Sitzende von Parkbänken vertrieben. „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das schönste, was es gibt auf der Welt“ sang Heinz Rühmann, und heute ist man geneigt hinzuzufügen: ...und das ungesündeste auch. Freunde essen gemeinsam, trinken gar, prosten sich zu, und schon das Aneinanderschlagen der vollen Gläser kann - theoretisch - die tödliche Virenlast von Glas zu Glas übertragen. Freund und Superspreader - das sind doch Synonyme, Plagegeister, auf die wir gerne verzichten. Lasst uns alleine durchs Leben gehen, uns gegenseitig blockieren, ghosten, vergessen. 
21:26 Uhr. Hart aber Fair. Karl Lauterbach spricht. Kurz bevor Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt wurde, traf ich ihn zufällig in Köln auf der Straße, und ich lobte ihn spontan dafür, dass er als SPDler Partei für die CDU-Kandidatin ergriffen hatte. Heute bin ich unsicher, ob Von der Leyen die Richtige ist - der Kommissionspräsidentin fehlt offenkundig die Autorität, um der EU in der Krise Gewicht zu verleihen. 
Und Lauterbach? Ich will nichts böses über ihn schreiben; er kann ja auch nicht aus seiner Haut. Nur: Ich kann nicht mehr. Ich habe eine Überdosis seines Gesäusels intus, und mein Körper wehrt sich, wie nach einer schleichenden, täglichen Blei- oder Arsenzufuhr. Noch drei Lauterbach-Auftritte, und ich muss auf Kur. Ich brauche einen strengen Lauterbachdown; der L-Wert muss deutlich unter 1 gedrückt werden, sonst gehe ich den Bach runter.

23.9.
„Geh doch rüber!“ - dies rieten früher die Konservativen jenen, die die Welt anders sahen, sozialistisch, links, „progressiv“, wie man in meiner Kindheit sagte. Den ganz jungen sei verraten, dass mit „rüber“ „über die Zonengrenze“ gemeint war, in die DDR.
Die zeitgemäße Abwandlung las ich gestern, in folgendem Kommentar über mein Tagebuch: „(...)Vielleicht sollte Wigald Boning in die USA gehen, wo Donald Trump strikt gegen Masken tragen ist, aber dafür seit gestern 200.000 Tote zu zählen sind. Da sind Menschen, die Familienmitglieder verloren haben. Das ist doch nicht komisch, sondern maßlos traurig“.
Die Frau hat recht; die Lage in USA ist alles andere als lustig. Aber warum sollte ich „rüber“ gehen, zu Donald Trump? Offenkundig liegt ein Missverständnis vor. Ich habe nichts gegen Masken, halte auch den Einsatz von Masken in der Münchener Innenstadt, über den ich gestern schrieb, für sinnvoll, zumal, wenn er ermöglicht, dass Kindergärten weiterhin geöffnet werden.
Vielleicht aber habe ich in den Augen der Leserin dem Maßnahmenpaket zu wenig zugestimmt, offensiv und ironiefrei, ohne verschmitztes Nachfragen, dafür möglichst mit Hofknicks in Richtung Söder, des strengen Patriarchen, und mit laut bekundetem Respekt vor der epidemiologischen Lebensleistung des großen Mahners Karl Lauterbach. 
„Bist du nicht mein Freund, bist du mein Feind“ urteilen die  „Geh doch rüber“-Rufer und holen in ihrer hölzernen Analyse jene Querdenker ein, deren politisches Rüstzeug in einen Fingerhut passt, und die darum nicht erkennen, dass gemeinsame Demonstrationen mit Rechtsradikalen indiskutabel sind. Les extrêmes se touchent, hatschi, auch in der Welt der Viren. 
Das ist etwas, was mir im Coronäikum extrem auf die Senkel meines MNS geht: die denkfaule Lagerbildung, das Unversöhnlich-Besserwisserische, und bei den Sagrotan-Moralisten ganz speziell der Hang zum Volkskommissariat, das den Andersdenkenden „nach drüben“ schicken oder gar mit dem „Erklärholz“ (hatten wir neulich auch schon mal) bearbeiten will. 
Apropos. Im ethischen Fachgebiet Maskenmoral bewegt mich eine Frage in den letzten Tagen ganz konkret: Wir schützen uns mit Alltagsmasken gegenseitig - soweit, so gut. Was aber ist mit jenen, die FFP-Masken mit Ausatmungs-Ventil tragen? Während der Träger dieser Masken selber geschützt ist, entweicht dessen Atemluft durch das Ventil ungefiltert. Sind diese Masken in der Öffentlichkeit erlaubt? Unsereiner schützt Greti und Pleti, der FFP-Mensch pustet Greti und Pleti sein Aerosol ins Gesicht! Da ist doch eine Unwucht, oder? 
Bei Sträter in Köln. Torsten Sträter ist einer meiner Helden in der Wirklichkeit, und das weiß er auch. Es ist ein merkwürdiges Privileg, das wir Fernsehonkels genießen: Sobald wir geschminkt sind, müssen wir keine Masken tragen, auch nicht rituell vor der Kamera, als eines jener „Signale“, die Leutnant Lauterbach immer wieder so dringend anmahnt. Dafür müssen wir auf den nach der Aufzeichnung obligatorischen Selfis mit Fans auf Abstand achten. Seit „Die Doofen“ bin ich dran gewöhnt, dass Fans mir fürs Foto auf die Pelle rücken, und jetzt bin ich es, der die mitunter aufgeregten Anhänger freundlich an unsere Abstandspflichten erinnert: „Wir haben Corona, bitte nicht ankuscheln!“ Ich fühle mich dann manchmal etwas spießig, aber: Et hilft ja nix.

P.S.: Wer sind eigentlich Greti und Pleti? Wo kommt das her?

24.9.
Als Münchener darf ich nicht mehr nach Mecklenburg-Vorpommern einreisen, was mein Leben zweifellos vereinfacht. 
Ist nicht die enorme Vielfalt an Möglichkeiten eine der schwersten Bürden, die wir Wohlstandsweltler zu schultern haben? Das geht schon morgens beim Kaffee los: Früher gab’s Jacobs Krönung, mit Zucker und/oder Milch. Ich muss noch bei den Osternburger Nonnen im Kindergarten „Jungs die Mädchen“ und „Mädchen die Jungs“ gespielt haben, als ich erstmals von „Idee-Kaffee“ hörte, reizarm und magenfreundlich. Dann: Entcoffeiniert. Nescafé Gold, etcetera. Und heute? Americano, Latte freddo, Capuccino medium, large, espresso doppio, mit Karamel usw. 
Ich habe Verständnis für jeden, der sich von Starbucks und Co überfordert fühlt und die einfachen Lösungen von anno dazumal bevorzugt, registriere ich doch auch an mir eine gewisse Trotzigkeit, mit der ich vermehrt zu jener Marke greife, welche ich mit der blonden Frau Sommer in Verbindung bringe, die von mir per Hand gebrüht wird (die gute Tasse Kaffee, nicht Frau Sommer). 
Nicht nur McPomm ist für mich fortan Tabu, in einigen anderen Bundesländern dürfen mich Berherbergungsbetriebe nicht übernachten lassen. Scheint so, als müsste ich demnächst bei manchen Jobs mein kleines Zelt einpacken, um wild zu campieren - eine Aussicht, die mich keineswegs schreckt, sondern meine Reiselust eher intensiviert. 
Aber gemach: So viele Jobs sind da nicht in nächster Zeit, was mir die Gelegenheit gibt, lange verschüttete Fertigkeiten wieder auszugraben. Heute zB schicke ich ein Passfoto zum Landesfischereiverband Weser-Ems. Nach nettem Mailverkehr weiß ich, dass ich mir einen neuen Angelschein ausstellen lassen kann; mein Exemplar habe ich Mitte der 80er verloren. Ungefähr mit 14 habe ich die Prüfung abgelegt und anschließend nicht einen einzigen Fisch mehr an Land gezogen (vorher, als Schwarzangler, ging auch nicht viel, aber mehr als 0). 
Ich bin mir noch gar nicht sicher, ob ich mit neuem Ausweis überhaupt Angeln gehen werde, aber ich freue mich auf das Gefühl, dass ich‘s könnte, wenn ich denn wollte. 
Pilzesammeln, Angeln: Untergründig drückt sich hier womöglich der Wunsch nach Ernährungsautonomie aus. Vielleicht sollte ich mich auch mit der Papierherstellung beschäftigen, um höchstselbst Bütten für den Toilettengang in der Krise zu schöpfen. 
Mein Lauf-Streak hält nunmehr einen Monat an. Im Schnitt laufe ich etwas weniger als 10 km täglich, ganz verhalten, um ja keine Überlastung zu riskieren. Der Anfang ist gemacht, wobei es sich wirklich nur um den allerersten Anfang handelt; in der amerikanischen Streaker-Vereinigung kann man sich überhaupt erst anmelden, wenn man ein Jahr bei der Stange geblieben ist. Es zeichnet sich immerhin ab, wie ich die Lauferei simpel in den Alltag integrieren kann: Meine schwarzen Barfußschuhe taugen zum Laufen, aber auch für alles andere, und heute bin ich sogar ein Ründchen in Badelatschen gejoggt, im Anzug, mit roter Aktentasche auf dem Rücken. Der Ranzen trägt sich sehr bequem, wenn man seine Riemen vor der Brust mit den Senkeln meines Mundschutzes zusammenbindet. Für mich gewinnt der Mundschutz damit enorm an Bedeutung: Fortan werde ich mich tagtäglich bereits morgens darauf freuen, ihn beim Sport einzubinden, und die Resteinsätze werden zur irrelevanten Nebensache.

25.9.
Roland Tichy - ich lerne erst jetzt, dass er mit der CDU zu tun hat(te). Meinte immer, sein Magazin sei sowas wie Compact, also mit Kleinanzeigen für Reichsbürger, Schießbude für Rotgrün-Hasser, und im Merchandising gibt’s Ernst Jünger-T-Shirts (die der Meister nie, niemals getragen hätte). 
Tichy stolperte über einen Artikel, der gegen Sawsan Chebli gerichtet war, irgendwas mit „G-Punkt“; ich hab’ den Sachzusammenhang gar nicht genau begriffen, stutzte aber beim Wort „G-Punkt“ weil ich diese Bezeichnung so lange nicht mehr gehört hatte. Ich sah spontan Ruth Westheimer vor mir, die geniale Sexualtherapeutin, der zuliebe ich mich als junger Mann auch für ein Anthropologiestudium mit Schwerpunkt Sexualität hätte entscheiden können, wenn ich nicht innerlich schon sehr festgelegt gewesen wäre, nämlich auf ein Studium der Musikwissenschaft, einem anderen genialen Frankfurter zuliebe, nämlich Theodor W. Adorno (zum Studieren fehlte mir dann allerdings die Zeit - bis heute). 
Einer der berühmten Sätze von Westheimer lautet übrigens: „Hört auf, nach dem G-Punkt zu suchen“ - Hätte Tichy doch auf sie gehört...
Gedanken, die mir durch den Kopf stolpern, während ich Gastro-Quittungen für die Steuererklärung ausfülle. Oder, genauer: zwischen dem Bearbeiten der einzelnen Quittungen, denn beim Schreiben selbst gehe ich äußerst konzentriert zur Sache. Diese Konzentration hat einen ganz konkreten Hintergrund: 
Als sehr, sehr junger Mann erlaubte ich mir einmal einen, nun ja, steuerlichen Schabernack, indem ich auf einem Bewirtungsbeleg in das Fach „Bewirtete Personen:“ eintrug: „Dr. Ruth Westheimer, Arnold Schwarzenegger und Ion Tiriac“. 
Es handelte sich um eine Quittung der „Nordsee“-Filiale in Bremen-Huchting über DM 19,90. 
Als ich einige Jahre später einer ersten Betriebsprüfung unterzogen wurde, endete diese mit einem denkwürdigen Abschlussgespräch. 
Ich betrat das Büro des Steuerprüfers, und auf dem Schreibtisch vor ihm lag das offenkundig verdächtige Dokument. Ich schluckte trocken, mein Kopf wurde rot. Der Betriebsprüfer fragte dieses, beanstandete jenes, nichts dolles, wie das in einem gut geführten Selbstständigenhaushalt eben so ist. Innerlich richtete ich mich auf ein besonders scharfes Verhör bezüglich meiner Westheimer-Schwarzenegger-Tiriac-Connection ein, improvisierte bereits lauter krude Geschichten, und der Betriebsprüfer registrierte mit einem feinen Schmunzeln meine steigende Unsicherheit. 
Auf die vor ihm liegende Quittung ging er aber gar nicht ein, sagte schließlich lächelnd: „Das war’s!“ und schickte mich nach Hause. 
Neben den Quittungen liegt die Süddeutsche Zeitung. Sie beschäftigt sich heute mit den Reichsten der Reichen und wie sie die Krise meistern. Privatinseln scheinen schwer angesagt, weil man auf diesen virensicher leben könne. In Daniel Defoes „Die Pest in London“ flüchten die Reichen auf Hausboote, die auf der Themse dümpeln, wobei es mir eigentlich widerstrebt, die Pest (vor der Erfindung des Penicillins) mit Covid-19 zu vergleichen. 
Sah man damals die typischen Beulen am Körper, war klar: Jetzt noch ein paar Stunden, dann ist Schicht im Schacht. 
Über Covid-19 lese ich in den letzten Tagen vermehrt, eine der gefürchteten Langzeitfolgen sei anhaltende Müdigkeit. Nun ja; um aus dem Dauergähnen nicht mehr herauszukommen, braucht unsereiner kein Corona, dazu reicht mir ein Stapel Bewirtungsbelege und ein Kugelschreiber. 
So, weg mit dem Tagebuch, weg mit der Zeitung und ran an den Stapel, gähn.

26.9.
Ulm. In der Therme mit Cyprian, zum ersten Mal, seitdem Söder weiss-blaue Rautentischtücher im Gesicht trägt. Mein lieber Sohn hat uns einen QR-Code ergattert; piep, rein in den Umkleidebereich. Ausziehen, Maske vorsichtshalber mitnehmen. 
Am Eingang der Sauna wird der Belegungsplan studiert, so’ne Art Grundrisszeichnung mit stilisierten Männekens. Acht Personen dürfen rein, aber nur sitzend, liegen verboten. Vielleicht, weil die Aerosole sonst vertikal unter die Decke geatmet werden, wo sie sich ubiquitär verteilen? 
Tür auf; ein älterer Herr hockt bereits im Warmen. „Grüß Gott!“ Wir setzen uns nebeneinander, der Herr poltert sogleich los, dass wie Abstand halten sollen, aber er kommt sprachlich von der schwäbischen Alb und trägt beunruhigend unpassende Provisorien im Mund; es zischt, knattert und knirscht, als er uns zurechtweist. 
Ich beschwichtige freundlich, wir seien „ein Hausstand“. Das ist zwar faktisch nicht ganz korrekt, aber gefühlt durchaus, und es erzielt seine Wirkung. „Vazer unz Zohn?“ erkundigt sich der Schwabe, jetzt ein freundlicher Mix aus Paul Panzer und dem König von Tonga. Wir nicken. Dann erzählt er, dass er seit 50 Jahren zum Schwitzen in die Sauna gehe, wobei ich ihn wirklich nur mit äußerster Mühe verstehe. Die erzwungene Saunapause habe ihm sehr zu schaffen gemacht, meine ich mir weiterhin zusammenzureimen. Ich kann allerdings nicht ausschließen, dass er uns in Wirklichkeit von seinem kürzlich verstorbenen Schweißhund namens Sunny berichtet, der ein halbes Jahrhundert alt wurde und dessen Ableben ihn in tiefe Trauer gestürzt habe. Als ich vorsichtshalber nachfrage: „Hund oder Sauna?“ behauptet er, er habe ein Gör gemäht, ausgenommen, weil es beim Zaun aka Putt gehe. Als ich nachfrage, warum man denn Gören überhaupt mähen müsse, ob man Zäune in Ulm schon immer „Putt“ nenne, und wo er denn überhaupt herkomme, erläutert Cyprian flüsternd, dass er sein Hörgerät rausgenommen habe, weil es in der Sauna kaputt gehe. Ach so. 
Kaltduschen (jede zweite Brause gesperrt), dann rein ins Tauchbecken. Anschließend, so will es eines der überall herumhängenden Schilder, desinfiziere ich den Handlauf, „zu ihrer und unserer Sicherheit“. 
Ein fideler Bademeister weist uns zwei Liegen zu, tritt hierbei aber erfrischend nahe an uns heran, so dass ich instinktiv zum Mundschutz greife wie ein altes Tantchen in mondloser Nacht zur Damenpistole, wenn‘s im Unterholz raschelt. 
Von hinten pirscht sich derweil der Besitzer des toten Hundes heran. „Grau schimmelt etz kauflöses Bindekeller Geiz baldig schnauzgebärtet Pula siebeng‘scheit?“ Ich nicke verständig und flüchte mit Cyprian Richtung Gastronomie. Maske auf. „Was gibt’s denn zu essen?“ Der Herr hinter der Plexiglasscheibe verweist auf die coronareduzierte Karte. Flammkuchen in vier theoretisch schmackhaften Varianten, von denen wir zwei auswählen. Maske ab, hamm-hamm. Maske auf, Maske ab. Dann wieder Schwitzen, und zwar in der leeren Außensauna „Münsterblick“. Der Saunameister stößt hinzu, rügt uns, weil wir zu abstandsarm beieinander säßen. „Ein Hausstand“ seufze ich, inzwischen geübt, und schiebe noch hinterher: „Ist ja sonst eh niemand da“. „Ich sag’s ja nur“, erklärt der Saunameister vergnügt und schickt sich an, Grüner-Apfel-Aufguss in den Ofen zu kippen. 
Die Tür geht auf. „Hammel dafurch tengeling abisch Hantelnoi Maltipu chinakohl!“ kräht der Mann ohne Hörgerät. Ich blicke aus den Fenstern. Kein Münsterblick weit und breit. Wo ist er hin? „Strackpurzel Tütentisch badenheimer pintzeminz Hatschepsut schulle gallenmäck“ erklärt unser neuer Freund, also übersetzt: „Hinter den Bäumen; im Winter, wenn das Laub fehlt, ist die Kirche besser zu sehen“. 
Fazit: Wer sich in übervollen Saunen unwohl fühlt, hat in Corona einen kraftvollen Verbündeten. Und Schwäbisch mit Provisorien ist gar nicht so schwer, wenn man sich erst einmal eingehört hat.

27.9.
Schon wieder Therme, heute mit meiner Frau Teresa, unseren Kindern und meiner lieben Schwägerin. Mein Schwiegervater empfiehlt uns ein großes Warmbad in Süddeutschland, dessen Namen nichts zur Sache tut. Er sagt: „Wann, wenn nicht jetzt, wird man die Anlage fast für sich alleine haben!“. 
Frohen Mutes machen wir uns auf den Weg. Der Parkplatz ist verdächtig gut gefüllt, und in meinem Hang zum Um-die-Ecke-Denken sage ich noch: „Wahrscheinlich haben sie die Parkfläche weitervermietet, um einigermaßen durch die schwere Zeit zu kommen. Oder der Parkplatz ist schlichtweg okkupiert worden, von den Anrainern.“ Anrainer? Wir sind in einer sehr ländlichen Gegend unterwegs, Anrainer jibbet eigentlich nicht. Wie kommt man auf sowas? 
Prasselnder, kalter Regen, klassisches Thermenwetter. Dreißig Meter lange Schlangen vor den drei Kassen. 
„Willkommen im Paradies!“ 
Juhu, der beste Platz, um der Krise, den Viren, ach, was sage ich, dem Leben zu entfliehen. Wir legen unsere QR-Codes vor, werden händisch aus einer langen Liste gestrichen, ziehen uns um, duschen...und...trauen unseren Augen kaum:
Hunderte Menschen, dicht an dicht, stehen im großen Becken und frönen gemeinsam der Wassergymnastik. Dahinter, an der Bar im Wasser, hängen die weniger Bewegungslustigen an der Beckenwand und kippen sich Caipis hinter die Binde. Nein, ich korrigiere: Binden trägt hier niemand, und das Konzept „Abstand“ scheint völlig unbekannt. Meine Kinnlade klappt gen Gewässergrund.
Es gibt einen Film von Quentin Tarantino, „From Dusk till Dawn“, in dem es eine Kneipe gibt, die „Titty Twister“ heißt, und in der es allnächtlich hoch her geht, mit allen Schikanen, wie das bei Tarantino eben so ist. An genau dieses Etablissement erinnert mich die Therme, allerdings in XXL. Wir sind völlig perplex. Meine Schwägerin, die regelmäßig herkommt, stellt fest: So voll war es hier noch nie. 
Ich möchte auf der Stelle umkehren, bedeute meiner Frau, ihre Sachen wieder zu packen. „Nix da! Die 50€ werden jetzt verschwommen!“ Seufzend stolpere ich ins Wasser, meiner frohlockenden Frau (Sternzeichen Fisch) hinterher. Sie schwimmt an die Bar. „Für mich einen alkoholfreien Caipirinha, für meinen Mann einen „Sex on the beach!“
Ich schlürfe fleißig den Cocktail, dann spüre ich die heißen Atemwolken der durchtätowierten Aquagymnastin in meinem Nacken, wanke an Land und bette mich auf eine mühsam ergatterte Liege, auf der ich versuche, meine Gedanken zu ordnen. 
Keine Frage: Thermalbäder sind toll, und ob es vertretbar ist, hunderte Menschen gemeinsam ihren Samstag feiern zu lassen, wie am Ballermann, nur drinnen, entscheide ja nicht ich, sondern andere. 
Jedem gönne ich sein Plaisir. Was ich allerdings nicht verstehe, ist die Rigidität, mit der an vielen Schulen ganztägig Maskenpflicht herrscht, auch bei Kindern, und im Paradies ist alles erlaubt. Natürlich, die Wirtschaft muss am Leben gehalten werden, möglichst sogar florieren, auch die Badelandschaften sollen blühen, aber warum dann das ganze Gewese um Risikogebiete wie Tirol, quasi ums Eck, komplexe Regelwerke für Bühnenkünstler, Gesangsverbote für Chöre, Alkoholverbot im Gärtnerplatzviertel, die ganze wohlbegründete Verboteritis, und hier: Gib ihm?!
Tut mir leid, ich check‘s nicht. Mir fehlt wahrscheinlich der Grips oder der Kompass, oder beides, und fröstelnd tapse ich mit meinen Lieben an die Ränder des Geschehens, zum Dampfbad, an dessen Tür ein Zettel hängt: „Geschlossen wegen Corona“. 
Teresa drückt die Tür auf, der Raum ist leer, wir gehen hinein und singen aus Leibeskräften alle zusammen das Kufsteinlied: „Kennst du die Perle...“; es hallt himmlisch in der kargen Halle. Niemanden interessiert‘s, keiner kommt & guckt, ein toter Trakt im Paradies - hier sind wir Mensch, hier darf man’s sein.

28.9.
Gottesdienst in St. Achaz. Meine Frau singt auf der Empore Mozart und Händel, und ich schiebe die Kinder durch Sendling. Von den Mitmusikern wird sie auf den neuesten Stand gebracht: Gesangskollege X sucht einen Job als Bürokraft, Y ist ab sofort Personal Trainer im Fitnessbereich, Z macht gar nichts mehr.
Wie gut, dass mich niemand fragt, was ich von der weitgehenden Verbannung des öffentlichen Gesangs aus unserer Kultur halte. Das betrifft ja nicht nur den professionellen Gesang, sondern auch Kindergärten, Spielgruppen; schon Kleinkindern wird, ganz im Ernst, Gesang verboten, weil irgendwelche lebensfremden Fachidioten dies für eine epidemiologische Notwendigkeit halten - und wenn man eine solch einseitige Fokussierung unseres Daseins auf seine virologischen Aspekte hinterfragt, wird man bezichtigt, „Leben opfern“ zu wollen. 
Die Absurdität dieses infamen Vorwurfs verdeutlicht am besten die infame Absurdität unserer Zeit. 
„Die Vernunft kann nur reden. Es ist die Liebe, die singt.“ - das sagte Joseph de Maistre, dem ich als Teenager in einem Buch des großen E.M. Cioran begegnete („Über das reaktionäre Denken“). 
Nach dem Auftritt Mittagessen im Hirschgarten. Jetzt neu: Jeder Gast muss ein eigenes Kontaktformular ausfüllen (bisher reichte eins pro Tisch). Ich frage den Security-Mann am Eingang nach dem Grund, und er zuckt mit den Schultern. „Einmal pro Woche kriegen wir neue Anweisungen. Zu den Gründen kann ich nichts sagen“. 
Klar, in den letzten Wochen wurde viel Schindluder mit diesen Formularen getrieben: Mancheiner schrieb, er heiße Arnold Schwarzenegger, Joseph de Maistre oder Wigald Boning, auch wegen der Sorge, dass die Formulare nicht nur von den Gesundheitsämtern, sondern auch von der Polizei in Augenschein genommen werden. Aber wird diese Sorge dadurch genommen, dass man jeden einzeln einen Namen seiner Wahl eintragen lässt? 
Oder handelt es sich um eine kleine Extrahürde, um den Leuten den Gang ins Wirtshaus zu verleiden („Stay home“)? 
Oder handelt es sich um das Resultat erfolgreicher Lobbyarbeit der Papier- und Kugelschreiberminenhersteller? 
Oder haben findige Virologen herausgefunden, dass derjenige, der gesenkten Hauptes schreibt, nur selten singt oder sonstwie gefährliche Aerosole verbreitet - jedes Blatt, das ausgefüllt wird, senkt den R-Wert; Kleinvieh macht auch Mist. 
Oder ging es einfach darum, irgendeine Verschärfung der Maßnahmen in Petto zu haben, unabhängig von ihrer Wirksamkeit? 
So, mehr Gründe fallen mir ad hoc nicht ein; ist ja auch nur eine unwichtige Kleinigkeit. Ich hätte in der Zeit natürlich auch den Grund googeln können, aber solange ich tippe, bringe ich niemanden in Gefahr (ja, die Idee gefällt mir). 
Oder weiß zufällig irgendwer im Plenum Bescheid? Frau Huml, lesen Sie mit?

P.S.: 6:47. Nein, ich bin nicht glücklich mit dem heutigen Beitrag, habe mich gehen lassen und bereue ehrlich. Die Formulierung „Irgendwelche lebensfremden Fachidioten“ ist beleidigend - die Leute machen ja auch nur ihren Job. Jetzt, nach einer guten Tasse Kaffee, möchte ich gerne ändern zu: „hochverehrte lebensfremde Spezialisten“.

29.9.
Im Traum befinde ich mich im Paris des ancien régimes, die Straßen sind menschenleer, nur vereinzelt sehe ich Passanten mit spitzen Mundschutzen, wie man sie gegen die Pest zu tragen pflegt. Die vogelschnabelartigen Konstruktionen bestehen aus schwarz lackiertem Metall, durch Löcher am Rand quillt Rauch, weil im Innern des Schnabels Kräuter vor sich hin glimmen. 
Ich gehe auf breiter Straße Richtung Bobigny, und vor mir sehe ich das Messegelände. Ein Bus fährt vorbei und hält neben mir. Kässbohrer-Setra, die Tür öffnet sich mit dem typischen „Pfffff“ der alten Zeit. „Steig ein!“ ruft man mir zu. 
Im Innern lerne ich fast alle königlich-französischen Astronauten kennen (einer ist in Quarantäne), auf dem Weg zum Raketenstartplatz. 
Das Fluggerät ist kurz und klobig, hüpft auf der Stelle; der Pogo-Effekt macht das Einsteigen schwer. 
Die Sitze sind festgezurrte Schaukelstühle mit elastischem Holz aus den Kolonien, die Fenster mit rot karierten Vorhängen verziert. 
Wo geht’s überhaupt hin? Zur Antwort legt der Kommandant seinen Zeigefinger auf die Lippen. Berittene Boten bringen Schriftrollen mit roten Siegeln - letzte Anweisungen von der Operationsleitung. Einer der Astronauten hat seinen silbernen Anzug (offenkundig einen Skioverall) oberseits ausgezogen und füttert den brüllenden Ofen mit Holzkohle. 
Ich stehe im Weg, möchte mich gerne nützlich machen, weiß aber nicht wie. Am Kaffeeautomaten versuche ich mir einen Capuccino medium zu ziehen, aber der Filterbehälter muss gewechselt werden, wie mir die bourbonenlilienblaue Digitalanzeige mitteilt. Der Kommandant kümmert sich, und ich stehe betreten daneben; es ist mir peinlich, dass ich den Laden aufhalte, gerade jetzt, in der heißen Phase des Countdowns. 
Da alle Schaukelstühle besetzt sind, hocke ich mich mit meinem Heißgetränk auf den Boden, und als wir abheben, schwappt ein Gutteil des Pappbecherinhalts auf die Dielen und rinnt in die Fugen. 
Am Fenster erscheint ein Wellensittich und winkt uns aufmunternd zu. Als wir die Erdatmosphäre verlassen, holen die Astronauten ein Schachspiel aus der Kommode; Weiß eröffnet mit dem Damenbauern. Noch bevor Schwarz aufgeben kann, erreichen wir unser Ziel, und nach hartem Rumms wanken wir aus der Luke. Die Landschaft ist in Flokati gehüllt; einzelne Bäume mit ausladender Krone, ebenfalls mit langem Flor bespannt, spenden Schatten, wie in einem antiken Hain. Übergroße Libellen mit Schiebermützen sirren durchs Firmament. In der Ferne kratzt sich die Erde am Bauchnabel. Die Crew entfaltet eine Picknickdecke; es gibt hartgekochte Eier, Knack&Back und Bifi, nach den Worten unseres Kommandanten vom Küchenchef Ludwigs XIV. extra für den Einsatz in der Raumfahrt entwickelt. 
Nanu, da ist ja der Wellensittich von vorhin! 
Wo kommst du denn her? „Bin euch nachgeflogen“ sagt er putzig, und mit ausladenden, nachgerade flatterhaften Gesten loben wir unseren gefiederten Freund für sein Sprachtalent. 
Verschämt frage ich den Kommandanten, ob ich Abstand halten soll? „Ach was“, winkt er ab, „wir sind doch quasi ein Hausstand!“ 
Der Steuermann holt eine aufblasbare Gitarre aus der Hosentasche und singt „Are you lonesome tonight“. Jetzt erst fällt mir auf, dass ich die einzeln stehenden Bäume schon einmal gesehen habe, und zwar in unzähligen ARD-Brennpunkten: Wir sind auf der Oberfläche eines Virus gelandet, und ich erwache, mit trockenem Hals und in herbstlicher Melancholie.

30.9.
Es nähert sich der 33. Todestag von Opa Walter, bei dem ich 20 Monate lang als „individueller Schwerbehindertenbetreuer“ meinen Zivildienst ableistete. 
Walter hatte als Zeuge Jehovas im III. Reich einige Jahre im KZ Sonnenburg bei Küstrin verbracht, danach im Weinhandel gearbeitet und in den späten Fünfzigern einen schweren Unfall überlebt. Hiervon bereits stark gezeichnet, erlitt er mit 80 einen Schlaganfall, und zwar in der Hochzeitsnacht seiner zweiten Ehe. 
Seine Frau Adelheid, ebenfalls Zeugin, war hochbetagt aus dem Wedding nach Bremen gezogen und fiel aus allen Wolken des Ehehimmels. 
Walter saß fortan im Rollstuhl, beseelt vom Wunsch, noch einmal Laufen zu lernen, und Adelheid, selber bereits ziemlich tüdelig und pflegebedürftig, haderte mit ihrem Schicksal und versuchte, Trost im Glauben zu finden. 
Ich war 19 und Opa Walter 85, als ich erstmals die mit den Möbeln aus zwei Hausständen gut gefüllte Zweizimmerwohnung betrat. Ich war hochmotiviert, hatte mir den Job bei der ISB ausgesucht, weil mich das Abenteuer, das Leben eines Menschen symbiotisch zu teilen, reizte. 
Die Realität bestand aus drei Dritteln. 
Ein Drittel war erfüllend: Nach einigen Wochen des Einhörens konnte ich mich mit Opa Walter recht gut verständigen, führte bei passendem Wetter im nahen Park mit ihm Gehübungen durch, ganz ähnlich wie in diesen Tagen mit meiner 10 Monate jungen Tochter: Ich hielt beide Hände, ging rückwärts voran. 
Nie fiel ein böses Wort, zwischen Walter und mir herrschte allzeit Harmonie, und ich kann mich an viele anrührende Situationen erinnern, auch spannende Gespräche, etwa nachdem Matthias Rust auf dem Roten Platz gelandet war. 
Das zweite Drittel war von Skurrilität geprägt. Adelheid kaufte regelmäßig Fleisch und deponierte dieses an geheimen Orten in der Wohnung, wohl als Notration für schlechte Zeiten. Für mich war es eine heikle Aufgabe, das Gammelfleisch verschwinden zu lassen (die Hausverwaltung drohte bereits mit geruchsbedingter Wohnungskündigung), möglichst ohne mich bei der Entsorgung von Adelheid erwischen zu lassen - sonst gab es Riesenärger. 
Für den häuslichen Frieden war es überdies notwendig, sich mit Adelheid dem Bibelstudium zu widmen und die von ihr empfohlene Fachliteratur wenigstens quer zu lesen. 
Noch heute bin ich bestens vorbereitet auf Hausbesuche der Zeugen Jehovas und verwickle diese mit Vorliebe in haarspalterische Fachgespräche. 
Das dritte Drittel war trist. Die Mietskaserne, in der die mir Anvertrauten wohnten, war grau, der Himmel über Gröpelingen damals kaum bunter als heute. Ein schwerer Grauschleier liegt über meiner Erinnerung, wie bei einer ungeschickt gewaschenen Gardine. 
Etwa einen Monat vor Ende meines Zivildienstes entzündete sich bei Opa Walter die Wurzel seines letzten verbliebenen Zahns. Hohes Fieber streckte ihn nieder; ich benachrichtigte den Hausarzt, und der Krankenwagen brachte Walter ins Hospital. 
Der Zahn wurde gezogen und Antibiotika verabreicht, doch es war zu spät. Als ich Walter nach der OP besuchte, drückte er mir mit flehendem Blick besonders fest die Hand, und der nunmehr zahnlose Mund formte ein unhörbares „Danke!“
Ich ging hinaus in den Park, stapfte durch einen stürmischen, nassen Herbstabend. Als ich nach einer Stunde ins Krankenhaus zurückkehrte, war Walter tot. Stumm streichelte ich seine kalte Hand. Nur wenige Tage nach der Trauerfeier im Königreichsaal starb auch Adelheid, und die Arbeiterwohlfahrt erließ mir meine restlichen Arbeitstage.
Ob ich bei Walter und Adelheid etwas gelernt habe? Oh ja. Ich habe zB Grenzen der Belastbarkeit kennengelernt, bei uns dreien. Und ich habe gelernt, dass das letzte Lebenskapitel wirklich enorm grau sein und, wenn es dem lieben Gott gefällt, ruckzuck enden kann. 
Glück heißt in diesem Lebensabschnitt vielleicht am ehesten: ohne Schmerzen bequem liegen. Und von Menschen umgeben sein, die man mag. Aber mehr kann ich dazu nicht sagen, weil ich bisher nur Walter die Hand halten durfte und das Ableben eine höchst individuelle Verrichtung ist.

1.10.
Mit Elan stemmt sich die Kanzlerin gegen die Nachlässigkeit, die allenthalben eingezogen ist. Selbst manch ehemaliger Hundertfünfzigprozentiger winkt inzwischen ab, wenn über Corona gesprochen wird. Drosten prognostiziert: „Jetzt wird die Pandemie erst richtig losgehen“, während die Stadt München die Maskenpflicht in der Innenstadt ab Freitag wieder aufhebt, mangels Neu-Infektionen. Das Verrückte: Alle haben sie auf ihre Weise recht: Merkel, die Abwinker, Drosten und die Stadt München. 
Auch die Familie Boning gibt in dieser Gemengelage ein uneinheitliches Bild ab: Als wir am Nachmittag durch die Innenstadt radeln, mit dem Nachwuchs im Kindersitz, und wir uns im Unklaren darüber sind, ob wir uns schon in der maskenpflichtigen Zone aufhalten, radle ich mit Maske, meine Frau nicht. 
Ach, die leidige Maskenfrage. Mir ist die Sache inzwischen total wurscht. Nun, da ich die Lappen besitze, werde ich sie auftragen, und das geht umso schneller, je häufiger die Dinger beansprucht werden.
Auch die Anzahl der Personen, die sich ein Stelldichein geben dürfen (in München momentan fünf, ab Freitag zehn), ist mir persönlich wumpe. Ich kenne in dieser Stadt kaum vier Personen, zu mehr reicht‘s bei mir nicht. 
Ach, Corona. Das Ding langweilt mich, und auch eine Zahl wie 19200 (Neuinfizierte zu Weihnachten, wenn wir so weitermachen), ja, selbst die Meldung, dass Menschen mit starkem Neandertaler-Genom-Anteil einen schwereren Covid-19-Verlauf zu erwarten haben, alarmiert mich nicht so, wie es sein sollte.
Es ist Zeit, sich den wichtigeren Themen zuzuwenden, zB dem Klima. Corona hat gezeigt, wie viel möglich ist, wenn die Politik entschlossen handelt und die Bevölkerung mitzieht. Ich persönlich glaube, dass missionarisches Handeln kontraproduktiv ist und würde daher niemals behaupten, dass ich dem Klima zuliebe radle oder aufs Fliegen verzichte. Nein, ich bewege mich für mein Leben gerne an der frischen Luft und fühle mich in Blechhüllen unwohl, fertig. 
André Gide war begeisterter Tagebuchschreiber und ordnete dieser Tätigkeit vieles unter. Unter anderem wechselte Gide die Liebschaften, wenn sie als literarischer Rohstoff ausgedient hatten. 
Auch dies geht mir in diesen Tagen durch den Kopf, wenn ich an Corona denke. Mon amour, ich hab mich für dich verkleidet, fremde Schöne aus der Ferne nur gegrüßt; ich hab mein Schreiben Dir gewidmet, und nun bist Du weder da noch weg. Deine Sprachrohre vertrösten mich, zu Weihnachten käme die große Bescherung, Du, nur Du, allein: der Reiz ist verflogen, ein Alltagseinerlei hat alles Herzklopfen ersetzt. 
Ach, Facebook. Tagebuch schreibe ich seit meinem 10. Lebensjahr. Die ersten Bände entsorgte ich mit 16 im Sperrmüll (ein schwerer Fehler), aber zig Jahrgänge schleppe ich seit Jahrzehnten mit mir herum (ohne je wieder hineingeschaut zu haben). 
Indem ich seit Mitte März hier bei Facebook „öffentlich“ schrieb, verlor die Übung ihren spielerischen Charakter, und ich musste lernen, ernst genommen zu werden. Ja, plötzlich lasen Leute mit, lobten, likten, lästerten, manche gar warfen mir vor, nicht ihrer Meinung zu sein. Dann bekam ich regelmäßig einen Schreck, weil mir erst aufgrund der Reaktion auffiel, wie sehr ich daran gewöhnt bin, in meinem Tagebuch naturgemäß meine Meinung zu notieren, ohne nützliche Hintergedanken. Und so habe ich einige emotionale Achterbahnfahrten hinter mich gebracht, für die ich sehr dankbar bin: Euch, den treuen Leserinnen, und Elvis.
Ihr lest den 190. Eintrag meiner Coronik. Diese Woche mache ich noch voll.

2.10.
Ihr Lieben!
Ich habe mich sehr über Eure warmen Worte gefreut. Zu erfahren, wie sehr Ihr mein Tagebuch schätzt - das rührte und trug mich durch den Tag. Aber es hilft ja nichts. Ich bin momentan auf zu vielen Baustellen beschäftigt: Wohnungssuche, Erschließung neuer kunsthandwerklicher Erwerbsarbeitswelten, Streak, Möbel verkaufen, Vorhänge fürs Gardinophon kaufen usw. - ich werde diesem Tagebuch nicht mehr den gewohnten zeitlichen Rang einräumen können. 
Mit Beginn des Lockdowns hatte ich den Eindruck, ich könnte mich durch die öffentliche Schreiberei nützlich machen - einerseits sah ich Bedarf an Coronisten, die das Geschehen adäquat einordnen, andererseits wollte ich der bedrückenden Schwere der Situation ganz bewusst etwas burschikoses entgegensetzen - mir persönlich waberte gar zu viel bleierne Angst durch die Köpfe meiner lieben Mitmenschen, und Blei hat im Kopf noch weniger verloren als fiese Viren. Also schrieb ich mich wacker durch Lockdown & den folgenden Sommer. 
Allabendlich, wenn Teresa die Kinder in den Schlaf stillte, brütete ich über dem Text des Tages, anschließend las meine Gattin Kontrolle, um mich davor zu schützen, dass ich mich um Kopf und Kragen schrieb, und nicht selten stand ich noch in der Nacht auf, um der Sache den letzten Schliff zu geben. Nach dem morgendlichen Posten war es mir ein Vergnügen, alle Eure Kommentare zu lesen, Fragen zu beantworten und die bisweilen dargereichten Fehdehandschuhe so freundlich wie irgend möglich wenigstens zu begutachten (tagesformabhängig). 
Und so waren die letzten Monate eine erfüllende Zeit. Unschwer zu spüren, dass ich dem einen oder der anderen von Euch ans Herz gewachsen bin, aber leider hat meine selbstverordnete, tagebuchspezifische Offenheit mich auch einige nette Bekanntschaften gekostet - liebe, jahrelange Weggefährten, denen meine zeitweilige leise Kritik an den „Maßnahmen“ gar zu suspekt erschien. 
Nun ja; wie sagte Luther? Ich tippe hier und kann nicht anders, amen. Schmerzhaft waren die Abschiede allemal, und ich hoffe, dass man bei Gelegenheit wieder zueinander findet. Meine Tür jedenfalls steht immer offen (Schloß kaputt). 
Wie nun verfahren? An Corona habe ich mich abgearbeitet, und ich habe meiner Frau versprochen, dass wir ab dem Wochenende nicht mehr drüber reden. Die Texte werde ich ausdrucken und in einem Schließfach der Zillertaler Sparkasse deponieren. Wer weiß; vielleicht wird ja tatsächlich mal ein Buch draus? Schulbuchlektüre für die Mittelstufe 2099/100 - das würde mir schmeicheln, wenngleich eher unklar ist, ob es in achtzig Jahren noch Schulbuchlektüren gibt oder ob Wissen nicht doch eher per Chip durch die Rachenwand implantiert wird (kleiner Scherz).  
Einstweilen werde ich mein Tagebuch wieder auf Privatbetrieb umstellen bzw auf der Ifpupo-Seite in anderer Form weiterführen, wenn denn die technischen Voraussetzungen geschaffen sind. Ich gebe gegebenenfalls Bescheid. 
Eigentlich wollte ich bereits nächste Woche an zwei Abenden im Münchener Lustspielhaus aus dem Tagebuch vorlesen, aber das Lustspielhaus hat seine Pforten wieder geschlossen, vorerst bis Mitte November, glaube ich. Seufz; eines Tages... 
Ich wünsche Euch allen ein erzformidables Wochenende!

Sonntag, 20. September 2020

Das Virus kommt mit dem Auto

18.8.
Bundeskanzler Sebastian Kurz schreibt auf seiner Facebook-Seite: „Wir sehen: Das Virus kommt mit dem Auto über die Grenze und es ist daher notwendig, an den Grenzen strenger zu kontrollieren“. Meine Frau und ich lachen Tränen. Tüt, tüüt! Wir sehen die pickeligen Viren am Lenkrad, immer linke Spur, der Wagen angeschmuddelt. Die Kommentare feiern Kurz für diesen Höhepunkt der Gesundheitsvorsorge: „Es nervt tierisch! Hört endlich mit dem Schwachsinn auf!“ fordert eine Kommentatorin und erhält dafür 1,7 t Likes. Könnte man den Viren nicht einfach den Führerschein entziehen? Wäre wahrscheinlich unfair gegenüber den österreichischen Viren, die ja weiterhin ins Ausland tuckern dürfen. Am Ende seines Posts schwenkt Kurz um zum Du: „Ich bitte dich, bleibe vorsichtig!“, und ein Kommentator fasst zusammen: „Der ganze Bua a Depp“. Stimmt natürlich nicht. Für mich ist Kurz so eine Art Andreas Scheuer in gut. Ja, das klingt etwas hinterfotzig, ist aber ganz sachlich gemeint. Bessere Absichten, mehr Charme, bessere Frisur, niedlicherer Akzent usw., aber, wie man am Viren-Brumm-Brumm-Beispiel erkennt, vom selben Schlag. 
Nachmittags kommt mein Sohn Leander, der in den letzten Tagen ausgiebig das Brettspiel „Pandemic“ gespielt hat. Als Mitspieler versucht man einerseits, die Ausbrüche verschiedener Krankheiten einzudämmen, und gleichzeitig ein Heilmittel zu entwickeln. Matt Leacock entwickelte das Spiel 2008, im darauffolgenden Jahr wurde es für den Titel „Spiel des Jahres“ nominiert. Covid-19 gab’s damals noch nicht, überhaupt werden die Namen realer Seuchen gemieden - Ausweis der Cleverness des Urhebers, der eventuell ahnte, was uns auch weiterhin blüht und seinem Spiel zeitlose Aktualität sichern wollte. Ob Matt Leacock ein Pseudonym von Bill Gates ist, frage ich Leander, und er lacht verschwörerisch. Dann berichtet Leander, dass das Kaufbeurer „Corona Kinoplex“ weiterhin seinen Namen trage. Tja, eine Umbenennung kostet auch Geld, Geld, das in dieser Branche momentan knapp sein dürfte. 
Meine Frau zeigt mir strahlend einen Artikel, in dem eine Studie von Forschern der Berliner Charité vorgestellt wird, deren Ergebnis allen Freunden der klassischen Musik Freude bereiten wird: Sofern alle Konzertbesucher ihren Mund-Nasen-Schutz korrekt tragen, könne man guten Gewissens sämtliche Plätze in einem Konzertsaal besetzen. Man fragt sich natürlich sogleich, ob diese Erkenntnis auch auf Pop, Rock, Schlager übertragen werden kann, und ob dies auch eine Neubewertung des Präsenzunterrichts an Schulen erzwinge? Und was ist mit wahabitischen Hochzeiten und Teletubby-Jahreshauptversammlung, also mit Festivitäten, bei denen eine robuste Maskierung nachgerade erwünscht ist? 
Am Abend zeigt mir meine Frau einen weiteren Artikel, in dem es um Zoff zwischen Charité Chef-Epidemiologe Stefan Wilich und dessen Arbeitsgeber geht. Die Charité distanziert sich von der Klassik-Studie. Grund? Willich sei nicht nur Epidemiologe, sondern auch Dirigent, war Rektor der Musikhochschule Hanns Eisler und gründete das „World Doctors Orchestra“. 
Und so endet der Tag, wie er begann: mit Heiterkeit auf dem Fundament fortgeschrittener Bitternis.

19.8.
Liebeskummer. Daran erinnert mich der Abschied von der alten Normalität. 
Ja, da kündigte sich etwas an. Ein rundliches Wesen, klein an Wuchs, schwer von Kapee, hat uns entzweit. Jetzt ist es weg, unser altes, schönes Leben, und wir gehen sehr unterschiedlich damit um: Der eine sitzt heulend im stillen Kämmerlein, der zwote hat sich‘s schon lange im Hier und Jetzt bequem gemacht - nur manchmal erinnert er sich an feuchtfröhliche Feste, dicht an dicht, an wilde Knutschereien in der stehend-feuchten Luft schwach beleuchteter Kaschemmen. 
Der dritte dreht am Rad, will die Sachlage nicht wahrhaben, hält das alles für Bluff, für einen Spuk, der mit einem Schnips zu Ende gehen wird.  
Im Liebesleben ein Klassiker: Der oder die Verlassene reagiert irrational, mit Aggression, heult sich beim wildfremden Barkeeper aus. So lässt sich der Erfolg der Hygienedemos auch erklären: Ganz unterschiedliche Menschen sind geeint in ihrem Schmerz, sie liebten ihr Leben und verstehen nicht, warum sie verlassen wurden. Hattest Du’s denn nicht gut bei mir? Keine Antwort, plötzlich war die Holde weg, und, schlimmer noch, ein Haufen Stalking-Regeln soll verhindern, dass wir ihr nachstellen. 
Ein Leser verwies mich gestern auf Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“: Es geht darum, die Realität zu umarmen. Wenn uns dies schon nicht bei
Corona gelingt, wie sollen wir uns dann erst in einer Welt zurechtfinden, in der Teile Europas zu Meeresboden und andere zu Wüsten geworden sind? Der Klimawandel ist der große Charaktertest, der Hauptgang, Corona allerhöchstens ein Amuse gueule, ein Gruß aus der Küche. Ab und an öffnet sich ihre Schiebetür und wir erhaschen einen Blick auf die Kochtöpfe. Da braut sich was zusammen, die Milch läuft über, das Eis schmilzt, und wir drehen am Rad wegen eines klitzekleinen Virus. 
Meine Heimatstadt Oldenburg wird 2100 direkt am Meer liegen, jedenfalls nach der Prognose des US-amerikanischen Klimaforschers James Hansen.
Für die Leute aus Wilhelmshaven, Emden oder Amsterdam wird „StayHome“ keine Option sein, man wird einen Lastenausgleich verhandeln, und ich bin gespannt, wie viele Gegner dieses Lastenausgleichs 2100 vorm Brandenburger Tor demonstrieren werden: 20.000? Eine Million? 
Kaffee und Kuchen in Herrsching am Ammersee. Vier-, fünfmal pro Tag, so berichtet die Kellnerin, müsse sie mit Kunden diskutieren: Warum Maske? Wieso die Pfeile am Boden? Wozu der Zettel mit den Kontaktdaten? Könne sie garantieren, dass die Daten wirklich nur den Gesundheitsbehörden zur Verfügung gestellt werden? Dieser Dauerstreit verleide ihr - neben der Maske - ihren Job, den sie eigentlich liebe. 
Als Leander den Zettel ausfüllt, ruft sie knapp: „Name und Nummer reicht!“ Aha, guck an. 
Ihr bisher schlimmstes Erlebnis im Coronäikum: Gerade hatte sie draußen einen Tisch desinfiziert, da kam ein Kunde und bestand darauf, dass sie den Tisch ein zweites Mal bearbeitete, unter seinen Augen, und ohne Hand- oder Handschuhkontakt. Immer sollte ein Tuch zwischen Fingern und zu säuberndem Objekt sein. Warum? Unklar. Angst, Schikane, Sadismus womöglich. Aber der Kunde ist König. Also: Immer schön freundlich bleiben. Und das Lächeln nicht vergessen!

20.8.
Ist die Meinungsfreiheit bedroht? 
Sie ist immer bedroht. Einerseits gibt es jene Gesetze, die der Meinungsäußerung Grenzen setzen, und dann gibt es jene Bedrohung, die aus selbstangelegten Fesseln entsteht: 
Man hat eine Meinung, äußert diese aber nicht, weil man fürchtet, Freunde zu verlieren oder den Arbeitsplatz oder den Ruf, ein vernünftiges, verantwortungsvolles Mitglied der Gesellschaft zu sein. Diese Furcht ist bisweilen begründet, manchmal aber auch übertrieben stark empfunden, ähnlich wie die Angst vor Covid-19. 
Ja, das Virus kann uns schwer erkranken lassen, aber übervorsichtige Totalisolation ist nicht verhältnismäßig.
Ja, manche Meinungen sind unpopulär und können Freunde entzweien, aber ängstliches Schweigen macht die Demokratie auch nicht gerade lebendiger. 
Oft habe ich in den letzten Jahren die Klage gehört, dass man seine Meinung nicht mehr freiheraus äußern könne. Nach meiner Erfahrung ist dies möglich, allerdings kann einem Widerspruch blühen, womöglich sogar unsachlich, schrill, mit Ausrufezeichen - dies gilt es vom Meinenden ebenso zu akzeptieren wie die geäußerte Meinung vom Widersprechenden. 
Kürzlich schrieb eine Leserin über mein Tagebuch: 
„Seitdem er wieder 'in Arbeit' ist, merkt man mitunter, dass er unterhalten will. Und dass er vorsichtiger ist als in der Lockdown-Zeit, in dem, was er schreibt. Ich lese ihn jetzt schon seit bestimmt Mai, wenn nicht noch länger. Und war über seine Offenheit von Anfang an sehr erstaunt. Immerhin steht er ja in der Öffentlichkeit. Und hat also was zu verlieren.“ 
Diese Zeilen legten meine Stirn in Falten. 
Im Grunde habe ich in der gesamten Lockdown-Zeit gearbeitet, Fernsehsendungen mit vorbereitet, und auch vor der Kamera stand ich. 
Von Fernsehkollegen und Produzenten wurde ich auf dieses Tagebuch ab und zu angesprochen, im folgenden Gespräch stellte sich manchmal heraus, dass wir die „Maßnahmen“ unterschiedlich beurteilten, und dann rang man mitunter ein Weilchen oder stellte schmunzelnd einen deutlichen Dissenz fest. Na und? 
Eine Frage, über die ich mit einem Kollegen im Lockdown Sträuße ausfocht, lautete: Gibt es überhaupt Einschränkungen der Grundrechte im Grundgesetz? Er winkte lachend ab. Ich zählte die betroffenen Artikel auf und zitierte die Kanzlerin, die die Einschränkungen selber eine „Zumutung“ nannte. 
Mein Gegenüber hielt mich womöglich für einen unsicheren Kantonisten, Verschwörer, Corona-Leugner, und ein Gedanke, der mir in jenen Tagen kam, war, dass der Corona-Leugner und der Leugner der Grundrechtseinschränkungen verirrte Brüder im Geiste sind. 
Seither ist viel Zeit vergangen, wir haben viele erhellende, bereichernde Gespräche geführt und voneinander gelernt. 
Habe ich etwas zu verlieren, wie die Kommentatorin behauptet? Ich finde, wir alle haben etwas zu verlieren, nämlich unsere Stimme. Die Demokratie lebt von unser aller Mitwirkung, und wir müssen uns wieder häufiger mit Andersdenkenden unterhalten, ihre Weltsicht wertschätzen, auch wenn wir diese Welt ganz anders sehen. Nach meiner frischen Erfahrung können entgegengesetzte Meinungen Menschen auch zusammenführen (sofern man freundlich, dem Gegenüber zugewandt argumentiert). 
Ist es nicht gerade spannend, sich mit einer „exotischen“, „abseitigen“ Meinung zu beschäftigen?

21.8.
Wenig Todesfälle trotz deutlich gestiegener Infektionszahlen. Zwei Theorien geistern durch die Gazetten: Manche Epidemiologen weisen auf das gesenkte Durchschnittsalter der Erkrankten hin. Leuchtet ein, weil sich ja, wenn man den Bescheidwissern glauben darf, ein Großteil beim Eimersaufen am Ballermann ansteckt. Vor Familienfeiern als Hotspots wird allerdings in den letzten Tagen ebenfalls vermehrt gewarnt, und dort befinden sich ja bekanntlich auch Omas und Opas. 
Eine große, verlockende Vision steckt in der zweiten Theorie: Es ist möglich, dass - so verrieten immerhin der Essener Virologe Ulf Dittmer und Virenkönig Christian Drosten - Mutationen die Viren weniger gefährlich werden lassen, und am Ende dieses Prozesses löst Covid-19 nur noch einen schnöden Schnupfen aus. Man stelle sich vor, Theorie zwei würde sich bewahrheiten, 169 Forschungsgruppen arbeiten weltweit rund um die Uhr an einem Impfstoff, Amerika hat die WHO verlassen, die Weltwirtschaft ist ruiniert, dann sind alle Testreihen durch, der Impfstoff fertig, und es heißt: Sag zum Abschied leise Hatschi. 
Die grösste Tragikomödie aller Zeiten, ein Theaterspektakel mit sieben Milliarden Mitwirkenden, immerhin mit Happy-End, einem unerwartet banalen Schlussgag. Anschließend gibt’s einen Untersuchungsausschuss, Peter Altmaier erscheint mit rotgeputzter Nase vor diesem Gremium, und Melanie Huml wird Geschäftsführerin bei Tempo-Taschentücher. Man wird ja wohl noch träumen dürfen. 
Was macht eigentlich Christian Drosten? Vor zwei Wochen schrieb er einen Gastbeitrag für die ZEIT, aber ansonsten hörte ich lediglich, dass er Urlaub macht. Hoffentlich nicht in einem Risikogebiet, das käme in gewissen Teilen der Qualitätspresse nicht sonderlich gut an. Wobei ich ihm Urlaub von Herzen gönne, auch in Toledo oder am Wolfgangsee. 
Ich persönlich hätte allerdings keine Podcast-Pause eingelegt, um diese dann mit einer Sonderausgabe zum Thema Impfstoffsuche zu unterbrechen, sondern ich hätte beinhart durchproduziert. Diese Urlauberei bei den Fachleuten lässt uns potentielle Virenträger ohne Zaumzeug, ohne Führung zurück; wir traben die Waldränder rauf und runter, ziehen die Longe hinter uns her, biegen falsch ab, verirren uns im Wald, verstauchen uns die Hufe, wiehern ängstlich um Hilfe, gehen durch, galoppieren hinkend durchs Unterholz, brechen durch aufs freie Feld, da steht eine Bar auf der Flur. Nichts wie hin. Der Barkeeper nennt sich „der Rudi Carrell von Mallorca“, er reicht uns einen Eimer mit Sangria, und tief tunken wir unsere Köpfe hinein. Gluck, gluck, gluck. Ja, sowas kommt von sowas. 
Also, verehrte Virologen, all Ihr Spezialisten vom RKI, denkt an uns Party-Hengste, ohne Euch sind wir verloren. Ich für meinen Teil werde jedenfalls durchschreiben, ohne Urlaub, bis zum Ende dieser Pandemie, es sei denn, ein trockener Husten schüttelt mir die Feder aus der Hand und bricht mir das Augenlicht - ist doch eine Frage der Ehre! 
Für den Lebensunterhalt sind natürlich andere Tätigkeiten besser geeignet. Im Planschbecken lese ich „Die Presse“. Bester Artikel: Hollywood-Größen verdienen viel Geld mit eigenen Alkohol-Marken. Genannt werden: Ryan Reynolds (Gin), George Clooney (Tequila), Jon Bon Jovi (Roséwein), Bob Dylan (Whiskey), Cameron Diaz (Wein), Sarah Jessica Parker (auch Wein), Kate Hudson (Wodka). Vielleicht sollte ich mich mit Sangria dazugesellen. Oder Haferbrand. Hü!

22.8.
Auf der Hütte bei kitschigem Kaiserwetter. Meine Frau backt einen Zwetschgendatschi im Holzofen von der Oma bei Räuber Hotzenplotz (so jedenfalls stelle ich mir ihren Holzofen vor, wobei ich tatsächliche Kenntnisse nur bezüglich ihrer Kaffeemühle besitze). Das Ergebnis schmeckt himmlisch! Pünktlich, um die letzten zwei Stück zu verzehren, erscheinen unser netter Verpächter und seine Frau. Die beiden erzählen, dass sie unlängst mit einem befreundeten Ehepaar zur Nachbaralm gefahren und von dort zu Fuß zu jenem Bergsee gewandert sind, den ich vor drei Wochen für mein privates nudistisches Badevergnügen entdeckt habe. Na hoppla! In dem See hätten sie aus der Ferne einen nackerten Mann ausgemacht und sich gewundert, wo denn der wohl hergekommen sei. „Das war ich!“ gestehe ich lachend, und im Hinterkopf gehe ich sogleich den dazugehörigen Tagebucheintrag durch: Habe ich womöglich irgendetwas despektierliches über meine lieben Verpächter geschrieben? Das wäre mir maßlos peinlich. Allgemeine Heiterkeit. Vorsichtshalber verlängere ich auf der Stelle den Pachtvertrag fürs nächste Jahr, und zur Heiterkeit gesellt sich die Freude über den Vollzug des Vertragsabschlusses. Eine Flasche Obstler und die Hand drauf. Ja, Handschlag, richtig mit in die Augen schauen. Wenn‘s hart auf hart kommt, vertraue ich einem Handschlag mehr als einem schriftlichen Vertrag, ein flüchtiges Touchieren der Ellenbogen bzw der Fingerknöchel mag zur Begrüßung völlig ausreichen, aber im Wirtschaftsleben vertraue ich lieber auf Pranken-Power, und nicht nur konservative Hanseaten, sondern auch unsere lieben Verpächter sehen das genauso. Anschließend gibt’s eine Runde Schnaps für Gurgel und Hände. 
Dann geht’s um Corona. Wie weiter mit Après-Ski? fragen unsere Gäste, und die Frau des Verpächters seufzt: „Da hängt viel dran“, während sie Daumen und Mittelfinger aneinander reibt. Wie es mir denn beruflich ginge? Danke, gut. Alles, was verschoben wurde, wird nachgeholt, nur Bühnenauftritte seien auch weiterhin problematisch. Im Mai 2021 will ich mit dem Kollegen Bernhard Hoëcker auf Tour gehen, bis dahin sollte sich die Sache beruhigt haben. 
Als die Gäste weg sind, spaziere ich nach ausgiebigem Händewaschen inklusive 3x Happy Birthday mit Leander erneut zum Badesee, wir springen nackt hinein, bewundern die mittlerweile vierbeinigen Larven der Bergmolche, und just als ich die Ruhe, die zuverlässige Menschenleere dieses Ortes preise, tauchen vier Mountainbiker auf, ziehen sich aus und gehen baden, während wir dem Wasser lachend entsteigen. 
Teresa ist mit den Kindern auf der Hütte geblieben, um diese vor allzu großer Sonneneinstrahlung zu schützen.
Als wir von unserem Badeausflug heimkehren, erfahre ich, dass wir das Gatter nicht korrekt hinter uns geschlossen haben und vierzehn Rinder ausgebüxt sind. Teresa habe quasi unsere gesamte Absenz mit dem Einfangen der Tiere zugebracht, die beiden kleinen Kinder auf’m Arm. Mein aufgekratztes Wohlgefühl zerfällt daraufhin in unförmige Scherben, und ich werfe dem Schussel in mir bittere Vorwürfe an den Kopf. Da faselt er von Hanseatentum, preist die Verbindlichkeit des Handschlags und scheitert am kleinen Einmaleins. Subdemente Verträumtheit, der Hochprozentige oder doch ein Sonnenstich? 
Um mich von meinem Ärger abzulenken, glätte ich mich mit einem Rasierhobel, alt wie Oma Hotzenplotzs Kaffeemühle, und die ungelenke Behandlung mit dem schnittigen Oldtimer sorgt für einige markante Wunden. Blut läuft über Kinn und Wangen, und der Tag endet in einem Fiasko in rot. Nun laufe ich mit einer ganzen Rolle Klopapier-Schnipseln zur Blutstillung durch die Gegend, verziehe kaulquappenhaft keine Miene, damit sich die Schnitte schließen können, und freue mich auf morgen. Kann nur besser werden. 
Und man mag dem letzten Satz noch ein „Ich“ voranstellen.

23.8.
Zwei gegensätzliche Botschaften: 
Tim Bendzko gibt in Leipzig Konzerte vor einem Publikum, das medizinisch von Fachleuten der Uniklinik Halle überwacht wird und einmal keinen, einmal ein wenig und einmal 1,50m Abstand einhält. Der Versuch heißt „Restart-19“ und soll, so Bendzko bei der Pressekonferenz, ein „Schritt Richtung Normalität“ sein. Kann man nur hoffen, dass sich wenigstens eine der Abstandsvarianten als ausreichend infektionssicher herausstellt, um Konzerte auf ihrer Basis möglich zu machen. Interessant ist es allemal. 
Die Deutsche Bahn, schlau wie sie ist, verweist lieber auf den Umstand, dass noch kein Zug als Hotspot identifiziert wurde, auch nicht mit heillos überbelegten Waggons. Chinesische Studien deuten zwar durchaus auf ein erhöhtes Ansteckungsrisiko in Eisenbahnen hin, aber das ist eben China und nicht Deutschland. 
Die Ergebnisse, so ein Bahnsprecher, „lassen sich nicht 1:1 auf Deutschland übertragen.“ 
Bendzko und Bahn, zwei Taktiken, ein Ziel: Mit Volldampf zur Normalität; ob Halle oder Hauptbahnhof - Hauptsache voll. 
Ursprünglich haben die Forscher von der Uniklinik übrigens auf 4000 Studienteilnehmer gehofft, eine Zahl, die deutlich unterschritten wurde. Das kann ganz unterschiedliche Ursachen haben, eine davon: Den Leuten fehlt momentan die Lust auf Tuchfühlung. 
Die andere Botschaft: Heute war „Weltüberlastungstag“. Der geht auf eine Kampagne des „Globel Footprint Networks“ zurück und kennzeichnet jenen Tag, bis zu dem die Ressourcen der Erde den jährlichen Verbrauch der Menschen decken. Ab heute leben wir quasi auf Pump. 
Und nu’ kommt’s: Im Jahr der Corona-Krise liegt dieser Weltüberlastungstag drei Wochen später als sonst. Nur drei Wochen. Weil: Man könnte ja durchaus meinen, dass diese Pandemie mit all ihren Lockdowns von Bologna bis Berchtesgaden die Weltwirtschaft stärker runter gedimmt hätte. Mir persönlich wäre ein Weltüberlastungstag frühestens zur Herbstzeitlosenblüte durchaus angenehm gewesen - eine Hoffnung, die allerdings trog. 
Aus Sicht der Erde, ihrer Ressourcen oder auch der nachfolgenden Generationen waren die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie noch lange nicht wirksam genug. Die Richtung stimmte, ja, aber müssen die leeren Straßenbahnen unbedingt weiterfahren? Muss der Strom auch nachts fließen, wenn alles schläft? Würde es nicht völlig ausreichen, wenn TV-Sender erst ab 16 Uhr senden, erst die „Drehscheibe“, dann „Lassie“, dann „Schaufenster am Donnerstag“ - wie in meiner Kindheit? Mir fällt aus dem Stand ein enormes Einsparpotenzial ein. Tartanbahnen? Überflüssig. Sensitive batteriebetriebene Power Fusion Styler Rasierer mit vier Klingen? Können weg. Bommelslipper? Braucht keiner. Am Ende bleibt wenig über, außer Schlafsack, Overall, Zylinderhut, gegebenenfalls Sechsämtertropfen bzw ein Kamm, auf dem man blasen kann. 
Und so konkurriert heute ein herzhaftes „Zurück zum Weiter so!“ mit einem visionären „Weiter zum weitergehenden Zurück!“

24.8.
Championsleague-Endspiel. Das Geisterspiel der Geisterspiele. Oder doch lieber der Tatort aus Langeoog? 
Ich übe am Klavier die Championsleague-Hymne, was ähnlich fettarm und demotionalisiert wirkt wie ein Schlagerspiel ohne Publikum. Katar gewinnt, das steht schon vor Anpfiff fest, und mit Katar assoziiere ich in diesen Zeiten auch nichts anderes als einen Katarrh, eine Entzündung der Atemwege, feuerrot geschwollen wie die Brustpartie des Bayerntrikots. 
Leander fiebert dem Ereignis denn auch mit glasigen Augen entgegen, während mich Spiele ohne Beteiligung Werder Bremens sowieso nicht mehr packen können. 
Fußball, das ist auch nur so ein verkrampfter Exorzismus: Ein rundes, unausrottbares Objekt mit angerauter Oberfläche, ursprünglich vom Rind übergesprungen, dann künstlich mutiert, wird von jungen, immunstarken Männern rituell getreten. Wenn das Runde im Eckigen landet, werden Aerosole ausgestoßen, aber manchmal infizieren sich Stürmer, dann haben sie die Seuche. 
Als Mittel für die Gesundheit ist das Spiel wirkungslos: Nur selten gelingt es den Tretern, die widerstandsfähige Kreatur zu beschädigen, und klappt dies doch einmal, fliegt binnen Sekunden ein neues Exemplar heran. 
Eigentlich hätte ich in dieser Saison auf andere Vereine getippt: Deportivo La Coroña, SV Tönnies 04 und Austria Ischgl sind die Clubs der Stunde, aber nun gut. Das Spiel ist ein fernes Spektakel, zumal ich erneut ganztägig mit Berufsberatung für bzw. mit Leander beschäftigt bin. 
Am Anfang steht die Frage: Wie lange geht die Krise noch? Ich gehöre immer mehr zu jenen, die sich ein baldiges Ende des Ausnahmezustandes nicht vorstellen können. Kann ja sein, das nächstes Jahr ein Impfstoff parat steht, aber bis Bühnenkünstler wie meine Frau und ich wieder vor vollen Häusern auftreten können, muss das Publikum ja erstmal wieder Vertrauen fassen. Und das kann dauern. Zwei, drei, fünf Jahre? 
Zu Weihnachten war bei uns das Klo verstopft, leider jenes im Obergeschoß, die Suppe lief über und die Treppe runter ins Wohnzimmer. Ich rief jene Nummer an, die im Internet als erste genannt wird (ein Fehler, wie ich heute weiß), und bald erschien eine angebliche Fachkraft, des Deutschen nicht mächtig. Ist ja egal, dachte ich, er ist ja nicht hier, um mir die Weihnachtsgeschichte zu erzählen, sondern er soll unser Problem lösen, das sich auch ohne Worte selbst erklärt. 
Ich spreche als Laie, wenn ich sage, dass er mit einem Mix aus Morgenstern, Duschschlauch und Ölbohrkopf an die Arbeit ging. 
Ein Stockwerk tiefer, im Wohnzimmer, hatte die Flut eine Gezeitenlandschaft geformt, aus der einzelne Halligen mit Warften herausragten, auf denen wir uns für die Bescherung versammelten und geistige Lieder sangen, vor allem von Schemelli/Bach. 
Bald darauf war der Sanitärnothelfer fertig und drückte uns eine schwer leserliche Rechnung in die Hand. Was relativ gut erkennbar war: Die zu zahlende Summe in Höhe von 900€ für eine halbe Stunde Arbeit plus 200€ Feiertagszuschlag. Natürlich unterschrieb ich dankbar und verbrachte den Rest des heiligen Abends sowie die Tage bis zum Jahreswechsel mit Putzen, und während der von wütendem Zittern intensivierten Wischbewegungen reifte der Gedanke, dass ich, wenn ich denn dereinst umschulen müsste, den Job des Gas-Wasser-Scheiße-Fachmannes anstreben sollte, auszuüben tunlichst nur an hohen Feiertagen - reicht völlig. 
Ja, die Sache klingt krisensicher. Aber vielleicht ist auch diese Sicherheit nur trügerisch, und in den strengen, chronischen Lockdowns der Zukunft geht es allen Handwerkern wie den Friseuren. Als warnendes Beispiel taugen gegenwärtig die Pflegekräfte: Die Arbeitslosigkeit ist in dieser Berufsgruppe seit Jahresbeginn um 20 Prozent gestiegen, in der Altenpflege liegt die Arbeitslosenquote nunmehr bei 4,9%. Ende Juni suchten 65.000 Alten- und 23.000 Krankenpfleger einen Job. 
Nein, es gibt offenbar nur einen einzigen wirklich krisensicheren Job: Fussballprofi. 
Wie ging das Finale eigentlich aus?

25.8.
Es war der Tag, an dem Donald Trump vorschlug, Desinfektionsmittel intravenös zu verabreichen. 
Alle Welt stöhnte und höhnte. 
Inspiriert vom schönen Bild eines tollkühnen Trump-Anhängers, der sich mit einer überdimensionierten Spritze blaues Putzmittel in die Vene jagt, dachte ich an mein Mundwasser, eine lila Flüssigkeit mit brennender Schärfe, zu dessen deutscher Markteinführung, wenn ich mich recht erinnere, passender Weise Henry Maske als Werbeträger gewonnen werden konnte. 
Ich behauptete, mich mit lila Listerine vor Corona zu schützen, was insofern richtig war (und ist), als dass ich tatsächlich allabendlich damit gurgle und bisher von Covid-19 verschont geblieben bin. 
„There is no glory in prevention“, wie wir Vorsorge-Cracks zu sagen pflegen, und dass ich ein Crack bin, weiß ich spätestens seit gestern. 
Leute, öffnet den Kragenknopf, fasten your seatbelts, Trommelwirbel, und Action!
Im „Ärzteblatt“ las ich, dass ein Wissenschaftlerteam mit Mitgliedern von verschiedenen deutschen Universitäten kommerziell erhältliche Mundspüllösungen auf ihre Wirksamkeit gegen SARS CoV-2 hin unter Laborbedingungen untersucht haben. 
Nach einer Expositionszeit von 30 Sekunden konnte das Corona-Virus inaktiviert werden. 
Alle SARS-CoV-2-Stämme erwiesen sich als hochempfindlich gegen die Mundspülungen, drei der 12 getesteten Produkte eliminierten die Viren sogar komplett, so dass diese nicht mehr nachgewiesen werden konnte. 
Auch die anderen Präparate erwiesen sich als potent viruzid, nur eine einzige Lösung (Wirkstoff: Polyhexamethylenbiguanid) schnitt etwas schlechter ab und erzielte eine nur moderate Reduktion der Virenlast. 
Ehe die Forscher dreißigsekündiges Gurgeln als Weg aus der Krise empfehlen können, sind jedoch zuerst klinische Tests vonnöten, wie das Team um Erstautorin Toni Luise Meister, Virologin an der Ruhr-Universität Bochum mitteilte. 
Ich werde die klinischen Tests nicht abwarten, sondern weiterhin fleißig der Dekontamination meiner Mundhöhle entgegen gurgeln. 
Ergänzt um eine Nasendusche könnte sich ihr ein für alle gangbarer Weg zur Selbsttherapie im frühen Stadium einer Corona-Infektion abzeichnen. Wer partout kein Mundwasser mag, sollte sein Glück mit Schnaps versuchen; ich könnte mir vorstellen, dass auch ein weicher Chantré, ein Asbach Uralt oder die bewährten Sechsämtertropfen Corona den Garaus machen. 
Allzu schnell mag man nun an einen Brillenträger denken, der sein Nasenfahrrad sucht. In allen Zimmern, allen Winkeln, fieberhaft. Er sucht im Keller, unterm Bett, in Kasserolle und Briefkasten, und schließlich findet er sie auf der Nase. 
Allein: Die Geschichte ist autobiographisch, ich habe sie schon manches Mal erlebt, bin ferner der Typ, der Koffer auf Gehwegen und Kuhgatter offen stehen lässt, und niemand hat mehr Verständnis für einen Pharmakologen, der beim Gedanken an Mundwasser müde die Augen verdreht und sich stattdessen lieber Monophosphoramidat-Prodrugs wie Remdesivir zuwendet, als ich. 
Aber immerhin, liebe Freunde, wissen wir jetzt, wie der R-Wert gesenkt werden kann: Gurgeln statt Googeln, und alles wird gut.

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/115497/Kommerziell-erhaeltliche-Mundspuelloesungen-inaktivieren-SARS-CoV-2-im-Labor

26.8.
In München wird der Konsum von Alkohol im öffentlichen Raum nach 23 Uhr verboten, sofern die Neuinfizierten-Rate den Wert von 35 pro 100.000 Einwohner, gemittelt auf sieben Tage,  überschreitet. 
Lediglich die Fraktion „Die Linke/die Partei“ wollte die Maßnahme „zum gegenwärtigen Zeitpunkt so nicht mittragen“, alle anderen Teilnehmer des runden Tisches waren dafür. 
Spontan begrüße ich das Saufverbot, aber nicht wegen Corona, sondern weil ich die frischen Bilder der Parkbänke am Nymphenburger Kanal am Morgen nach dem Champions-League-Sieg im Kopf habe: Überall leere Halbe, vornehmlich Augustiner. Mir fällt ein Frühwerk der „Doofen“ ein, nämlich „Bring mal die Flaschen weg“ (dann sehen wir weiter/so hat das gar keinen Zweck/du wirst immer breiter/das Leben ist schön/auch ohne Alkohol in der Hand/und was ist schon dagegen Flaschenpfand). 
Immerhin sind die Hinterlassenschaften der Feiernden in München fein säuberlich aufgereiht und nicht zerdeppert wie in proletarischer geprägten Metropolen. 
Ich führe eine Liste, wieviele Platten ich beim Radeln in der Stadt Köln Glasscherben zu verdanken hatte; aktuell bin ich bei sechs Pannen. Als passionierter Radler begrüße ich jede Maßnahme, die mich davor bewahrt, im spätherbstlichen Feierabendverkehr das Hinterrad zu demontieren. 
Abgesehen davon bin ich gespannt, ob auf diese Weise Corona-Infektionen spürbar bekämpft werden können. Wer will, findet einen Weg - das gilt insbesondere für jene, die sich gemeinsam einen hinter die Binde kippen wollen. Die Geschichte des Pharisäers fällt mir auch sogleich ein, der mit Rum frisierte Kaffee, welcher den abstinenzbegeisterten Friesenpfarrer einst zu seiner namensgebenden Tirade veranlasste. 
Wäre ich ein entschlossener Schluckspecht, würde ich einen Camel-Bag mit Ruckedigu Hausmarke füllen und heimlich unterm Frack tragen. Sollte aber die Maßnahme tatsächlich dazu führen, dass Kindertagesstätten und Schulen geöffnet bleiben, empfehle ich fürderhin uns allen einen guten Gänsewein und drücke dem Oberbürgermeister und seinen Schützlingen die Daumen - auch wenn es gerade heute viel zu feiern gäbe, etwa den 50. Geburtstag von Claudia Schiffer. 
Persönlich bin ich ihr nie begegnet, aber eine gewisse Verbindung gibt es doch: Im Doofen-Video zu „Nimm mich jetzt, auch wenn ich stinke“ sollte sie ursprünglich mitspielen. Als sie unsere Bitte dankend ablehnte, buchte die Produktionsfirma ein Model aus Miami, das Frau Schiffer - entsprechend geschminkt - ziemlich ähnlich sah. In gewisser Weise eine Mogelpackung, so wie ein Pharisäer. Drei Jahre nach dem Dreh lernte ich bei einer freucht-fröhlichen Privatparty ihren damaligen Deutschland-Manager kennen, der erzählte, im Nachhinein seien er und Frau Schiffer mit ihrer Absage nicht ganz glücklich gewesen. Einerseits hörte ich dies natürlich gern, andererseits ist es das Wesen feucht-fröhlicher Partys, dass zu vorgerückter Stunde die bizarrsten Geschichten erzählt werden, über deren Wahrheitsgehalt gar nicht erst nachgedacht werden sollte. Und wenn ich’s so recht überlege, bin ich mir gar nicht sicher, ob ich mich wirklich mit ihrem Manager unterhalten habe. 
Ob Claudia Schiffer schonmal Pharisäer getrunken hat? Ich erst einmal, 2017 vormittags beim Warten auf die Fähre am Bahnhof Norddeich-Mole. Den ganzen Tag über kniff ich daraufhin die Augen zusammen und kämpfte gleichzeitig gegen Müdigkeit und Herzrasen - eine Turbovariante jener Doppelemotion, die mich seit Beginn dieser Pandemie begleitet. 
Was rede ich hier eigentlich für’n Zimt? Afrika ist poliofrei. DAS ist ein Grund zum Feiern! Prost!

27.8.
Der Berliner Senat hat die „Querdenker“-Demo am kommenden Wochenende verboten. Innensenator Geisel (SPD) berief sich auf die Erfahrungen mit der Demo am 1.8. und führte zur Verbotsbegründung an, dass man mit Verstößen gegen Masken- und Abstandspflicht rechnen könne. 
Gut, dieses Argument leuchtet mir ein, wobei ich als Jura-Laie nicht weiß, ob schlechte Erfahrungen oder die bloße Annahme, dass gegen geltende Regeln verstoßen werden, Demonstrationsverbote rechtfertigen. 
Ferner sagte Geisel: „Dies ist keine Entscheidung gegen die Versammlungsfreiheit, sondern für den Infektionsschutz“. Ja, ich hab‘s inzwischen begriffen. Der Infektionsschutz thront über allen anderen Rechtsgütern, auch über den Kommunikationsgrundrechten. Ich brauchte ein Weilchen, bis ich verinnerlicht hatte, dass dem Grundgesetz nicht nur eine feierliche Präambel, sondern auch ein ernüchternd relativierendes Fuder Kleingedrucktes anhängt - davon hatte mir in Gesellschaftskunde kein Lehrer etwas erzählt (aber damals gab’s ja auch keine Pandemie). 
Anschließend betonte Geisel: „Ich bin nicht bereit, dass Berlin ein zweites Mal als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird“. 
Zunächst: Reichsbürger und Rechtsextremisten mögen Verfassungsfeinde sein, sie genießen nichtsdestotrotz ebenso Versammlungsfreiheit wie alle anderen Menschen auch - es sei denn, sie sind in Parteien organisiert, die verboten sind. Corona-Leugner kann man für Knallköppe halten oder Realitätsverweigerer oder crazy, aber auch sie genießen zweifelsfrei Versammlungsfreiheit. Ich könnte mir wesentlich absurderen Quatsch ausdenken, etwa, dass ich für Grünkohl und Pinkel als Schulessen demonstriere, und zwar in ganz Südostasien, oder dass es uns Menschen gar nicht gibt - na und? 
Das Bundesverfassungsgericht hat 1985 erläutert, dass die Versammlungsfreiheit „ein unentbehrliches Funktionselement eines demokratischen Gemeinwesens“, und „ein Regulativ zur Vermeidung von Staatsverdrossenheit und Ohnmacht“ ist. 
Und für genau dieses Regulativ scheint es momentan einen Bedarf zu geben. 
Meine Nachbarin Anneliese, Mutter von zwei Kindern, wollte an der nun verbotenen Demo teilnehmen. Ihrer Meinung nach opfert man die Generation der Kinder für den Gesundheitsschutz. Da sie selber überdurchschnittlich gesundheitsbewusst lebt und beim Infektionsschutz auf Eigenverantwortung setzt, steht sie den Corona-Massnahmen kritisch bis ablehnend gegenüber. 
Ich teile Annelieses Haltung nicht, würde erst recht nicht an einer Demo teilnehmen, auf der Ordnungswidrigkeiten zum guten Ton erklärt werden und Reichsbürger & Co olle Fahnen schwenken, aber: Leuten wie Anneliese das Versammlungsrecht zu verweigern, ist keine schlaue Idee. 
Die Betroffenen werden sich wahrscheinlich radikalisieren, viele werden sich in der Bundesrepublik Deutschland noch weniger zuhause fühlen als zuvor. 
Hat sich Berlins Innensenator auch darüber Gedanken gemacht, wie man die Bisher-nicht-Radikalen wieder zurückholt in den Schoß der Gesellschaft? Oder ist’s ihm egal, setzt er ausschließlich auf die Zustimmung aus dem eigenen Lager? 
Tausende Menschen, dicht gedrängt, eventuell ohne Mundschutz, sind ein Grund zur Sorge, und wenn der Infektionsschutz ein Verbot unausweichlich macht (und daran habe ich gewisse Zweifel, nachdem ich meinen Kinderwagen gestern durch die bummsvolle Münchener Innenstadt geschoben habe, was offenbar völlig ok ist), dann hätte ich‘s beim Hinweis auf das Infektionsschutzgesetz belassen und nicht das „Gegen Rechts“- Fass aufgemacht. Zum einen ist umstritten, wie groß der Anteil Rechtsradikaler am Demonstrationszug ist, zum anderen ist damit vorgegeben, mit wem sich die Frustrierten der Mitte zukünftig solidarisieren werden. 
Die „Rechten“ dürften sich die Hände reiben, womöglich auch ohne Wasser und Seife.
Ich gehöre zu den 90%, die den ganzen Tag „Happy Birthday“ singend sämtliche Anti-Corona-Massnahmen mittragen, und ich halte mich für tolerant genug, auch ein paar „Querdenker“ zu ertragen.  
Und wer hat Berlin nicht schon alles als Bühne benutzt? Brecht, Hitler, David Hasselhoff - da kommt’s auf Anneliese auch nicht mehr an.

28.8.
Mal wieder unterwegs mit der Deutschen Bahn. Keine Maskenverweigerer, die einen außerplanmäßigen Halt erzwingen, keine Verspätung, es gibt zwei Sorten Sandwiches, kurze Aufregung nur, als ich zweimal in die eigene Maske niesen muss. Ich stammle „Photosensitiver Reflex“, dann schauen die Mitreisenden wieder auf ihre Smartphones, genau wie ich. 
Mit leicht erhöhtem Puls verfolge ich die Reaktionen auf meinen gestrigen Kommentar zum Verbot (oder wie sagt man? Der Begriff ist falsch, werde ich belehrt) der „Querdenker-Demo“ in Berlin. Ich muss nur wenige Beleidigungen einstecken und werde nur vereinzelt entfreundet. Immerhin äußern sich alle Seiten ausgiebig und lernen sich ein wenig kennen, interblasional quasi. 
Bisweilen beschleicht mich der Eindruck, die Debatte verlaufe in dieser Angelegenheit mit einzigartiger Härte, aber das stimmt natürlich nicht. Immer gab es Fragen, die die Menschen entzweiten. Mein Opa, der im ersten Weltkrieg an fast allen großen Schlachten im Westen teilnahm, traumatisiert heimkehrte und im zweiten Weltkrieg einen Sohn verlor, war zB ein erbitterter Gegner der Wiederbewaffnung und schmiss sich mit Verve in die Diskussion. Hätte es damals fb gegeben, wäre er sicher regelmäßig geblockt worden. 
Auftritt mit Bernhard Hoëcker („Gute Frage“)  in Hückelhoven-Hilfrath, nahe der Karnevalshochburg Heinsberg. Wir treffen auf eines dieser wackeren Veranstalter-Teams, die sich mit vollem Einsatz in die Corona-Schlacht werfen. Immerhin haben sie einen Saal, der gut gelüftet werden kann - das ist heutzutage Gold wert. Warum Männeken Piss nie groß muss? Wer deutscher Bundeskanzler wird? Wie das Periodensystem der Elemente entstanden ist? (Am Anfang war da nur ein H, dann kam jemand ins Arbeitszimmer und sagte O, der nächste Besucher hatte ein schlecht sitzendes Gebiss und meinte Ph, und so fort...). 108 Gäste sind zugegen, der Abend wärmt unsere Herzen, und vor und nach dem Auftritt planen wir phantastische Tourneen, etwa die „Gipfel-Tour“ (auf die höchsten Gipfel der deutschen Bundesländer; soll eigentlich im nächsten Mai stattfinden) und die „Zipfel-Tour“ (List auf Sylt, Oberstdorf, Görlitz und Selfkant, 2022). Wenn, ja wenn Corona uns lässt. 
In der Pause sehen wir uns gemeinsam Laschets Pressekonferenz an. Ob fünf Tage Quarantäne ausreichen, fragen wir uns? Müdes Schulterzucken. Differenzierte Regelungen für die einzelnen Bundesländer erscheinen mir hingegen schlüssig, 
Vor der Gaststätte, in der wir auftreten, stehen Straßenbäume, die wir noch nie gesehen haben. Es sind, wie uns eine Bestimmungs-App verrät, Baumhaseln - eigentlich aus der Türkei und Rumänien und erklärte Dürre-Spezialisten. Eine Art, die aufgrund des Klimawandels zunehmend bei uns angepflanzt wird, ähnlich wie die Libanon-Zeder. 
Ja, wir werden uns an einiges gewöhnen müssen, vom andauernden Verbot großer Veranstaltungen bis zum flächendeckenden Einsatz dürreresistenter Bäume. 
Der Kreis Heinsberg ist übrigens eine Reise wert: Die Heimat Gerhard Mercators, der in all seine Karten seinen Heimatort Gangelt eintrug. Und Epizentrum des letzten wuchtigen Erdbebens in Mitteleuropa, 1992. Kann ich mich noch gut dran erinnern: Ich lag in Hürth im Bett und meinte im Halbschlaf, ein besonders schwerer LKW fahre am Haus vorbei, und am nächsten Morgen war ein selbstgemaltes Ölporträt von Ilja Rogoff von der Wand gefallen. 
Ich sage schon mal voraus: Heinsberg wird als Urlaubsziel trenden. 
Bald, Freunde, bald.

29.8.
Für die Welt der Reklame ist Corona eine feine Sache: Zum einen verbringen die Leute mehr Zeit vor Bildschirmen aller Art, zum anderen kann man auch bei einigermaßen subtilen Anspielungen davon ausgehen, dass jeder sie versteht. Beispiel Globetrotter. Der Outdoor-Spezialist verkündet: „Hauptsache draußen!“
Wäre ich Schuhfabrikant, würde ich meinen Luftpolsterschuh mit einer Aerosohle versehen, aber das ist gewiss Geschmackssache.
Zudem kann man die ersehnte Aufmerksamkeit momentan auch dadurch erzielen, dass man sich keine kreativen Claims einfallen lässt, sondern gerade dies nicht tut, so wie Kentucky Fried Chicken, der Hähnchenbrater, der nach 65 Jahren auf „it’s fingerlickin’ good” verzichtet - temporär, bis ein Impfstoff (oder ein anderer Weg aus der Krise) gefunden ist. 
Bei Ferrero werden sie sich ärgern, dass sie „Guten Freunden gibt man ein Küsschen“ nicht ähnlich öffentlichkeitswirksam außer Betrieb genommen haben. 
Ich sitze schon wieder im Zug, auf dem Weg nach Brandenburg an der Havel. Mit Jürgilein vom Institut für Putzpoesie hole ich am Samstag jenen Auftritt nach, der eigentlich im Juni stattfinden sollte und einem Unwetter zum Opfer fiel. Jetzt ist der Auftritt in die Theaterklause verlegt worden, wegen erneut unsicherer Wettervorhersage und weil der Kreis der Lyrikfreunde seit Juni an Umfang verloren hat, wie eine Lassoschlinge, die um einen goldenen Kalbskopf gelegt und zugezogen wurde. 
Angela Merkel zählte bei ihrer Sommer-Pressekonferenz denn auch freundlicherweise die „Künstler“ zu den Opfern der Pandemie. Naja; als begabter Schönredner lehne ich es eigentlich ab, mich mit einem Intensivpatienten in einen Topf werfen zu lassen. Ich bin schon vor 12 (Leipzig 2008), acht (Duisburg 1998) und null Zuschauern aufgetreten (Paris 2013), und das war lange vor Corona! 
Den Auftritt an der Seine habe ich in bester Erinnerung: Mit Roberto Di Gioia gastierte ich im „Les Chansonniers“ in Belleville, im Programm hatten wir Barockjazz, deutschsprachige New Wave und indische Bassblockflöten/Sitar-Duette, und wir machten uns einen Spaß daraus, mit genauso viel Einsatz zu Werke zu gehen wie in der vollen Carnegie Hall. Später, nach zwei Zugaben, kam illustre Laufkundschaft in den Club, wir spielten das ganze Programm nochmal, und eine zünftige Party schloss sich an. 
Ja, die Welttournee war travolgent. 
In Offenbach spielten wir im Rock-Hudson-Saal, in New York im Chuck Knuckles in Brooklyn, und am Times Square versuchten wir uns überdies als Straßenmusiker, mit unserem indischen Repertoire und prächtigen Turbanen. Wir verdienten nichts, keinen einzigen Dime, aber ab und zu kamen Inderinnen und lachten uns vergnügt an. Später erfuhren wir, dass unsere Turbane in Indien ausschließlich heiratswilligen Junggesellen vorbehalten sind. Heute gilt das, was wir damals machten, als „Cultural Appropriation“ und ist politisch unkorrekt - womöglich geschah uns unser finanzieller Misserfolg zurecht. 
Immerhin haben wir in Manhattan den berühmten nackten Cowboy mit seiner Wandergitarre kennengelernt, außerdem eine Micky-Maus-Darstellerin aus Guatemala, die kein Wort Englisch sprach. Eine weitere junge Dame aus Puerto Rico versuchte unserem Geschäft als „Managerin“ mit Hut auf die Sprünge zu helfen - ohne Erfolg. 
Fest steht: Wer solch eine Welttournee überlebt, ist gegen Corona lebenslang immun, und das gilt für uns und unser Publikum (alle Personen sind uns namentlich bekannt, ohne dass sie sich hierfür in irgendwelche Kontaktlisten hätten eintragen müssen).

30.8.
Während in Berlin „Querdenker“ und Polizei um Masken und Abstände ringen, schippern Jürgen, mein Sohn Leander und ich ganz gemütlich mit einem Ausflugsdampfer über Beetz- und Plauer See. In Anbetracht der weiten Himmel, glitzernden Wasserflächen und der hausgemachten Bratensülze verschwindet Corona fast aus unseren Köpfen. 
Als wir die Niederhavel entlang tuckern, registrieren wir die enorme Ähnlichkeit des Flusses mit den Nebenarmen des Mekong und malen uns vergnügt aus, hier einen Film zu drehen, der während des Vietnamkrieges spielt, ähnlich wie Apokalypse Now, nur eben, statt mit Marlon Brando, mit Marlon Brandenburg. 
Über Ho-Tschi-Minh finden wir denn doch wieder zum Thema, und zwar indem wir feststellen, dass es auch lustig gewesen wäre, in Berlin eine parallele Kundgebung anzumelden, auf der wir mit angeklebten Bärten „Ha-Ha-Hatschi-Minh“ skandiert hätten. Unser Unernst verrät wieder einmal übermäßige Sonnenexposition über viele Stunden - vielleicht aber auch eine gewisse Resignation beim Versuch, sich ernsthaft den Fakten zu widmen, weil diese gar zu entmutigend sind. In USA zB hat sich ein junger Mann zum zweiten Mal mit Corona infiziert. Die erste Erkrankung, im April, verlief milde, die erneute heftiger. Es handelt sich um unterschiedliche Virenstämme, und bang frage ich mich, wie wirksam denn eine Impfung sein mag, wenn die eingeimpfte Immunität nur wenige Virenstämme oder gar nur einen einzigen abdeckt. Ein befreundeter Medizinprofessor teilte gestern zudem mit, dass mit einer Mutation, die zur Harmlosigkeit von Covid-19 führe, nicht kurzfristig gerechnet werden könnte. Dieser Prozess dauere gewiss mehrere Jahre. 
Die Nachrichtenlage, ich sag’s mal ganz vorsichtig, macht ein baldiges Ende der Krise nicht eben wahrscheinlicher. 
An dieser Stelle möchte ich eine Mail einflechten, die mich persönlich erreichte. Ein Leser wies mich darauf hin, dass es der „Welt der Reklame“ keineswegs so gut gehe, wie ich gestern behauptet habe, sondern dass die Branche in Nöten stecke und viele Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken musste. Natürlich, das ist mir bewusst; ich wollte eigentlich nur ein bisserl ironisieren, aber nichts zeigt die Verzweiflung, die sich dieses Wirtschaftszweiges bemächtigt hat, besser, als wenn ausgerechnet die Werber keine Ironie mehr verstehen. 
Leute, mein Mitgefühl habt Ihr! Ich möchte gar niemandem zu nahe treten, der zum Zwecke des Gesundheitsschutzes Haus und Hof verliert. 
Der abendliche Auftritt in der Theaterklause macht immens viel Spaß. Es fällt auf, dass das Publikum sich hier deutlich entspannter mit Corona arrangiert als bei uns dahoam, Potzblitz, ausgerechnet im preußischen Kernland. 
55 Gäste machen wunderbar mit, mehr geben die Bestimmungen nicht her, und ich bin beim Wiederlesen baff, wie gut das „Institut für Putzpoesie“ zur Krise passt, thematisieren unsere Texte doch nicht nur Brühwürfel und Bärte, sondern auch Spuckschutzverglasungen, Handhygiene, sanitäre Anlagen und immer wieder den Tod. Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich uns glatt hellseherische Qualitäten zuschreiben. Nach der Performance träumen wir bei einem Bier (draußen, Luxus) davon, regelmäßig aufzutreten, am besten immer in Brandenburg, vielleicht auch nebenan, im großen Haus. Wundervolle Vorstellung - beim angeklebten Barte des Propheten.


31.8.
Wie bedrohlich ist das, was im wärmenden Abendlicht der untergehenden Avocado auf den Treppen des Reichstagsgebäudes passierte, für unsere Demokratie? 
In meinem Bekanntenkreis läuten laut die Alarmglocken, viele meiner Freunde wähnen uns in einer letzten Abwehrschlacht gegen die braunen Horden.
Ich jedoch plädiere für mehr Gelassenheit. 
Um nicht missverstanden zu werden: Eine wesentliche Gefahr für unser Gemeinwesen kommt von populistischen, rechtsradikalen Bewegungen. Ihnen deutlich entgegenzutreten, ihre Klientel freundlich und mit guten Argumenten für die Demokratie, für Toleranz und Menschenrechte zu gewinnen bzw. zurückzugewinnen, ist eines meiner liebsten Hobbys. 
Zudem ist ein Angriff auf den Deutschen Bundestag ein Angriff auf uns selbst und nicht akzeptabel. 
Aber ich bin ganz sicher: Alle "Sturm"-Phantasien werden scheitern; die Idee der Rechtsaußen-Aktivisten, sich dem Corona-Protest anzuschließen, wird nicht von Erfolg gekrönt sein. 
Warum?
Ausnahmslos alle Umfragen kommen zu dem Ergebnis, dass die erdrückende Mehrheit der Deutschen die wesentlichen Maßnahmen gegen Corona mitträgt, auch Abstands- und Maskenpflicht. 
90% der Deutschen halten den derzeitigen Kurs für angemessen bzw zu lasch, und die restlichen 10% sind, wie man in Berlin am Wochenende besichtigen konnte, ein äußerst bunter Haufen. 
Der klassische Anhänger rechter Parteien erwartet von diesen vor allem Sicherheit, und dazu gehört auch Schutz vor übertragbaren Krankheiten. 
Ich habe bis heute nicht kapiert, welche strategische Überlegung die AfD dazu gebracht hat, ihr Heil im Corona-Protest zu suchen; wahrscheinlich war der Ansatz, sich mit den Frustrierten, den Corona-Verlierern, den Impfgegnern zu verbünden, unausgegoren. 
Einen Zuwachs jenseits der 10% wird der parlamentarische Arm der Rechtsradikalen jedenfalls in diesem Revier nicht erjagen können - nicht nur ist die Beute unpassend, sondern das Revier ist darüberhinaus zu klein. Mehr noch als in der Flüchtlingskrise ist der Ruf „Wir sind das Volk!“ unglaubwürdig, nein, am großen Stern, vor der russischen Botschaft und am Reichstag war er absurd. 
Wahrscheinlich wird die AfD durch Corona verlieren. Aus ihrer Sicht wäre es womöglich sinnvoller gewesen, striktere Maßnahmen einzufordern.
Verlierer des Wochenendes sind aber auch all jene, die nach Berlin reisten, weil sie die Corona-Strategie für langfristig unwirksam halten oder sich Sorgen um die Schulbildung ihrer Kinder, um ihre wirtschaftliche Existenz machen oder die ihre Liebsten in Heimen und Krankenhäusern endlich wieder besuchen wollen. All diese versprengten Grüppchen haben keinen Anwalt in der Politik, keinen Draht zu den Medien; die rationaleren unter ihnen werden neue Wege finden müssen, wofür eine glaubwürdige Abgrenzung nach Rechtsaußen unverzichtbar ist. 
Wer weiß? Vielleicht erkennt die AfD eines Tages ihre strategische Verirrung und schlägt einen neuen Weg ein, fordert präventiven Herbst-Hausarrest und eine Impfkooperation mit Putin: Sputnik V für alle. Nicht nur rechtsaußen wird derzeit gegrübelt; gerade neulich traf ich einen Freund, der, eigentlich eher „links-grün-versifft“ (seine Wortwahl), im Lockdown zum Söderaner geworden ist, und der mir „beichtete“ (ebenfalls seine Wortwahl), dass er ein Interview mit Sucharit Bhakti gesehen habe und anschließend zweifelte: „Was, wenn Bhakti doch recht haben sollte?“ 
Einen Moment lang wähnte ich mich einem Vertreter der vatikanischen Glaubenskongregation gegenüber oder einem Politbüromitglied bei einer Diskussion über Walter Janka, den Spanienkämpfer und angeblichen Konterrevolutionär, dann räusperte ich mich, tilgte alle verfehlten Vergleiche aus meinen Gedanken, zuckte größtamplitudisch mit den Schultern und feilte lange an einer möglichst abgewogenen, sachlichen Antwort. 
Und diese lautete: Ich habe keine Ahnung.

1.9.
Familienbesuch. Eine Nichte studiert in Stockholm. Wie werde denn dort die Lage beurteilt? „Kommt drauf an, ob man ausländische Medien verfolgt oder nur schwedische“. Warum? „In schwedischen Medien war Corona immer nur ein Thema unter vielen. Das führte zB dazu, dass im Frühling genau zwei Schulen geschlossen wurden: Die deutsche Schule, auf Druck der Eltern und Lehrer, und interessanterweise jene Schule, die von Prinzessin Estelle besucht wird“. 
Wurde der Kurs von Anders Tegnell nie hinterfragt? „Doch, es gab Diskussionen, denn im Frühling starben die alten Leute in den Altersheimen und Krankenhäusern wie die Fliegen. Als Resultat der Diskussion wurden zB Besuche dort eingeschränkt. Seither ist es eher ruhig“. 
Wie ist der grundsätzlich andere Umgang mit Corona erklärbar? „Das Verhältnis zwischen Bürger und Staat ist in Schweden sehr anders als bei uns. Eine Empfehlung der Regierung wird ähnlich beflissen befolgt wie hierzulande ein Gesetz“. 
Ist der Unterschied in den Resultaten also gar nicht so groß? „Doch, sehr groß. Wenige trugen oder tragen Masken - allerdings kommt demnächst eventuell eine Maskenpflicht in der U-Bahn. Restaurants hatten normalerweise geöffnet, auch Partys fanden statt wie gewohnt. Es gab auch kaum Einschränkungen für die Wirtschaft“. Aber Schweden ist wegen seiner exportorientierten Wirtschaft kaum glimpflicher durch die Krise gekommen als der Rest der Welt, oder? „Der Rückgang des BIP war auch in Schweden gewaltig, aber es gibt einen großen Unterschied: Weil die Regierung nichts verbot, gibt es auch kaum Anspruch auf Entschädigung. Das schont die Staatskasse“. 
Und wie geht’s jetzt weiter? Was passiert, wenn’s im Herbst Infizierte an Schulen gibt? „Wer krank ist, bleibt zuhause. Es wird jetzt zwar viel mehr getestet als im Frühling, aber dass man eine komplette Schule wegen Corona schließt, wird’s in Schweden wohl eher nicht geben. Aber man kann die schwedischen Verhältnisse mit den deutschen eh nicht vergleichen“. Warum? Wegen der dünneren Besiedelung? Weil die Leute sowieso mehr Abstand halten? „Letzteres ist Quatsch; in schwedischen Clubs wird genauso eng getanzt wie anderswo. Ja, auf dem Land ist mehr Platz, aber Infektionen gab es auch in den abgelegensten Dörfern. Da fragte man dann: Wer war das? - und kam in der Regel auch dahinter. Ein wichtiger Faktor ist aber auch: Die Schweden sind viel mehr draußen als die Deutschen, treiben mehr Sport und sind grundsätzlich gesünder.“ Gibt es denn Proteste gegen die Regierung, so wie bei uns? „Nein“. 
Darf ich das so zitieren? Als Interview, anonymisiert? „Na klar, warum anonymisiert?“ 
Egal, was man über Schweden schreibt, manche Leute regen sich drüber auf. Ist ein potenter Trigger, besser als „Kapselkaffee“, fast so gut wie „Mit Badelatschen auf’n Berg“.
Meine Schwester (führt betriebsärztliche Untersuchungen durch und trägt ganztägig FFP2-Maske) berichtet anschließend von der Begegnung mit einem Maskenverweigerer. Sie: „Wenn ich sie untersuchen soll, müssen sie eine Maske tragen. Das ist Vorschrift“. 
Er (zwei Meter groß, baut sich extra nah vor meiner Schwester auf): „Warum sollte ich das tun?“
Sie (etwas kleiner als ich): „Wegen Corona!“
Er: „Haben sie schon mal ein Corona-Virus gesehen?“
Meine Schwester: „Äh...ich weiß nicht, was sie für Augen haben...ich kann so kleine Objekte nicht erkennen...“ 
Sie ist drauf und dran, mit ihm in einen Diskurs einzutreten. Dann überwiegt die Aussicht auf den nahen Feierabend, und sie kürzt ab: „Entweder Maske oder ich untersuche sie nicht“. 
Dann dackelt er los und holt seine Maske.

2.9.
Ich bin coronamüde - nicht zum ersten Mal, aber jetzt trifft es mich besonders heftig. 
Keine Nachricht kann mich in Wallung bringen, keine noch so hotte News reißt mir die Augen auf. Ich war heute morgen noch nicht fertig mit Schlafen, als der Wecker geklingelt hat. 
Was lese ich? Spahn wurde angespuckt? Eklig, ja, aber wahrscheinlich folgenlos. Überhaupt haben Lamas Weltgeschichte höchstens zeitweise mitgeprägt. Den Inkas waren die Neuwelt-Kamele heilige Wesen, die verborgene Stadt Machu Picchu deutet auf ein Lama-Sternbild hin - und gleichsam im Nebenjob fungierten sie als Lasttiere, Woll-, Fleisch- und Lederlieferanten. Respekt!
Ihre menschlichen Nachahmer konnten nie vergleichbare Bedeutung gewinnen. Einzig dem Fußballer Frank Rijkaard gelang es bei der WM 1990, langfristig In Erinnerung zu bleiben, indem er Rudi Völler in die Mähne spie. 
Vor diesem Hintergrund drängt sich die Idee auf, „Es gibt nur einen Rudi Völler“ auf Jens Spahn umzudichten, trosthalber. Leider fehlt hinten raus eine Silbe, was die Phrasierung hölzern werden lässt. 
Apropos Holz. Warum die Demonstranten ausgerechnet auf Spahn eindreschen, ist mir unklar. Er gehört zu jener seltenen Spezies Politiker, die nicht behaupten, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Über seinen Spruch „Wir werden einander viel verzeihen müssen“ habe ich bereits Ende April ausführlich geschrieben. Ich habe nicht das Gefühl, ihm irgendwas verzeihen zu müssen, wohl aber den Eindruck, dass wir Deutschen mehrheitlich auch weiterhin starke Führerpersönlichkeiten bevorzugen, die uns zeigen, wo der Hammer hängt, ohne Zaudern & Zweifeln, niemals Schwächen zeigen und dabei möglichst bescheiden wohnen, etwa im Reihenhaus in Langenhorn. 
Aber egal, ob müde, hässlich oder reich, vor der Kaffeemaschine sind wir alle gleich.
Gähn, jetzt fallen mir schon wieder die Augen zu. Nicht einmal die bevorstehende Trendwende am Arbeitsmarkt kann mich erfrischen. 
Gewiss, als Peter Altmaier & Hubertus Heil die frohe Botschaft kund taten, bestellte ich mir umgehend drei neue Nasenhaarschneider, aber eben keinen Citroën Maserati - mein Vertrauen in Zukunftsprognosen ist momentan limitiert. 
Zzzz, huch, jetzt war ich kurz weg. Wo bin ich? Ach ja, im Coronäikum. Habe geträumt, Bernd Stelter ist zum Sprecher aller Kulturschaffenden und Karnevalisten geworden und empfing den chinesischen Außenminister Wang Yi in der Villa Borsig. Erst fochten sie verbal, dann zückten sie überlange Wattestäbchen und versuchten auf der Planche, ins Nasenloch des Kontrahenten einzudringen. Das Gefecht endete unentschieden; jetzt warten beide auf ihre Testergebnisse. 
Ein Herr schickt mir derweil bei Facebook eine PN. Sie besteht aus einem Link, der mich auf einen Artikel der Bild-Zeitung verweist. Titel: „Kaum noch Bedarf - Uniklinik Leipzig schließt Corona-Ambulanz“. Dazu schreibt er: „Bitte Geben Sie Ein Statment Ab. Oder Sind Sie Auch Ein Systemling“, gefolgt von 22 Fragezeichen. Ich habe sie, anfänglich fasziniert, in Gänze durchgezählt, was sich im Kampf gegen meine Müdigkeit leider kontraproduktiv auswirkte. 
Corona-Stationen werden allenthalben geschlossen, trotz erhöhter Infektionsraten kommt ja kaum jemand ins Krankenhaus. Die Betten stehen daraufhin leer, und nicht wenige Kliniken ringen mit der drohenden Pleite. Aber was soll ich dazu sagen? Dass man Angst vor italienischen Verhältnissen hatte? Dass wir uns freuen sollten, mithilfe geeigneter Maßnahmen eine Überlastung des Gesundheitssystems vermieden zu haben? Über derlei Fragen habe ich mir bestimmt schon häufiger als 22 Mal den Kopf zermartert; wir werden sie im Nachhinein nicht beantworten können. 
Grundsätzlich, gähn, gilt: Wenn man aus dem Rathaus kommt, ist man müder, pardon, klüger.

3.9.
Ein Entschluss ist gefasst: Ich bin neuerdings Streak-Runner. „Streak“ heisst Strähne, und Streak-Runner sind Leute, die jeden Tag laufen. Es gibt ein international gültiges Reglement, dessen wichtigster Punkt lautet: Man muss jeden Tag mindestens eine Meile laufen, also 1,6 km. 
Der längste „Streak“, ich glaube erlaufen von einem Briten, reichte von 1964 bis 2017. 
Ich bin bei Tag 11, also noch ganz am Anfang. Wer hält länger durch, Corona oder ich - diese Frage könnte man für eine passende Motivation halten, aber ich fürchte, mit Covid-19 werden sich auch unsere Kindeskinder noch infizieren, wenn ich schon lange in der Kiste liege. 
Ob meine Lauf-Strähne länger anhält als Maskenpflicht & Co? Dies könnte schon eher ein Duell auf Augenhöhe werden, vorausgesetzt, ich erkranke nicht allzu schwer, etwa an Corona. 
Sporttreiben, wenn man eigentlich ins Bett gehört, ist nie eine gute Idee. Ich war schon persönlich zugegen, als bei einem Stadtmarathon ein junger Athlet starb, weil er eine Grippe nicht richtig auskuriert hatte - womit ich keineswegs die Gefährlichkeit von Covid-19 relativieren möchte (man muss heutzutage aufpassen wie ein Haftlmacher). 
Es war jedenfalls das Jahr, in dem ich den Hamburg-Marathon gewann, und zwar in der Kategorie Krawattenläufer. 
Der hochverehrte Kollege Drosten ist aus dem Urlaub zurück und hat als erste öffentliche Amtshandlung Aerosole mit Mundgeruch verglichen. Zunächst zuckte ich zusammen. Ist Mundgeruch etwa Hinweis auf eine Infektion? Das würde die Testerei angenehm vereinfachen. Der Arzt sagt „Hauchen Sie mich mal an!“ - und, zack, ab in die Quarantäne. 
Aber so isses eben nicht. Drosten jedenfalls scheint seinen Urlaub genutzt zu haben, um neue, einfache didaktische Modelle zu entwickeln. Gut so. 
Laut einer Studie der Organisation „More in Common“ glauben 30 % der Bundesbürger, dass die Bundesregierung die Gefahren durch Corona „größer aussehen lässt, als sie ist, um eigene Pläne durchzusetzen“. Spontan könnte man hieraufhin den Schluss ziehen, dass fast jeder dritte Deutsche Verschwörungsmythen anhängt. Aber sagte nicht unlängst Wolfgang Schäuble, dass in der Krise der Widerstand gegen Veränderungen in Europa kleiner werde? „Wir können die Wirtschafts- und Finanzunion jetzt hinbekommen“, wird er zitiert, und diese Hoffnung teilend, denke ich sogleich weniger an Impf & Pimpf denn an gesunden Pragmatismus. 
Hängt ja immer auch von der Fragestellung ab. „Glauben Sie, dass sie mit ihrem Gesicht von einer Maskenpflicht profitieren?“ würde ich eventuell, abhängig von meiner Tagesform, durchaus bejahen. 
Ein weiteres Ergebnis der Studie: War vor Beginn der Krise die Mehrheit der Deutschen bereit, einen Kompromiss mit Andersdenkenden zu suchen, sind inzwischen nur noch 45 % hierzu willens. 
Anhand dieses Tagebuchs lässt sich die Entwicklung womöglich nachvollziehen; einstweilen fehlt mir allerdings die Zeit zur wissenschaftlichen Auswertung. Tagtäglich fesselt neuer, spektakulärer Input meine Aufmerksamkeit. Beispiel: Mit dem OK der Stadt Leipzig für 8400 Fussballfans bei RB machen die Enkel August des Starken die Bundesliga zur Lokomotive in Sachen Großveranstaltungs-Renaissance. Lokomotive Leipzig quasi, um sprachlich auf dem Fußballplatz zu bleiben. 
Spätestens als Michael Kretschmer ohne Maske mit Corona-Rebellen diskutierte, wurde erahnbar, dass er nicht gewillt ist, sich achselzuckend hinter Markus Söder zu verstecken und eigene Pläne verfolgt.
Bin gespannt, wie Söder verfährt, wenn bayerische Vereine sich an ihn wenden, weil auch sie mit Publikum spielen möchten. Mauert er? Startet er einen Konter? Grätscht er robust dazwischen? 
So. Erstmal mit lila Listerine gurgeln, das eleminiert nicht nur Mundgeruch. Und dann laufe ich eine Runde um den Pudding.

4.9.
Ungarn hat seine Grenzen geschlossen, nur Tschechen, Polen und Slowaken sind weiterhin willkommen, also die Bewohner der Visegrad-Staaten. Es ist ein bisschen wie unter Einzelpersonen: „Wir sind quasi ein Haushalt“ pflegen meine Managerin und ich zu sagen, wenn wir zur Begrüßung nahezu Körperkontakt aufnehmen. 
Europa ähnelt demnach immer mehr einem Mehrfamilienhaus: Früher gab‘s in dieser Immobilie allerlei Gartenfeste, man grillte gemeinsam und träumte kühn davon, die Wohnungstüren ganz zu entfernen, um eine große WG zu gründen. Wieder nüchtern hatte man dann ab und an Streit, darüber, wer wieviel zum Fassadenanstrich beisteuert oder wann die Waschküche verwendet werden darf - aber im Grunde pflegte man gute Nachbarschaft. Und jetzt? Schafft man es kaum, sich auf eine gemeinsame Hausordnung zu einigen, schlimmer, man erteilt sich gegenseitig Zutrittsverbote, per Aushang im Flur. Schließe ich die Augen, sehe ich in verschneitem Schwarz-Weiß Heidi Kabel in „Tratsch im Treppenhaus“, in der Inszenierung des Ohnsorg-Theaters, und sie zieht böse über die Mitbewohner her. 
Seufz; so habe ich mir Europa nicht vorgestellt, und es ist ein Trauerspiel, dass die zurückliegenden, einigermaßen hoffnungsfrohen Monate nicht genutzt werden konnten, um einheitliche Kriterien für Neuinfizierten-Zahlen, Quarantäneregelungen und ein gesamteuropäisches Intensivbetten-Management zu nutzen. 
Das war für mich die alarmierendste Lehre der Pandemie: Dass wir Europäer nicht in der Lage waren, uns abzustimmen. Waren? Sind! Nichts scheinen wir gelernt zu haben; wir sind drauf und dran, dieselben Fehler zu machen wie damals, im März. 
Ich bin seit zwei Tagen in Köln, wir drehen „Genial Daneben“, ganz klassisch, mit 100 Personen im Publikum, die durch Pappfiguren und große Kuschelbären voneinander getrennt sind. Die Bären ähneln auf verblüffende Weise den „Nichts-geht-über-Bärenmarke“-Werbefilmpetzibären, und betritt man das volle Studio, ist das Auge überfordert: Mensch, Pappfigur und Bär werden zu einer ununterscheidbaren Mischwesenmenge, was bei so manchem Gast Beklommenheitsgefühle auslöst (Dieter Nuhr erschrak; meinte, die Figurenfülle sei ein Verstoß gegen Hygieneregeln). Mir hingegen zwingt der Anblick ein Lächeln ins Gesicht. 
Egal, wie sich die Krise fürderhin entwickelt, unsere spezielle Zuschauermelange wird Schule machen, nie wieder möchte ich ausschließlich vor Menschen auftreten, immer nur gedrittelt vor Menschen, Bären, Pappfiguren. 
Nach den Shows eröffnet mir ein junger Humoristenkollege, dass er keine Filme mehr gucken könne. Nanu, warum? Er schaue irgendeinen Hollywood-Streifen, vier Leute sitzen am Tisch, er schüttelt den Kopf und ruft „Das geht nicht, ihr sitzt zu nah beieinander!“ Er könne gar keiner Handlung mehr folgen, stattdessen schätze er Abstände und zähle Menschen pro Quadratmeter in geschlossenen Räumen. Leuchtet mir ein. 
Wenn sich die Maskenpflicht langfristig durchsetzt, sollte man wenigstens die Klassiker der Filmkunst digital nachbearbeiten, ausdünnen, maskieren und gegebenenfalls Komparserie mit Zottelbären auffüllen. Zorro und Spiderman dürfen bleiben, wie sie sind. Natürlich können auch pandemiegerechte Remakes gedreht werden: „Mord im Orientexpress“ würde an Spannung sogar gewinnen, wenn unter den Mordverdächtigen ein Maskenverweigerer wäre, der einen außerplanmäßigen Stopp auf freier Strecke erzwingt, und wenn Hercule Poirot mit einer Schwimmnudel als Abstandhalter im Bordbistro zwei Tüten mehrwertsteuerreduzierte Erdnüsse für 2,92 € erwirbt und das Wechselgeld für den Rest des Films in der Bundfaltenhose klappern lässt - bis der Zug an der ungarischen Grenze endgültig zum Stehen kommt, die Hosentasche verstummt und der Film abrupt endet.

5.9.
Ein freier Vormittag. Nach dem Omelett bestaune ich die Friday-for-Future-Demo, lausche ihren Slogans, dann tapse ich in die italienische Kirche, knie mich aufs harte Gebälk und danke für mein schönes Leben. 
In den anschließenden Klönschnack integriere ich auch ein paar Bitten, zunächst privater Natur, aber auch für das Wohlergehen Alexej Nawalnys und seiner Familie sowie die Seelen seiner Häscher. Anschließend, und das passt ja prima, lese ich mit zunehmender Verstörung eine Diskussion unter meinem gestrigen Tagebucheintrag, in der es um Masken geht. Einer möchte doch glatt Maskenverweigerer mit einem „Erklärholz“ bearbeiten. Zunächst begreife ich gar nicht, was er meint, dann google ich’s und lese, dass man unter einem „Erklärholz“ einen Baseballschläger versteht - oder ein Nudelholz, wie der Vorschlagunterbreiter ergänzt. Impulsiv schreibe ich, dass er sich mit seinen Gewaltphantasien zum Teufel scheren solle, finde jedoch anschließend, dass ich meinen Rauswurf auch sachlicher hätte formulieren können. Armer Sünder, ich.
Wie gut, dass es sich um einen echten Einzelfall handelt; seit Mitte März führe ich dieses Tagebuch, und sämtliche Reaktionen, so kritisch sie mitunter waren, fußten auf dem Fundament der Zivilisation. Für mich, der vor Corona eher durchwachsene Erfahrungen mit Facebook gesammelt hatte, war dieser friedliche, konstruktive Diskurs sehr erfreulich, und ich hoffe, dass wir alle - ich an erster Stelle - zur Freundlichkeit zurückfinden. Erklärholz, pah. Sowas brauchen wir ebensowenig wie einen Teufel, zu dem man sich scheren soll - zumal ich mir durchaus vorstellen könnte, dass es gehörnte Ausdauerpiesacker gar nicht gibt.
Aber es gibt Silvio Berlusconi, der vom italienischen Außenminister Di Maio noch vor kurzem ein „Monster“, ein „Gangster“, der „Feind“ schlechthin genannt wurde, und jetzt schickt der Fünf-Sterne-Mann ein offenes Telegramm ans Krankenbett, in welchem er dem an Covid-19 leidenden Berlusconi nicht nur rasche Genesung wünscht, sondern ihn auch für jene Kraft lobt, die ihn immer ausgezeichnet habe. 
DAS ist der Weg, den ich mir auch für uns wünsche: Dass wir uns in der Krise nicht voneinander abwenden, sondern zusammen finden. 
Manchmal komme ich mir vor wie eine Baustelle; das Fundament ist da, einige Gebäudeteile werden bereits bewohnt und sind auch einigermaßen gelungen, an manchen platzt bereits wieder der Putz ab (Pfusch), und dann gibt es da einige Erker, Vorsprünge, hinten raus so’ne Art Wintergarten, ganz ehrlich: Das kann man getrost wieder abreißen, da ist nichts zu retten. 
Und während der Bauherr in Gummistiefeln und mildem Missmut über die Baustelle, gleichsam über sich selber stapft (Gott, was für ein trostloses Bild), verkündet die Ex-Frau von Karl Lauterbach, die Epidemiologin Angela Spelsberg im Interview, dass die Pandemie praktisch vorbei, Corona keine große Gefahr mehr für uns sei und sämtliche Maßnahmen sofort zurückgenommen werden können. 
Köstlich. Entweder sie hat recht (das wäre sowieso gut), oder sie hat unrecht - in diesem Falle freut sich der Voyeur in mir über die klitzekleine Uneinigkeit zwischen den Verflossenen, und ich stelle fest: Manchmal ist ein bisschen Dissens auch herrlich amüsant.

6.9.
Der ICE-Großraumwagen ist weiterhin ein Ort, an dem sich Glanz und Elend der Pandemie-Massnahmen besonders gut studieren lassen. 
Eine ältere Dame, Typ Kö-Bummlerin, blond, weiße Jeans, weiße Bluse, Büsumer Nackenrolle in Altrosa, Plexiglas-Visier, zusätzliche Chemiker-Schutzbrille, raunzt einen Herrn an, der einige Reihen vor ihr sitzt: „Jetzt holen sie sich endlich ein Taschentuch! Das ist ja e-kel-haft! Wäre normal schon schlimm, aber wir haben Corona!“ 
Mir war seine Erkältung nicht aufgefallen, aber ich bin wahrscheinlich mal wieder einfach zu egozentrisch für die Wahrnehmung anderer Leute Naseninhaltsbewegungen. 
Wie der Schleimquell reagiert, kann ich nicht erkennen, aber er trägt Maske, so wie sich‘s gehört. 
Vorm Aussteigen in München steht die Kö-Bummlerin neben mir und beschwert sich beim Schaffner. Er: „Ich weiß ja gar nicht, was die Leute überhaupt schon wieder alle unterwegs sind“ - und ich denke mir: Die Bahn könnte ja auch Sitze blockieren, wenn’s denn ein Problem ist. Aber laut Bahnsprecher ist es ja keins. 
Die Beschwerdeführerin erläutert ausführlich ihre persönlichen Ekelgefühle, der Schaffner nickt beflissen, und kurz bevor der Zug hält, gelingt ihm eine echte Pointe, als er der Dame entgegnet: „Es ist allerdings die Frage, ob’s diese Viren überhaupt noch gibt. Das mit den Masken ist doch völlig übertrieben!“, woraufhin es der perplexen Kundin die Sprache verschlägt und wir die letzten Meter schweigend zurücklegen.
In Nymphenburg schlechte Nachrichten. Eines unserer Lieblingslokale ist pleite gegangen, und der Hörgeräteladen nebenan ging sogleich hinterher. So langsam ist in unserer Einkaufsstraße nicht mehr viel, wo man sich verpflegen kann. Nur gut, dass ich noch einigermaßen höre.
Nachmittags besuchen wir den Spielplatz, wo so eine Art Unterhaltungsprogramm für Kinder angeboten wird. Eine Geschichtenerzählerin erzählt zwischen zwei Geschichten, dass sie alle paar Minuten den Standort wechseln muss - behördliche Auflage. Ziel: Größere Kinderansammlungen vermeiden. Schöne Geschichte. 
Wieder daheim, blicke ich absichtslos in den Rasensprenger und werde von ihm hypnotisiert. Das Wasser spritzt in dünnen Fontänen von links nach rechts und wieder zurück, wie ein großes Metronom, und ich folge willenlos der Pendelbewegung. Mein Puls sinkt gen 60, meine Lider werden schwer, ein warmes, angenehmes Gefühl erfüllt mich, eine vollständige Entspannung erfasst alle Fasern und Faszien, die chronische Krampfneigung meiner Kiefermuskulatur schwindet, und zugleich sinke ich zusammen und meine dabei, knapp über dem Rasenrand frei zu schweben. Zwei Wespen umtänzeln mich aufreizend, bis sie vom Rasensprenger benässt werden und das Weite suchen. In mir herrscht vollkommene Balance, und dort, wo sonst Darmgeräusche rumpeln und Magensäure beißt, herrscht nichts weniger als der echte, ewige Friede. 
Und als ich mich mühevoll aus meinem Tagtraum gerissen und den Wasserhahn zugedreht habe, meine ich neues Hausmittel gefunden zu haben - womöglich nur eingeschränkt geeignet für den Kampf gegen Corona, bestens aber für die Abmilderung gewisser Begleiterscheinungen, und aus eigener Erfahrung kann ich Euch sagen: Leute, wenn gar nichts mehr geht: Sprengt den Rasen!

7.9.
Zu Beginn der Pandemie warf ich täglich einen Blick auf allerlei Statistiken, die die von mir abonnierte Zeitung aufbereitete. Besonders interessant waren die Anzahl der Neuinfektionen, der Todesfälle, später auch der R-Wert. 
Ich studierte die Zahlen mit den unterschiedlichsten Emotionen: Besorgnis, Hoffnung, Unverständnis und ab und zu mit einem kindlichen, mich zur Schamesröte treibenden Nationalstolz - so als sei Coronabekämpfung ein Leistungssport und die derzeitige Pandemie eine Weltmeisterschaft besonders großer Mannschaften, in der ich mich - in meinen schwächsten Momenten - wie eine Art assoziiertes Kadermitglied fühlte. Aus diesem Blickwinkel heraus waren wir vorne mit dabei. Insofern: Deutschland, ein Sommermärchen. 
Boah, ist das schlecht. Bitte gleich wieder streichen.
Mit Ende der sogenannten ersten Welle ebbte die Lust an der Analyse ab; inzwischen studiere ich höchstens ab und an die Europakarte. Von grau (keine Angaben) über rosa (bis fünf Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner im gemittelten Wochenverlauf), orange, rot bis schwarz (über 50) reicht die herbstlich anmutende Farbpalette. 
Grau ist momentan alle Theorie, Farbe ist auf’m Platz - außer im Kosovo. Das kann allerlei Ursachen haben, zB dass das kosovarische statistische Landesamt sein jährliches Grillfest feierte.   
Am wenigsten Neuinfizierte gibt es derzeit in Finnland und Lettland. Beide Länder sind sprachlich miteinander verbunden, aber auch durch eine ausgefeilte Saunakultur. Ganz aus dem Bauch heraus sage ich: Beiderseits der Ostsee sind die Leute abgehärtet, außerdem wird in den Saunen beider Länder mit jungen Birkenzweigen die Haut gezüchtigt - womöglich mögen Viren kein Birkenwasser und/oder die Schläge mit Birkenreisig sind ein medizinisch wirksamer Exorzismus (Notiz an mich selbst: Bei Gelegenheit im Labor untersuchen). 
Am nächstbesten dran sind (ähem, jetzt kommt’s:) Schweden und Deutschland. Womöglich startet stante pede wieder eine Diskussion, bei der die Streitenden mit Birkenzweigen aufeinander los gehen, mindestens. Auch Serbien ist noch hellorange, just so wie deutscher Michel und Lönneberga. Ja, kaum hat man beim Kosovo seine Balkan-Grillfest-Vorurteile auf den Schaschlik-Spieß gesteckt, kann man sie als halbgar klassifizieren und runterschlucken. In Serbien muss kaum mehr jemand sterbien.
Groß ist die Zahl der Länder mit bis zu 20 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner: Von Großbritannien über Polen, Italien bis nach Weißrussland reicht diese Ländergruppe, die ich den „Mainstream“ nennen möchte. Italien fühlt sich in diesem Feld womöglich wie Paderborn in der Bundesliga. Kann dieser traditionsreiche Aufsteiger die Klasse halten? Gleiches gilt für UK (Risikogebiet wie Kroatien und Türkei). Im Herbst drohen englische Wochen; wir drücken die Daumen. 
In der nächsthöheren Spielklasse treffen zB Benelux, Portugal, Österreich, Tschechien und die Schweiz aufeinander. Ich grüble, was diese Länder miteinander verbindet, und ich komme zu keiner einigermaßen schlüssigen Idee, außer dass all diese Länder von lauter sympathischen Menschen bewohnt werden. Ich halte fest: Nettigkeit schützt nicht vor Corona, ebensowenig wie Fado, Pivo, Globo und Opus, womit ausgeschlossen werden kann, dass der Buchstabe „O“ irgendetwas gegen Corona ausrichtet (wenn’s so wäre, mutierte es flugs zu „Carana“).
Die Spitzengruppe schließlich besteht aus Spanien, Frankreich, Moldawien und den Ländern des Westbalkans. Und jetzt frage ich mich: Warum? Spanien und Frankreich hatten die härtesten Lockdowns, und wenn ich einigermaßen aktuell informiert bin, gilt in Spanien überall Maskenpflicht, auch draußen. Wie kommt der erneute Triumph des Virus zustande? Knutschen die alle heimlich? Setzen sich extradicht in lüftungslose Kellerlokale? Was passiert da? 
Moldawien ist für mich auch eine Überraschung; ich bin nach einigen Insider-Erzählungen über die Strukturen der moldawischen Administration davon ausgegangen, dass die Zahlen geschönt sind bzw. gar nicht übertragen werden, zB wg Funkloch, à la „Können Sie mich hören? Nein? Ich ruf später noch mal an! 
Wir lernen: Harte Maßnahmen schützen nicht vor über 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern, während Schweden...ach, was soll ich drauf rumreiten...

P.S.: (6:56 Uhr) Ich wurde gefragt, welche Schlüsse ich aus diesen Beobachtungen ziehen würde.
Einstweilen keinen, außer, dass ich mich ausserstande sehe, irgendwelche Schlüsse zu ziehen.

P.S. 2: (7:31 Uhr) Nicht Lettland und Finnland, sondern Estland und Finnland sind sprachlich miteinander verwandt. Danke für den Hinweis.

8.9.
Mein Optiker fragt mit mitleidigem Blick, wie‘s denn gehe. Danke, ich bin gesund und bestens gelaunt, antworte ich, und dann erst fällt mir auf, worauf er hinaus will: Die marode Situation der Kulturschaffenden, wie man uns bisweilen nennt. Natürlich ist das, was ich so von mir gebe, auch Kultur, im weiteren Sinne. Aber ob ich wirklich etwas schaffe? Je nach biorhythmischer Taktzahl radebreche und fabuliere ich mich durch meine Tage und versuche, allfälligen Alterungsprozessen mit warmem Humor zu begegnen. 
Dass mein Vortrags- und Konzertkalender derzeit coronabedingt stark ausgedünnt ist, kann ich auch deshalb gut verknusen, weil ich Vater von vier Kindern (2x 22J., 2J., und fast 10 Mon.) bin, und mindestens die Kleinen freuen sich, wenn ich mit ihnen vierhändig Klavier spiele oder sie als Pferd auf den Schultern trage, wieher. Manche meiner Kollegen verdingen sich als Pizzaboten, einer hat auf Versicherungsvertreter umgesattelt und lud sich bereits ein, uns Glasbruch- und Fahrradversicherungen aufschwatzen zu dürfen. 
Ich kann mir gut vorstellen, dass wir noch einige Jahre mit AHA leben werden, und solange die Menschen Angst haben, gehen sie nicht ins Theater. Also eventuell vier Jahre Durststrecke? 
Ich werde die Zeit nutzen, um einen alten Traum zu verwirklichen, nämlich: Das Gardinophon zu konstruieren und mich zum weltbesten Virtuosen auf diesem Instrument fortzubilden. Für alle Interessierten: An einem Metallgestell sind mehrere Gardinenschienen montiert, in deren Kanälen unterschiedliche Gardinen auf- und zugezogen werden können - mit möglichst unterscheidbaren Ritsch-Ratsch-Klängen. Mir schwebt ein Instrument vor, das in erster Linie rhythmische Fundamente legt, während die Melodien von meiner singenden Frau beigesteuert werden. Wenn Covid-19 seinen Schreck verloren hat, steige ich wie Phönix aus dem Eiswasser und betöre die Menschheit mit meinen Gardinen (eine soll nach Möglichkeit eine echte Ado mit Goldkante sein). 
Die Menschen werden sich an Kunst, Kultur, Musik erinnern, ein drängendes Verlangen wird an die Stelle der Angst treten, und aus den hintersten Winkeln, von den Almen und Halligen werden sie herbeiströmen, in die Philharmonien dieser Welt, auf deren Bühnen ich, in Frack und Badelatschen, neben meiner Gattin an den Vorhängen reiße und sie alle verzaubere: die Zaudernden, die Disziplinierten genauso wie die Draufgänger; ich werde sie alle einen, die Risse zwischen uns kitten, meine Gardinen werden alle Menschen zu Brüdern und Schwestern machen, Ritsch-Ratsch, und am Ende sind alle Vorhänge zu und alle Herzen offen. 
„Herr Boning? Huhu!“ 
„Was? Wie? Pardon, ich war kurz abwesend. Habe an früher gedacht, und an morgen“
„Was kann ich für sie tun?“
„Ich hätte gerne ein Anti-Beschlagspray für meine Brille“
„Tut mir leid, diese Produkte sind alle aus. Ich kann ihnen leider auch nicht sagen, wann wieder geliefert wird. Anti-Beschlagspray ist weltweit extrem begehrt. Mehr noch als Planschbecken und Klopapier. Ich sage ihnen Bescheid, wenn wieder was reinkommt, ok?“
(Wahre Geschichte)

Kleinanzeige in eigener Sache: Ich suche einen handwerklich begabten Menschen, der Lust hat, mir die Hardware für das Gardinophon (Ständer, Rahmen und Schienen) zu bauen. Um die Software (Gardinen und Rollen) kümmere ich mich gerne selber. Großraum München wäre besonders praktisch. Über eine PN würde ich mich freuen.

9.9.
Mittags Zugfahrt nach Berlin. Ich öffne die Zeitungsapp und erfahre:
Wer sich in Bayern an Flughäfen oder Bahnhöfen auf Corona testen lässt, hat es neuerdings nicht mehr mit den bewährten Kräften des Bayerischen Roten Kreuzes zu tun, sondern mit den Firmen Ecolog und Eurofins, die für die Durchführung der Tests u.a. Bühnentechniker und Türsteher einsetzen. 
Die Einweisung dauere zehn Minuten, gezahlt werden angeblich 12,50 pro Stunde. 
Als ich dies lese, schießen mir Tränen in die Augen - Freudentränen, dass für viele meiner lieben Kollegen endlich eine sinnvolle Anschlussverwendung gefunden ist, wie Philipp Rösler derlei Neuorientierungen einst nannte. 
Wer bei einer Verona Pooth oder einer Hella von Sinnen unfallfrei das Mikrofon am Kopfputz befestigt, sollte auch einen Wattestab erfolgreich in fremde Rachen einführen können - zumal lange Wattestäbchen und die Mikrophone moderner Head-Sets äußerlich ähnliche Gerätschaften sind. 
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wir Fernsehfuzzis seit Wiederaufnahme der Studioproduktionen in der Regel selber die Vertonung vornehmen, zwecks Kontaktreduzierung. Bin ich somit auch automatisch qualifiziert als Corona-Tester?
Sodann mischen sich in die Freudentränen auch die bitteren Tränen lange verschütteter Traumata. Türsteher? Da denke ich sogleich an kernige Kleiderschränke, die den eh schon verängstigten Virenfürchtlingen ihr Bohrgerät ins Nasenloch rammen. 
Söder, selber 1,94 m groß, hat ja mehrfach angekündigt, dass der Kulturstaat Bayern seine fähigsten Kräfte nicht alleine lassen werde, und dass sich sein Kulturbegriff nicht nur auf Opernsänger und Fachkräfte der Bühnentechnik, sondern auch auf rohe Kräfte erstreckt, verlangt zunächst einmal Respekt. 
Ich denke sogleich an Picassos Lieblingsmaler, den Schimpansen Congo (1954-1964), der im Londoner Zoo vierhundert Bilder malte und dessen Werke heute im hohen vierstelligen Bereich gehandelt werden. Congo besuchte keine Kunstakademie, so wie auch der gemeine Gorilla im Normalfall kein Medizinstudium vorweisen kann. Das macht aber nichts, da ja bekanntlich die Ergebnisse der bayerischen Tests eh nur im Einzelfall an die Getesteten weitergegeben werden. 
Man mag mich dafür rügen, dass ich so wenig Vertrauen in Türsteher habe oder diese sogar mit Tieren vergleiche. Ich weiß, sowas gehört sich nicht, aber ich habe mit Türstehern die denkbar schlechtesten Erfahrungen gesammelt. Für mein komplettes Leben bis Mitte der 90er galt: Steht ein Türsteher am Eingang der Diskothek, kommst du sowieso nicht rein. Ich war zu klein, zu blass, zu wenig maskulin, sah auch nicht gerade betucht aus. In München etwa wiesen mich Parkcafé und Nachtcafé ab, und bis heute weigere ich mich, diese Stätten der Demütigung zu betreten (es fragt mich allerdings schon lange niemand mehr danach, dort einzukehren). 
Und schließlich mischen sich in die Freuden- und Schmerzenstränen jene des Lachens. Mein Zwerchfell reagiert mittlerweile zuverlässig auf die vollmundige Väterlichkeit Söders, der viel verspricht, wenn der Tag lang ist. Aber: die langen Tage sind gezählt; bald kommt der Herbst. 
...und kaum habe ich diesen Text notiert, erfahre ich um 13:06, dass, ein letzter Lacher, die Testzentren an Autobahnen und Bahnhöfen geschlossen werden. Womöglich las der Bayerische Ministerpräsident genau den gleichen Zeitungsartikel wie ich, überschlug seine Möglichkeiten, sich mit möglichst geringen Blessuren der Bredouille zu entwinden und zog kurzerhand die Reißleine - bevor irgendjemand irgendetwas merkt. 
Womöglich ist es aber auch ganz anders: Die Reisezeit ist vorbei, der Bedarf an Tests eingebrochen, das Virus vorerst unter Kontrolle. 
In diesem Fall: Wunderbar! Merke: Mit Türstehern diskutiert man nicht.

10.9.
Da bin ich schon mal in Berlin, die Veranstaltungsbranche demonstriert um ihr Leben, und ich bin nicht dabei. Schnöder, schöner Grund: Der großartige Heinz Rudolf Kunze interviewt mich für seinen Podcast. Er hat das vorliegende Tagebuch ausführlich begutachtet, was mich bescheiden erröten lässt. Kunze, einer meiner frühesten Förderer, berichtet, erst 2015 seinen ersten Soloauftritt probiert zu haben, zunächst gepeinigt von Lampenfieber. Dass er sich und sein Lampenfieber überwand, ermöglicht ihm heute, den Künstlerkopf über Wasser zu halten. 
Hopphopp zum nächsten Tagesordnungspunkt: Kaffee mit der nicht weniger großartigen Anne Rathsfeld, mit der ich für „Die Selbstanzeige“ einige Dutzend Male auf der Bühne des Schlossparktheaters stand. Was ihr in der Pandemie zu schaffen machte: Das Gefühl der mangelnden Systemrelevanz - der Dauersitz auf dem Sofa als Kainsmal. Kenne ich auch, und ich bin froh, mir mit meiner Tagebuchschreiberei von Anfang an eingeredet zu haben, einen Beitrag zu leisten, wobei völlig unklar ist, wozu. Zerstreuung? Dokumentation? Destabilisierung? Die einen sagen so, die anderen so. Hauptsache, man ist weg von der Straße. 
Mit Managerin Steffi unternehme ich anschließend einen kurzen Abstecher in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, zu einem der ergreifendsten Kunstwerke, die ich kenne, nämlich die Stalingradmadonna, mit Kohle von Lazarettarzt Kurt Reuber im Kessel Weihnachten 1942 auf die Rückseite einer sowjetischen Landkarte gezeichnet. „Licht Leben Liebe“ propagiert, preist, erbettelt das Blatt, und ich denke an meinen Onkel Andreas, der im Herbst 44 fiel und nach dem ich Wigald Andreas Boning heiße. 
Ich habe die Madonna mit dem Mantel, unter dem sie ihr Kind vor der Kälte schützt, noch häufiger besucht, als ich mit Anne auf der Bühne stand; ich bin sozusagen mit beiden befreundet, wenngleich auf höchst unterschiedliche Art.
Im Auto zum Fernsehstudio. Vor einer roten Ampel hält neben uns ein Wagen, der offenbar am #alarmstuferot - Korso teilgenommen hat. Auf dem Dach ist ein Sarg montiert, beschriftet mit dem Satz „Jetzt hilft auch kein Galgenhumor mehr“, und in mir nagt das schlechte Gewissen, dass ich meine Kollegen nicht durch meine Anwesenheit unterstützt habe, wenngleich mir unklar ist, wie unsere Branche überhaupt zu retten sein soll, denn abseits aller Corona-Vorschriften geht es doch vor allem um Angst - eine Angst, die kaum so schnell schwinden wird, wie sie kam. 
Der Bericht über den „unerklärlichen“ Krankheitsfall bei der Impfstoffentwicklung der Firma AstraZeneca lässt vermuten, dass sich der Spuk nicht per Handstreich beenden lässt. Oder irre ich? Hoffentlich! 
Letzte Nacht habe ich im Handy ein altes Postfach entdeckt, in dem ich Gedichte abgelegt hatte. Wie mumifizierte totgeschlagene Zeit blicken mir die Zeilen entgegen. Sie sind fast drei Jahre alt, aber das eine oder andere passt durchaus ins Heute, etwa die folgende Betrachtung über Aerosole: 

F#

Als Elvis letztmalig in einen Blaubeer-Pancake biss
vibrierte sein Zwölffingerdarm und es erklang ein hohes Fis,
und als des Königs Körper wenig später leblos in der Kiste lag
da schlich das Fis diskret hinaus, gerade noch bevor der Sarg
geschlossen und verbuddelt wurde.

Eine untersetzte Amsel hörte den verwaisten Ton,
nahm ihn unter ihre Schwingen, um ihn fortan ihren Kindern 
vorzusingen, die über der Leichenhalle in einer Magnolie piepten
Sechs Tage lang sang Mutter vor, am siebten sang der Kinderchor
das „Elvis-Fis“, um nicht zu sagen „Elfis“ nach. 

Die Vogelkinder wurden groß und lehrten auch die ihrigen
das je nach Schnabelstellung heikle Fis, just zwischen f und g.
Und immer wenn ich eine Amsel hör und seh, wie sie Elfisse trällert, 
flattert, schnabuliert und schwebt, weiss ich - durch sie:
Elvis lebt!

11.9.
Kinder aus der Nachbarschaft berichten vom Schulalltag in der „Neuen Normalität“. 
In der 5. Klasse bayerisches Gymnasium gilt Maskenpflicht für alle Schüler und alle Fächer, auch Sport. Wie sieht’s aus in den Pausen? Ja, auch dann gelte Maskenpflicht, außer man isst oder trinkt. 
Ansage des Rektors: Wer erwischt wird, wenn er die Maske larifari unter der Nase trägt, wird ohne Vorwarnung der Schule verwiesen. Oh là là. 
Der Fünftklässler erzählt weiter: die Lehrer müssen keine Maske tragen, d.h.: im Gang schon, beim Unterrichten nicht. 
Das ist ja seltsam, werfe ich ein; der dozierende Lehrer ist doch derjenige, der am ehesten seine Aerosole im Raum verteilt - deshalb gilt für Auftrittskünstler ja auch acht Meter Mindestabstand zur ersten Reihe. 
Allerdings weiß ich, dass an manchen bayerischen Schulen auch Maskenpflicht für Lehrkräfte gilt - woraufhin ein guter Bekannter sogleich auf Teilzeit umgestellt hat (er war vor den Sommerferien der einzige Ü-60-Lehrer seines Kollegiums, der die Traute hatte, sich persönlich in der Schule blicken zu lassen; ausnahmslos alle Kollegen seiner Altersklasse präsentierten Atteste, die sie als Risikopatienten bzw als solche mit einer Angststörung auswiesen). 
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich diese Zeilen ohne Vorwurf schreibe, ohne Groll; nein, weder frohlockte ich, als Gerhard Schröder Studienräte „faule Säcke“ nannte, noch würde ich Lehrern pauschal Hasenfüßigkeit unterstellen. Auch ich betrete übervolle ICE-Waggons ungern, wortlos und um Äquidistanz zu allen Mitreisenden bemüht; derjenige, an dem das monatelange ARD-Brennpunktgewitter spurlos vorüberging, ist stählern wie Ernst Jünger in seinen besten Jahren. 
Andererseits liebe ich meine Erwerbstätigkeit („Arbeit“ mag ich sie kaum nennen), und ich liebe sie deutlich glühender als ich mich von gewissen Gesundheitsgefahren einschüchtern lassen würde, wie nicht zuletzt die Zuschauer von „Nicht Nachmachen“ wissen. Nein; als Maßstab tauge ich wahrlich nicht. 
Es kommt auch gar nicht darauf an, was ich von ganztägiger Maskenpflicht bei 11-jährigen halte, wichtiger ist allerdings, wie sie selber diese finden. Eines der von mir befragten Kinder zuckt mit den Schultern, der zweite murmelt „Nicht gut“, der dritte tippt sich dezent an die Stirn. Ob man sich dran gewöhnen kann, frage ich, und jetzt zucken alle drei mit ihren Schultern. 
Nun gut, mit drei Befragten ist meine private Umfrage nicht unbedingt repräsentativ. Womöglich gibt es schon in Bälde Schüler, die die Vorzüge der Maskierung zu schätzen wissen, etwa beim Kaugummikauen. Auch tritt natürlich eine Gewöhnung ein; der eine oder andere Leser wird sich gewiss daran erinnern, wie schwer zB mir anfangs ein kurzer Besuch bei Dallmayr fiel („blümerant in der Geisterbahn“), und heute vergesse ich mitunter, meine Maske abzunehmen und trage sie ganztägig, beim Joggen, in der Sauna, beim Klavierüben, schlichtweg, weil ich mit meinem Mundschutz in friedlicher Koexistenz lebe, wie sich die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 auszudrücken beliebte. 
Neulich hielten sich Teresa, ich und die Kinder an einem kleinen Kinderkarussell am Ufer des Ammersees auf, unser Nachwuchs saß auf den Holzpferden und ich hatte bereits einen Euro eingeworfen, als sich eine fremde Mama mit ihrem 3jährigen Steppke näherte. Der Bub trug eine Maske und wollte offensichtlich zusteigen. Meine Frau, halb im Scherz: „Hier darf man nur ohne Maske mitfahren!“ 
Der Junge blickte seine Mama fragend an, die nahm wiederum kurz mit meiner freundlich dreinschauenden Teresa Blickkontakt auf, sagte gönnerhaft zu ihrem Kind: „Ausnahmsweise!“, und los ging die fröhliche Fahrt.
Auf dem Nachhauseweg fragte mich meine Frau, ob ihre Ansage übergriffig gewesen sei. Ich zuckte mit den Schultern und beschied: „wahrscheinlich schon“.

12.9.
Während ich in Berlin weilte, hat Teresa emsig den großen Tag vorbereitet: Unsere Tochter Mathilda wird getauft. Erst kurz vor knapp mache ich mich mit den Einzelheiten vertraut, und dann geht’s auch schon los. 
Biertische im Kirchhof aufstellen, zwanzig Biere in den Brunnen zwecks Kühlung. Lustigerweise beginnt der Pfarrer seinen Vortrag an genau diesem Brunnen, der oberseits Jesus’ Begegnung mit der kanaanäischen Frau darstellt. Während der Pfarrer also die Festgemeinde begrüßt und in sinnigen Worten den Zusammenhang zwischen der dargestellten Szene und der Taufe erläutert, fallen alle Blicke immer wieder auf den unterseits gekühlten Hopfensaft, was der Veranstaltung von vornherein ein angenehm entspanntes Gepräge gibt. 
Dann geht’s rein in die Kirche, in der die Violinistin Franziska Strohmayr bereits das Largo aus Bachs Solosonate Nr. 3 spielt. Das ist natürlich nicht nur für Mathilda, sondern auch für mich ein großes Geschenk, denn die „Kulturbiathletin“ ist eine meiner großen Heldinnen, und ihr Violinspiel lässt meinen Unterkiefer zuverlässig erdwärts klappen. 
Jetzt Maske runter, hinsetzen. Der Pfarrer lädt dazu ein „verhalten mitzusingen“, als wir „Ubi Caritas et Amor“, das Taizé-Lied, anstimmen, und ich mache dazu auf meiner Querflöte Tüt. Weihwasser wäre natürlich verboten, aber da, wenn ich tauftechnisch einigermaßen ausreichend bewandert bin, sowieso Leitungswasser zum Einsatz kommt, muss beim Kopfguss keine virologische Vorsichtsvariante beachtet werden. Für die Salbung des Täuflings werden natürlich Einweghandschuhe übergezogen, klar. 
Als Mathilda während der Fürbitten durchs Gotteshaus krabbelt und sich an den rot-weißen Absperrbändern zu schaffen macht, die jede zweite Bank sperren, gerate ich in Aufregung, aber nur kurz, denn dann wird wieder gesungen, nämlich „Hebe deine Augen auf“ aus Mendelsohn-Bartholdys Oratorium ‚Elias’ und César Francks „Panis Angelicus“, meine Frau und ihre Opern-Freundinnen singen voll auf die Zwölf, ums im apostolischen Kirchenjargon auszudrücken.
Danke an alle, Maske auf und raus an die frische Luft. 
Bei bestem Wetter entwickelt sich ein wundervolles Fest, neben allen Eltern und vielen Geschwistern sind einige illustre Gäste zu bestaunen, etwa Teresas Doktorvater Wolfgang Mastnak, seines Zeichens Medizinprofessor in Shanghai und derzeit nicht sonderlich erpicht auf eine baldige Rückkehr an seinen Arbeitsplatz, denn chinesische Staatsbeamte müssen nach einer Einreise aus dem Risikoland Bayern auf vier Wochen Quarantäne in ein Militärkrankenhaus in der inneren Mongolei, um danach eine weitere, kürzere Quarantäne in Shanghai zu absolvieren. Standesgemäß erscheint er in einem eleganten chinesischen Traditionsdress und isst die dargereichte Torte mit Stäbchen. 
Irgendwann schießt mir durchs Hinterstübchen: Donnerlüttchen, das ist ziemlich genau die Art Familienfeier, vor der allenthalben gewarnt wird, und je mehr dem kanaanäischen Bier zugesprochen wird, desto körperloser winke ich den sich verabschiedenden Freunden und Familienmitgliedern zu und komme mir entsetzlich unhöflich vor. 
Gestern erreichte mich noch eine wunderbare Nachricht. 
Ich zitiere: 
„Ich lese mir ihre tägliche Kolumne ja gerne durch. Aber bitte schreiben sie nicht täglich ueber dieses Corona. Das kann u will keiner mehr hören u lesen. Ich bin mir sicher, dass sie andere Themen finden. Unterhaltsame Themen u nicht immer ueber diesen Virus. Schreiben Sie mal wieder was Lustiges u Positives. LG aus Bad Ischl“. 
Die Leute werden ungeduldig. Elvis, mach hinne! Heilige Corona, bitt‘ für uns!

13.9.
Es ist ein besonderes, forderndes Vergnügen, morgens um fünf zu erwachen und als erstes, ohne Kaffee, sozusagen auf nüchternen Magen den neuen Gerhard-Schröder-Podcast zu hören. In „Agenda“ lässt der knorrige Heizgashändler sich von seinem damaligen Regierungssprecher interviewen, und ich erfahre, dass Schröder nicht glücklich damit ist, wenn Gerichte Demos erlauben, ohne die Ansteckungsgefahr zu berücksichtigen (wenn ich die kunstvoll gewundene Antwort richtig deute), und liebevoll referiert er über koreanische Maskengepflogenheiten. Merke: Wenn man so richtig verliebt ist, zwickt auch die Ritterrüstung nicht. 
Dazu blättere ich in Sucharit Bhakdis Bestseller „Corona Fehlalarm“, aber beides zusammen überfordert mein Hirn deutlich, wenigstens in der Morgendämmerung. Fühlt sich an wie beinharte Gymnastik, und zwar, ganz konkret: Spagat.
Tolles Tagesprogramm heute: Teresa singt mit Klavierbegleiterin Rie Kimura an fünf verschiedenen Plätzen Lieder von Mendelssohn, Schumann und Schubert, und zwar beim ‚Street Art Song‘ des Hidalgo München, einem Festival für Kunstlied und „urbane Klassik“. Auch andere Gesangskünstler sind unterwegs (10?). 
Ich schiebe joggend den Kinderwagen von Ort zu Ort und bespaße den Nachwuchs, während meine Gattin brilliert. 
Der Start in Moosach um neun ist noch etwas verhalten, aber am Pasinger Rathausplatz wird klar: Das ist eine runde Sache! Noch besser als irgendwelche Soforthilfen oder Rettungsschirme, weil auf diese Weise nicht nur der hungernde Artist, sondern auch das Publikum etwas davon hat. 
In einer Haydn-Biografie las ich mal, dass zu dessen Lebzeiten von den diversen Veranstaltungen alleine im Wiener Stephansdom an die 1000 Musiker lebten. Das ist ja überhaupt eine meiner liebsten Utopien: Dass die Menschheit aus freien Stücken auf Musikkonserven verzichtet und jeder einzelne Ton live dargeboten wird. Fahrstuhltür geht auf, da steht ein Geiger und spielt Burt Bacharach, man macht im Auto das Radio an und im Kofferraum leuchtet eine Warnlampe auf, woraufhin ein singender Keyboarder liegend ans Werk geht; der Dauerläufer trägt keine Kopfhörer, sondern auf einem Bierbike radelt ihm eine Band hinterher, die ein Medley seiner liebsten Lieder spielt. DAS wäre komod! Andererseits: Ohne Tonträger, Streaming etc könnte man morgens um fünf auch nicht Gerhard Schröder hören, bzw er müsste, gemeinsam mit seinem Regierungssprecher neben einem im Bett liegen und mir seine Sicht der Dinge ins Ohr säuseln. Naja.
Mittagessen mit Leander und meinen Eltern im Hirschgarten, dann geht’s weiter. Am Rotkreuzplatz brüllt ein Anwohner „Schnauze!“ in die Kadenz hinein, was mir vom Eventcharakter her außerordentlich gut gefällt. Im Opernhaus hört man derlei Zwischenrufe ja seltener, da wird höchstens giftig gezischelt oder gebuht, niemand trägt sein Herz auf der Zunge - das ist im echten Leben anders. Womöglich löst Corona einen Strassenmusik-Boom aus; all die auftrittslosen Heroen, Mick Jagger, Helene Fischer stehen am Straßenrand und jodeln in den Verkehr - es gäbe schlimmere Wendungen der Kulturgeschichte!
Beim letzten Auftritt am Neuhauser Tramhäuschen sind auch meine Eltern dabei, sie finden’s formidabel, nur mein Papa guckt verkniestert, weil kein Glaserl Wein ausgeschenkt wird, Ihr wisst schon, wegen Dings...

14.9.
Wieder habe ich eine sehr brauchbare, schöne Stoffmaske gefunden („Alltagsmaske“), auf der Straße, offenbar verloren oder aus Verzweiflung entsorgt. 
Mittlerweile packe ich solche Schätze kaltblütig ein, waschen sie lauwarm bis heiß durch und tragen sie auf. 
Wobei ich mich immer häufiger frage, welcher Anfänger sich den Begriff „Alltagsmaske“ ausgedacht hat, wenn es doch offenbar gar keine Festtagsmasken gibt. Aber vielleicht ändert sich dies mit der kalten Jahreszeit: Erstens entfalten schwere, opulente Brokatstoffe erst bei Frost gediegenen Tragekomfort, und zweitens könnte der Dezember völlig neue Maskentypen populär werden lassen: Mit Rentieren, Tannennadeln, mit halben Christbaumkugeln und aus China-Matten, per Lang-Lunte an den Ohren befestigt. Bin ja eh der Meinung, dass man von Anfang an mit der Sexyness von Masken hätte arbeiten müssen. Und warum gibt’s eigentlich immer noch keine coolen Designpreise für Rachenklappen? Fendi-Award. Goldener Zorro. Arteri e Vene Ziano. Positives Feedback jenseits von Solidarität (zieht nicht bei jedem). 
Apropos Holiday Season. Beim Frühschoppen im Palmenhaus wird am Nebentisch das Geschlecht eines noch ungeborenen Babys bekanntgegeben, eine Festivität amerikanischen Ursprungs, die laut meiner Frau „Baby Shower“ heißt (oder so ähnlich). Ich wende zwar ein, dass „Shower“ eine Dusche ist und nach der Geburt unproblematischer durchgeführt werden kann, aber egal. Meine Eltern wiederum fühlen sich sogleich an die „Puppvisite“ in Ostfriesland erinnert. Watt is datt denn? Nach positivem Schwangerschaftstest wird ein großer Topf Ostfriesische Bohnensopp aufgesetzt, also Rosinen in Branntwein, und sobald das Baby geboren ist, kommen Familie, Freunde, Nachbarn, verzehren die Bohnensuppe (außer die stillende Mama und ihre „Puppe“). 
Anders positiv sind die 10.000 Neuinfizierten in Frankreich - von dieser runden Summe erfahre ich kurz, nachdem meine neue Fitnessuhr mir erstmals 10.000 absolvierte Schritte anzeigt. Ich überlege, ob diese Koinzidenz irgendetwas zu bedeuten hat, komme aber schnell auf die Antwort: Nein - ich bin ja kein Franzose. 
Aber Münchner. Hier liegt der Wert weiterhin unter der Fünfziger-Marke, ab der Teile des öffentlichen Lebens gedrosselt werden. Gestern schon las ich in einem Aushang an einer Kita, dass nach den Bestimmungen des städtischen „3-Stufenplans“ derzeit Vorwarnstufe herrsche; womöglich werden in Bälde alle Kinder erneut daheim bleiben müssen, außer man hat systemrelevante Eltern oder ist alleinerziehend. Ich überlege, ob letzteres für manch überlastetes Elternpaar eventuell ein Trennungsgrund sein könnte, verbiete mir die Überlegung jedoch proaktiv, da sie mir unangenehm zynisch vorkommt. 
Was noch? „Corona Fehlalarm“ schafft es bisher nicht, dass ich mich festlese; alles, was drinsteht, weiß ich bereits aus tausenden Medienberichten. Oder waren es Facebook-Einträge? Heutzutage kann man sich ja nur im Spezialfall daran erinnern, wo man was aufgeschnappt hat; alle Schnipsel, Tweets, Kommentare wandern im Laufe des Tages in einen neuronalen Topf und werden dort zu einem zähen Mus eingekocht. 
Nein, vergesst „Corona Fehlalarm“; die beste Lektüre über unsere Ära ist weiterhin „Die Pest in London“ von Daniel Defoe. Auf dem Höhepunkt der Epidemie 1665/66 starben über 1000 Londoner täglich, und immer mehr Häuser standen leer. Die Nachfrage nach Neubauten brach ein, und vom Baugewerbe hingen abertausende Handwerker ab, die pleite gingen - was damals bedeutete, dass es nichts mehr zu essen gab, nicht einmal zähes Mus. Im September 1666 schloss sich an die Epidemie der „große Brand“ an, dem nicht nur viele der wenigen Rest-Bewohner erlagen, sondern auch praktisch alle Pesterreger tragenden Flöhe und Ratten. 
Mit diesem fortissimo-Schlussakkord in Moll endete „The great Plague“, und für das Handwerk ging es wieder aufwärts. 
Keine Ahnung, was wir heutigen Coronesen aus dieser Geschichte lernen können.






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