Mittwoch, 31. Mai 2017

Meuthen, Käßmann und rasierte Beine. 

Während ich gemessenen Abdrucks nach Schwabing rollere, meine Freundin an ihren heutigen Arbeitsplatz begleitend, geht mir die jüngste Kontroverse zwischen Margot Käßmann und der AfD nicht aus dem Kopf. Käßmann lernte ich mal bei einer Fernsehsendung kennen, und als wir anschließend im Auto Richtung Hotel fuhren, erklärte sie mir den spannenden Konflikt zwischen Hannoverscher und Oldenburgischer Landeskirche. Sie war mir sympathisch - ganz im Gegensatz zu Jörg Meuthen, den ich für einen etwas altbackenen Windbeutel halte. Windbeutel, weil er seine Qualitäten völlig überschätzt. Er ist weder ein klassischer Sympath, noch Stratege, und er ist auch nicht gut-bürgerlich, sonst käme er gar nicht darauf, den ollkamelligen Begriff "links-grün versifft" zu verwenden. Die Auseinandersetzungen in der baden-württembergischen Landtagsfraktion zeigen zudem seinen Mangel an Führungsqualität, wobei ich seine Befähigung als Wissenschaftler nicht in Abrede stellen möchte. Die wird er gewiss haben, abgesehen davon, dass mir ein Urteil gar nicht zusteht. Käßmanns theologische Qualitäten kann ich ebenfalls nicht beurteilen - ich kenne mich ja nicht einmal in meinem eigenen Glauben, diesem naiven, torsohaften Privatdialog mit dem lieben Gott, einigermaßen aus. 

Der tatsächliche Sachverhalt lässt sich leicht recherchieren, und das wohlfeile Missverständnis, aus dem die AfD Kapital zu schlagen versucht, entgeht niemandem ohne Mangelcheckung. 

Von der Diskussion um den "kleinen Arierparagrafen" mal ganz abgesehen, kenne ich übrigens kaum jemanden, der keine "nicht-deutschen" Vorfahren hat - meine Mutter zB hieß mit Mädchennamen Kaminski und entstammt einer polnisch-ostfriesischen Sippschaft. Ihr Opa war als Gastarbeiter am Bau Wilhelmshavens beteiligt und blieb anschließend in der Gegend. Väterlicherseits wiederum bin ich nicht nur "bio-deutsch", sondern, schlimmbesser: alle Vorfahren stammten aus Ellenstedt und umzu, seit Jahrhunderten. Übergroße Ohren und besonders kurze Beine waren die Folge. 

Als ich das "Tantris" passiere, denke ich an die etwas verkrampften Versuche der AfD, Käßmann als kranke Schnapsdrossel zu denunzieren. Das ist natürlich einfacher, als über unser deutsches Naturell nachzudenken. Übrigens ist das "Tantris", dieser historische Gourmettempel, im Meuthenschen Sinne versifft: Der Bauunternehmer Fritz Eichbauer ließ sein Traumlokal in den 60ern bauen, und der Auftrag an den Zürcher Architekten Prof. Justus Dahinden lautete: Der Bau soll "exotisch und fremd" wirken. 

Bald rollere ich am Reitstall im Englischen Garten vorbei. Las gerade heute morgen von einer Alpenüberquerung zu Pferd. Angeblich brauche man dafür eine südamerikanische Spezialrasse, und das Gepäck müsse per Auto von Etappenort zu Etappenort transportiert werden - wobei diese Etappen nicht sonderlich weit auseinander liegen: Sechs Tage sind für den Weg vom Ostallgäu zum Reschensee geplant. Da ist man ja zu Fuß deutlich schneller unterwegs, auch in gemessenem Wandertempo. Nein, eine Deutschland-Durchquerung zu Pferd erscheint mir da spannender. Und praktikabler auch. Müsste mit jeder gutmütigen Mähre machbar sein. Und Meuthen gefiele das sicher auch, wegen der stärkeren Akzentuierung des Nationalen. Ist jetzt schon ein Jahr her, dass ich letztmals ritt (siehe Lichtbild). 

Schnapsdrossel, Windbeutel, Tantris, Pferd: Langsam kriege ich Hunger. Ich geh' ma' Happahappa machen.

P.S.: Beine rasiert. Man wird als Mann ja immer wieder gefragt, warum. In diesem Jahr ist die Antwort einfach: Letzte Woche im Schlaflabor wurden an meinen Beinen Elektroden appliziert, und damit sich diese besser festkleben ließen, wurden mir zunächst Trapeze und Drachen in den Pelz gemäht. Diese Bewuchslöcher sahen deutlich bescheuerter aus alle denkbaren Teiltoupet-Lösungen. Oder eben eine Komplettrasur. 


Dienstag, 30. Mai 2017

Kurze Anleitung zum Keineluftmehrkriegen

Meine Feinstaubmaske ist kein Billigprodukt. Sie ist ein Markenartikel aus der Apotheke, ihre Passform überzeugt, und auch ihr Luftfilter ist leistungsstark. Ob sie jedoch auch gegen Pollen hilft? Jene mikroskopisch feinen Plage-Partikel, die mich seit Tagen niesen lassen? Nach dem Morgenkaffee und meinem Teelöffel Polizeibienenhonig (soll, so versichert Imker Andreas, bei täglicher Einnahme und regional passender Blütentracht helfen), schlüpfe ich in eine leichte Sportmontur und laufe los. Bereits vor Inbetriebnahme meiner Haxen offenbart sich die erste Nebenwirkung: Meine Brille beschlägt, so dass ich nur mit Mühe den erstbesten Laternenmasten ausmachen und umlaufen kann. Macht gar nichts; Nebel, Milchglas & Co schulen das avisuelle Orientierungsvermögen. Allerdings braucht gerade das durch temporäre Blindheit herausgeforderte Restsensorium für seine Funktionstüchtigkeit eine Extradosis Sauerstoff. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass leichter Dauerlauf der Bereitstellung eben dieser Dosis dienlich sein kann, jedoch: Die Maske erweist sich als Barriere, nicht nur wenn's um Feinstaub geht, sondern auch in Sachen Oh-Tu. Nein, nicht nichts passiert den Filter, aber doch nicht genug. Risse man sich nicht rechtzeitig die Maske vom Gesicht, stürbe man immerhin blind, sähe also nicht die erschreckend dunkelblaue Verfärbung der Gesichtsfarbe. 

Aber hierauf will ich's gar nicht ankommen lassen. Ich kehre um, hänge meine Maske über den Wohnungstürknauf, bearbeite meine Brillengläser mit dem Fensterleder und starte erneut. Kühn setze ich mich dem Pollenflug aus - der sich auf den kommenden 11 km Trimmtrab allerdings als wenig peinigend entpuppt. Da scheint seit gestern eine Triggerpflanze verblüht zu sein, Hurra! 

Isar nordwärts bis zum Wehr Oberföhring, dann auf der anderen Seite zurück. Bin ich schon deutlich über hundert Mal gelaufen. Landschaftlicher Höhepunkt ist der Blick vom Wehr nach Norden:


Montag, 29. Mai 2017

I wui an Biersee, so groß wie der Schliersee...


"Kombi-Tour" - so nennen die Innenseiter eine kombinierte Rad- und Bergwandertour, oder, ums im Jargon der Mountainbike-Ära auszudrücken: "Bike & Hike". Ich habe schon viele derartige Unternehmungen hinter mich gebracht, aber noch nie habe ich meinen Wohnort München zum Ausgangspunkt einer Kombitour erklärt. Der Grund ist simpel: Die Berge sind halt noch ein gutes Stückchen weit weg. Ab und an liebäugelte ich mit einer Route, die sich vornehmlich im Spätwinter anbietet, wenn man nämlich Radfahrt mit Skitour kombiniert: Man pedaliere südwärts, durch Bad Tölz hindurch, deponiere das Rad an der Brauneck-Bergbahn-Talstation und stiefele auffi. Nun ist der Schnee zwar weg, dafür fallen heute Hitzerekorde, aber man muss ja nicht mit Skiern bergauf; Leguanos tun's ja auch.

8:09. Rauf aufs Crossrad. Start am Viktualienmarkt. Puh, Hitzeschwaden schon jetzt. Flockige Pollennester treiben in der Luft; meine Nase heuschnupft heuer lästig. Immerhin hat man als Sekretsprudelquelle einen guten Grund, Regen herbei zu wünschen. Morgen soll's soweit sein, juhu, aber vorher heißt es: Einfach laufen lassen; Augen zu und durch. Ist es überhaupt schlau, unter diesen Bedingungen zu sporteln? Wir werden sehen. 

Mein Reisetempo ist höchstens mittel, die Herzfrequenz hingegen hoch. Scheint wirklich heiß zu sein, wenn ich den daumendicken Schweissfilm auf meinen Unterarmen richtig interpretiere. In Bad Tölz besuche ich erstmal Edeka - da ist es herrlich schattig, und ich gönne mir ein Kaffeetscherl, eine Banane sowie eine große Tüte Sonnenmilch. 

Von Bad Tölz ist es nicht mehr weit bis Lenggries. Nach lästiger Verirrung, 4 km extra, rotze ich mich durch staubige Baustellen hinauf zur Talstation. Das Rad deponiere ich vor einer hölzernen Bierhumpen-Skulptur. Sakrale Holzschnitzereien haben hier im Isarwinkel eine jahrhundertealte Tradition, und das Bittgebet "I wui an Biersee, so groß wie der Schliersee", schießt mir mit ohrwürmelnder Macht ins Hirn. 

Schniefelrotztröt. Mir geht es nicht gut. Es ist 11:30, ein riesiges blaues Dampfbügeleisen hängt über der Gegend, und klare Brühe suppt mir aus den Nasenlöchern, so dass man meinen könnt', ich trüge eine Sprinkleranlage im Zentralgesicht. Kalte Schauer laufen zudem meinen Rücken auf und nieder, als ich die Radschuhe in einer Hecke verstecke und den steilen Wirtschaftsweg der Skipiste in Angriff nehme. Kein Mensch weit und breit. Doch, nach einer halben Stunde treffe ich ein Pärchen. Er: "Und ich dachte schon, wir sind die einzigen Bekloppten!" Da schießt ihr Hund, ein korpulenter Bullterrier, aus dem Unterholz hervor und auf mich zu. Offenkundig will er mir ins Genital beißen. Während das Pärchen den gliedgeilen Gierschlund in letzter Sekunde zurückpfeift, murmele ich: "Doch, ihr seid die einzigen Bekloppten weit und breit". Immerhin sorgt der Möchtegern-Beißer für Motivation: Wacker acker ich mich nun bergauf, um Abstand zu gewinnen. Die Leguanos sind hierfür durchaus geeignet - nur auf sehr steilem Schotter wünschte man sich etwas mehr Grip. 


Bald passiere ich einen Biersee, so groß wie der Schliersee. Oder ist es doch nur ein Wasserreservoir für die Schneekanonen, die meinen Weg säumen? Tucktucktuck knattert mein Herz. Oder kommen die Geräusche vom Dampfbügeleisen über mir? Unterm Schädeldach kocht der Brägen. Gerne würde ich umrühren. Oder einen nassen Lappen drüber legen. Oder in das Wasserreservoir hüpfen. Oder mich ganz einfach in den Schatten legen und dort dösen. Aber: Hier ist kein Schatten weit und breit. 

Nach einer Stunde Aufstieg habe ich genug Sonne getankt, kehre im Panoramarestaurant ein und bestelle einen Kaiserschmarren. Bin völlig durchgeschwitzt, aber zu müd', um mir etwas trockenes anzuziehen. Lustlos stochere ich im Schmarren herum. Dass ich derlei nicht begeistert und rückstandslos verzehre, ist ein schlechtes Zeichen. Normalerweise kann ich jederzeit beliebige Mengen auch abseitigster Lebensmittel ruckzuck in meinem Innern verschwinden lassen. Hm. Besorgt nehme ich anschließend noch den Gipfel mit, erkläre jedoch oben das Tagespensum für erfüllt. Runter per Seilbahn, Heimfahrt im Zug - das war eigentlich völlig anders geplant. Aber: "Es hat nicht sollen sein" (Dubioser Sportreporter-Sprech. Herkunft unklar).

Und jetzt bitte: Ein dunkles, kühles Plätzchen, an dem ich ein kühles Helles verzehren darf. Und gleich noch eins, Herr Ober. Danke. 



Tagesfazit: Immerhin. Ein Anfang. 

Sonntag, 28. Mai 2017

Halleluja! 

Es ist Sonntag, lieber Leser. Spezialgottesdienst für "Menschen mit und ohne psychische Krankheit" in der Kirche St. Helena am Wettersteinplatz. Das ist ja insofern passend, als dass St. Helena der Verbannungsort von Napoleon war, dem Namensgeber des gleichnamigen Syndroms. Kurzer Kontrollblick: Nein, keiner der Anwesenden hat seine Hand in der Jackenknopfleiste versenkt. Die Band "Rolli-Gang" singt eingängige Popsongs mit starkem 80s-Einfluss. Man denkt an Kajagoogoo und frohlockt, wie es sich eben in der Kirche gehört. "Du bist ok" (so wie Du bist) - das ist die zentrale Botschaft des Tages, und ich begrüße diesen angemessenen Kommentar zur gerade zuende gegangenen GNTM-Staffel.

Anschließend geht's an die Isar. München ist eine jener glücklichen Städte, die zu verlassen grundsätzlich unnötig ist. Für perfekte Urlaubsfreuden begibt man sich einfach an die kiesigen Strände. Da legst di nieder - bei besonders stechender Sonne notfalls unter eine der Brücken, die im Stadtzentrum reichlich vorhanden sind. 


Check des Wetterberichtes: Montag wie heute. Das bedeutet, dass morgen eine sportliche Großtat fällig ist. Stichwort Kombitour, hoch hinaus, Hashtag Angeber, Napoleon. Was ich vorhabe? Noch nicht ganz ausgegoren, aber ich werde mir insofern widersprechen, als dass ich die Münchener Stadtgrenze vorsätzlich und südwärts passieren werde. Ab jetzt nur nicht mehr bewegen. Kräfte sammeln, Kette ölen und früh ins Bett. Halleluja! 


Samstag, 27. Mai 2017

Windel-Wigald, oder: Man muss sich nur zu helfen wissen. 

Aufgrund der großen Nachfrage findet mein Auftritt open-air statt. Vom Lesetisch aus gucke ich westwärts, also in die untergehende Sonne hinein. Nach einer Stunde bin ich blind, und als der Feuerball endlich verschwunden ist, kühle ich in meinem Sommerfummel zügig aus. An das Publikum werden Wolldecken ausgeteilt, wenn ich die flanelligen Einkuschelklänge vor der Bühne richtig interpretiere (sehen tu' ich nix). Als alle Selfies geknipst sind, kratzt mein Hals, und bang röchelnd ertaste ich mir meinen Weg zurück zum Imberggipfel. Neben dem Holzkreuz steht eine Parkbank, auf die ich meine Isomatte lege. Fröstelnd schlüpfe ich in meinen Sommerschlafsack, stülpe meinen Biwaksack drüber und warte darauf, dass mir warm wird. Und warte. Und warte. Gegen zwei meldet sich meine Blase, aber der Gedanke, den Schlafsack zu verlassen, um vom kalten Wind hinüber in die Schweiz getragen zu werden, lässt mich zittrig verharren. Gegen drei Uhr gebe ich schließlich nach. Wann erfindet endlich jemand eine Schlafsacktoilette? Ein Inlett mit integriertem Katheter. Oder ich trage Seniorenpampers, so wie als "Erdkunde-Experte" bei "Quizchampion" (die Aufzeichnung dauert 3,5 h, ohne Werbebreak, da muss man sich zu helfen wissen).


Hinter mir beleuchtet eine helle Sternenkette den Hochgrat. Das müsste das Sternbild der Knopfleiste sein, oder des kleinen Lineals. Oder sind's gar keine Sterne, sondern nur die Lichter der Bergbahn? Immerhin scheint mein Sehvermögen langsam zurückzukehren, und beruhigt falle ich endlich in flachen Schlaf.

Um fünf Uhr glüht der Horizont; ich packe meine Siebensachen und verzichte sogar auf den Esbitkaffee. Nichts wie runter ins Tal, teils un-, teils beschuht (bin heute etwas empfindlich an den Hufen). 

Den Rest des Tages lungere ich mit meiner wasserrattigen Freundin auf extrabequemen Pensionisten-Liegestühlen am Wörthsee herum, und allenthalben füllen Schlauchbootpumpgeräusche, Vogelgezwitscher und Kinderstimmen die Frühsommerluft. Eigentlich bin ich mit ernsthaftem Schwimmvorsatz gekommen, ausgestattet mit allem Pipapo inklusive Badekappe, aber mein Körper wü net. Ehe ich die Badekappe aufsetzen kann, schläft er ein. 


Freitag, 26. Mai 2017

Weltrekord im Barfußbergsteigen mit Gleitsichtbrille 

Ich darf die erste persönliche Bestleistung des Jahres vermelden: Nach Anfahrt mit dem Regionalzug zog ich um 15.19 Uhr die Schuhe aus, schulterte den Rucksack und joggte über feine Asphaltsträsschen vom Bahnhof Oberstaufen hinüber nach Steibis. Die Straßen des Allgäus präsentierten sich besonders barfuß-freundlich; wir sind immerhin im schwäbischen Kulturkreis, in dem der Besen als kultischer Gegenstand verehrt und täglich zum Einsatz gebracht wird. Auf gefegter Piste kam ich flott, fast sportlich die Hügel hinauf.

Nach einer knappen Stunde, an der Talstation der Imbergbahn, änderte sich mein Lauftempo; spitze Steinchen auf dem steilen Wanderweg reduzierten es auf knappe Schrittgeschwindigkeit, und ein Ausweichen auf die benachbarten Wiesen war wegen Elektrozaun und Distelflur nur in seltenen Fällen möglich. Als sehr hinderlich erwies sich auch meine Gleitsichtbrille: Um Trittsicherheit bemüht, trachtete ich nach gewissenhafter Terrainprüfung, und blickte ich durch das Lesefenster am unteren Rand meiner Brille, so sah ich Fuß & Firn nur unscharf. Also beugte ich mich weit über, scannte im Buckelmodus, was das Spekuliereisen wiederum nasenspitzenwärts rutschen ließ. Dies erzwang eine Handkorrektur alle fünf Sekunden und destabilisierte den gesamten Bewegungsablauf. 


Aber meine rutschende Brille konnte mich nicht in die Knie zwingen; ich kämpfte heroisch, vermied alle Aua-Auas, besonders, wenn andere Wanderer in der Nähe waren, und erreichte nach zwei Stunden den Gipfel. Nordwärts hat man von hier einen beseelenden Fernblick; die malträtierten Treter taten plötzlich gar nicht mehr weh, und es ist gut möglich, dass ich im bevorstehenden Bergsommer noch den einen oder anderen Rekordversuch unternehmen werde. Da geht noch was. 


Man mag sich fragen, warum ich denn überhaupt eine Gleitsichtbrille trage, wenn die doch in steilem Gelände so unpraktisch ist. Ich bin hier oben als Gast des Allgäuer Literaturfestivals, also professionell, lese heute Abend im Imberghaus aus "Im Zelt", und das geht, wenn man die 35 überschritten hat, mit Spezialbrille besser. Nach dem Auftritt (sic!) werde ich hier oben übernachten. Unterm wolkenlosen Sternenhimmel. Mein Herz pocht vorfreudig. 


8,5 km, 610 hm


Donnerstag, 25. Mai 2017

Bäcker, Bars und weißes Pulver


Null Uhr: Ich packe meinen Kram zusammen und checke aus. Dann warte ich noch ein Weilchen (das Teamauto hat eine Reifenpanne), ehe wir in einem Taxi zum ersten Drehort fahren. "Brotsommelier" Daniel steht seit 22 Uhr gemeinsam mit zwei Backfischen am Ofen und fertigt Brot & Co. Sensationell! Bisher meinte ich, Bäcker arbeiteten früh morgens. Pustekuchen; seit dem Wegfall der Backstubennutzungsverordnung in den 90er Jahren darf jeder backen, wann er will, und das heißt in der Regel: die ganze Nacht.
Erstaunlich das Tempo, in dem Daniel zu Werke geht. Seine Knet-, Rück- und Wurfbewegungen ähneln Kung-Fu-Schlägen, Pausen sind rar, und breit wie die Wolga rinnt dem hageren Edelbäcker ein Strom mehlsedimentierten Handwerkerschweisses die Stirn hinab.

Zum zweiten "Nachtfalken"-Dreh treffen wir uns an der Davidwache. Kiezpolizist Christian (hier wird geduzt!) führt uns zunächst durchs Revier, zeigt uns U-Haft-Keller und Dachterrasse (Das Zellenbild hat übrigens unser Tonmann Björn geknipst. Seine Fixierung auf die Akustik wird im Bild überdeutlich: Mein Gesicht ist unscharf, während das Ansteckmikrofon an meiner Brust schärfer nicht sein könnte).
Um drei Uhr fährt der Peterwagen ab auf die Reeperbahn, mit mir an Bord. Vatertagsheiligabend; es ist or'ntlich was los. Das Timing stimmt: Ich werde Zeuge eines Gewaltverbrechens am Beatles-Platz. Brummbrumm, tatütata! Kurzes Handgemenge, dann der Polizeigriff. Hilfe, ist das spannend! Der schmächtige Täter wandert ins Kittchen, und Christian sichert ein Tütchen weißen Pulvers für die Aservatenkammer  - diesmal eher kein Delikatess-Mehl, nehme ich an. "A guade Äktschn" würde Terminator-Arni gesagt haben, und ich bin ganz aufgeregt, dass ich dabei sein darf. "Gibt's hier eigentlich Kiez-Zulage?" frage ich. "Man hört viele gute Geschichten. Das ist mehr wert als Geld" antwortet Christian weise.
Live-Krimi: So könnte man auch die öffentlichen Haushalte füllen. Indem man ganovengeiles Publikum auf Streife mitfahren und dafür zahlen lässt. Top-Idee, gell? Namentlich für bankrotte Polizeistaaten bestens geeignet.
Zwitscherzwitscherpiep. Mit Dämmerungsbeginn drehen wir an der Bar des Hotels Henri, wo uns Sebastian, der nette Nighty (Neudeutsch für Nachtportier), von nackten Verwirrten in der Lobby erzählt.
Alle drei Jobs, so lerne ich, bieten dem Jobber ein gewisses Stresspotenzial. Meiner manchmal aber auch, hihi. Um sieben Uhr komme ich an Gate C6 an und freue mich geränderten Auges auf meinen Flug Richtung Kuschelbett in München.
Das Wetter ist prima, perfekt für eine Vatertagstour in die Innenstadt. Und so ist meine Enttäuschung massiv, als das Birdy fahruntüchtig ausgegeben wird: Das Klappscharnier des Lenkers ist defekt, der Befestigungsriegel abgebrochen. Jetzt bin ich noch saurer als müde. Auf den letzten beiden Flügen wurde mein Birdy k.o. geruppt. Schluss damit! Geflogen wird nur noch im absoluten Notfall. Ich fahre eh lieber Zug. Und für die Notfälle muss ich mir etwas überlegen. Schutzhülle? Noppenfolie? Mehr Frustrationstoleranz? Muss überschlafen werden. Und zwar gleich.

16:23. Nachtrag: Nach tiefer Siesta bin ich ein gutes Stündchen im Englischen Garten getretrollert. 22 km.

Mittwoch, 24. Mai 2017

Gähn, schnarch, zuck. 

Schlaflabor Reinbek. Die freundliche MTA verkabelt mich für Elektroenzephalogramm, EKG, Messung der Aktivität der Kiefermuskeln (Zähneknirschen!), der Beinmuskeln, Messung der Atemtätigkeit, Blutsättigung und Blutdruck. So präpariert gönne ich den versammelten Nachtschwestern ein paar Gruppenfotos und putze mir vorsichtig die Zähne. Um 22 Uhr knipse ich sodann das Licht aus und schlafe auf der Stelle ein. Die Nacht verläuft den Umständen entsprechend ruhig: Einige Male erscheint Personal am Bett und korrigiert abgelöste Elektroden, und um fünf Uhr früh werde ich entkabelt. Zwei Stunden später weckt mich mein Kamerateam, dann gehe ich mit dem Schlafmediziner alle Werte durch. Er hält meinen Schlaf für eher unruhig, führt dies jedoch auf den sogenannten "First Night Effect" zurück - die ungewohnte Umgebung. Tiefschlaf habe ich reichlich, REM eher wenig. Kardiowerte unauffällig, Blutdruck optimal. Ich schlafe auf den Seiten und dem Rücken, etwas auch auf dem Bauch. Leichtes Schnarchen, interessanterweise auf der Seite. Spannender Nebenbefund: Mein Fuß zuckt dann und wann, Folge eines gestörten Eisenstoffwechsels. Wahrscheinlich genetisch bedingt. 


Nach dem Frühstück wiederhole ich die gestrige Radtour, fahre also zum Schulauer Fährhaus und lasse mir von der s-teifen Brise "Muss i denn, muss i denn zuhum Städele hinaus..." um die Ohren wehen. Gerne wäre ich nach Glückstadt weitergefahren, aber zum einen ist der Radweg gesperrt, zum anderen meide ich Anstrengung - immerhin liegt ein weiterer Nachtdreh vor mir. Mein Plan: Früh ins Bett, bis null Uhr schlafen, dann an den Set, und von dort direkt zum Flughafen.


Auf dem Rückweg von Wedel besuche ich kurz das "Elbe-Camp", nach Ansicht führender Hipster der coolste Campingplatz wo gibt. Früher war der Platz am Elbufer ein Ort für schwer erziehbare Jugendliche, heute der dernier cri für Schlafsackratten. Ein kurzer Rundgang vermittelt mir einen positiven Eindruck, wobei eine Mitarbeiterin mir verrät, dass der Segen der Weltklasse-Kritiken langsam zum Fluch werde: Man wisse nicht so recht, wie man mit dem erzwungenen Wachstum umgehen solle. Ein Luxusproblem. 


36 km Birdy.

Dienstag, 23. Mai 2017

Zwei Schweine im Laubwald

Für "Gute Nacht - Die Show vorm Einschlafen" habe ich mir nahe Henstedt-Ulzburg von "Waldläufer" Kai de Graf erklären lassen, wie man sich eine Laubhütte baut. Der Trick ist das "schiefe Dreibein", das aus drei Astgabeln besteht, die am Giebel ineinander verschränkt werden. Der Kenner erkennt hieran die Meisterschaft des Totholz-Ingenieurs. 


Sofern die Dachbedeckung aus Laub 30 cm stark ist, kann man sich in dieser Kleinimmobilie regensicher wähnen. Auch das Innere wird reichlich mit Laub gefüllt, um gediegenen Schlafkomfort zu gewährleisten. Der Isolationseffekt der luftigen Laubschicht ist beachtlich; sie ist die uralte, strubbelige Schwester der Noppenfolie. 


Die Nacht verlief angenehm; ab und an rieselte es von der Decke, und tausende Würmer und Kerbtiere sorgten für ein beständiges Rascheln. Gegen zwei Uhr flanierte in Wurfweite ein Wildschwein vorbei, das rhythmisch mit der Nase durchs Laub pflügte und dabei introvertierte Grunz-Gluckser murmelte. Ich lauschte dem Selbstgespräch etwas bang, überlegte, wie ich mich verhalten sollte, falls das Wildschwein auf mich Kurs nähme. Gut, dass ich für Angstgefühle viel zu müde war und das Schwein bald südwärts abschnüffelte. 

Bereits um fünf Uhr wurde ich vom Kamerateam geweckt; schlaftrunken stammelte ich meine Eindrücke in die Kamera, und kaum fünf Minuten später rief die Aufnahmeleitung "Drehschluss". Dies, juchhu, war einer der kürzesten Arbeitstage meines Lebens. Jetzt gehe ich ein Stündchen joggen und lungere rum, ehe es heute Abend um 18 Uhr im Schlaflabor weitergeht. 

10:33 Nachtrag: Nein, ich war doch nicht laufen, sondern bin auf dem Birdy von Eimsbüttel aus an der Elbe entlang zum Willkommhöft nach Wedel geradelt. Endlich habe ich sie mal in Aktion erlebt, die berühmte Schiffsbegrüssungsanlage. 


Hin u zurück 35 km. 

Montag, 22. Mai 2017

Was passiert mit all den vergessenen Fahrradwracks? 


Manchmal ist ja Facebook doch für was gut: Der Chef des Fahrradzentrums in Oldenburg las meinen gestrigen Bericht und bot an, heute Vormittag mein Birdy zu reparieren. Wie praktisch! Und während ein freundlicher Mitarbeiter sich meiner diversen Defekte annahm, führte mich Meister Tom durch sein Reich, zu dem die Radstation hinterm Hbf, das Radzentrum gegenüber, diverse Werkstätten, ein Klamottenladen und ein Holzmöbelfachgeschäft gehören. Gegründet wurde die Firma 1998, und sie beschäftigt neben gesunden auch psychisch kranke Menschen sowie solche mit Behinderung. Das Thema interessiert mich sehr, und ich lasse mir eifrig die Besonderheiten eines solchen Betriebes erklären. 

Spannend auch die beiden Rad-Parkhäuser mit 1500 Plätzen; wobei manch Nutzer bezahlt, sein Rad abstellt und dann nie wieder abholt - ein merkwürdiges Phänomen. Wenn die schliesslich an die eingestaubten Räder gehefteten Zettel längere Zeit unbeachtet bleiben, werden die Waisenräder der Stadt übergeben, die diese dann noch eine Weile zwischenlagert (auf einem ehemaligen Flugplatz), ehe nach einer feierlichen Zeremonie (Mozart-Requiem, gespielt vom Oldenburgischen Fahrradklingel-Chor; Ansprache des Oberbürgermeisters sowie des niedersächsischen Kultusministers) jeder Rahmen entstaubt, einbalsamiert, mit Mullbinden umwickelt und auf einem Nachen über die Hunte transportiert wird. Am fackelbeschienenen Südufer nehmen dann freiwillige Velozipedisten die Ladung entgegen und tragen sie, Beschwörungsformeln murmelnd, zur großen Pyramide an der Holler Landstraße, hinter Ikea, in deren Innern sie ihre letzte Ruhestätte finden. Nach einer alten Oldenburgischen Sage verirrt sich jeder Grabräuber in jenem Labyrinth, das der heiligen Halle vorgelagert ist. Noch kein Unbefugter habe die Pharado-Pyramide lebend verlassen. Also Obacht, liebe Langfinger! 

Kurze Testfahrt: Mein Birdy rollt wieder. Die Mumpsbeule am Vorderrad war übrigens entstanden, weil ich bei der Montage den Schlauch eingeklemmt hatte - typischer Anfängerfehler. Normalerweise knallt's in einem solchen Fall zügig, und dass ich's damit gestern quer durch die norddeutsche Tiefebene geschafft habe, kann nur mir meinem besonders innigen Verhältnis zum Pharado zu tun haben. 

Auf Sport habe ich heute keine Lust. Jetzt Zug nach HH, dort drehe ich Zuspieler für die "Gute Nacht Show". Drei Nachtdrehs hintereinander. Uff; ob ich da Gelegenheit für Leibesübungen haben werde? 

10 Stadttransfer-km. 


Sonntag, 21. Mai 2017

Von Osnabrück über New York nach Oldenburg


Mit'm Klapprad übern großen Teich? Der Reihe nach. Im Team mit Roberto Blanco konnte ich beim gestrigen "Quiz für den Westen" leider nichts mehr reißen. Aber immerhin schaffte es mein 80-Jähriger Kollege, mich Kraft seines kompromisslosen Verzichts auf Wettbewerbsmentalität in Bestlaune zu versetzen. Schnellraterunde: "Welche Soße erfand der Düsseldorfer Sowieso im Jahr 18irgendwas?" beantwortete er mit "Vormittags oder Nachmittags?" Null Punkte. Ein Triumph der Scheißegalité. 


Heute Wecker um halb fünf und ab nach Osnabrück. (Die Strecke Köln-OL, 300 km, steht bei ebenfalls auf'm Zettel, aber momentan fühle ich mich nicht frisch genug. Also heute die moderate Variante). 

Als ich vom Hbf losrolle, ist mir sogleich mein Birdy suspekt. Schwabbeliges Fahrgefühl. Vorgestern habe ich neue, pannensichere Mäntel aufgezogen. Muss zentriert werden? Da springt auch schon die Kette ab, au wei! Ich schaue bang aufs Kettenblatt. Es hat einen monumentalen Schlag, eiert unrund vor sich hin. Halunke, wo bist Du?! Wer hat mein Rad kaputt gemacht? Muss wohl beim Lufttransport von M nach K passiert sein, gestern. Der Haken, mit dem das Vorderrad am Restrahmen befestigt wird, ist auch kaputt. Aber immerhin komme ich vorwärts, nachdem ich die Kette füßelnd wieder aufgelegt habe. Hm. Ob ich es auf dieser ramponierten Mähre bis zu meinen Eltern nach Oldenburg schaffe? Dort gibt es heute Mittag Schnibbelbohnen. Daumen drücken! 


Osnabrück ist am Sonntagmorgen enorm verpennt, öder als in den schlimmsten Vorurteilen, die man gerade als Oldenburger genüsslich pflegt. Umso spannender präsentiert sich das nördliche Umland. Zunächst passiere ich Kalkriese, wo die berühmte Varusschlacht stattfand, und ich male mir tausende römische Legionäre aus, die verängstigt und verdrossen, sehr fern der Heimat, in diesem Wald eins auf die Mütze kriegten. Und zwar bei deutlich mieserem Wetter als heute. Nein, die Römer werden Osnabrück nicht langweilig gefunden haben, eher schon unangenehm aufregend. Ich schaue konzentriert nach Überbleibseln. Liegt da ein Stück römischer Rüstung im Rinnstein? Nein, s'ist nur eine Red-Bull-Dose. Gut auch der Ortsname Lappenstuhl. Hihi. Und einen Alfsee gibt's in der Nähe auch, null problemo! 


Dann: Moor! Echtes Moor, mit Torfstich! So richtig wie früher. Sensation! Ich dachte, sowas sei schon seit Kanzler Helmut Schmidt verboten, von wegen Umweltschutz. In langen Reihen sind die Torfsoden zum Trocken aufgereiht. Werden die verfeuert? Im Kraftwerk? Viele meiner Vorfahren waren Torfbauern und starben mit 40 an Altersschwäche; ich bin familiär dem braunen Sumpf verbunden - ob ich will oder nicht. 

Aufs Camper Moor folgt sogleich der nächste Höhepunkt: Die Dammer Berge - Autofahrern wegen der dazugehörigen Autobahnraststätte ein Begriff. Vom Fahrrad aus passiert man nördlich von Damme ein grünes Schild, auf dem "Dammer Schweiz" steht. Dann ein 10-minütiger, moderater Anstieg. Den "Gipfel" markiert das "Schweizer Haus", ein Ausflugslokal. Runterwärts machen Baumwurzeln den Radweg rumpelig, und mein angeschlagener Drahtesel jault vor Schmerz. 

Vechta. "Verein ehemaliger Christen" deuteten wir das KfZ-Kennzeichen VEC, während CLP "Christliches Lumpenpack" bedeuten sollte. Tiefreligiöse Gegend, katholischer als die Sprosse der Familie Boning aus Goldenstedt ist schwer möglich (ich bin die Ausnahme). 

Kurz halte ich nach dem Rolf Dieter Brinkmann-Haus Ausschau, das vor einigen Jahren eröffnet wurde. Brinkmann ist einer meiner persönlichen Helden und der wichtigste Sohn der Stadt Vechta sowieso. Das hören die Vechtaer nur gar nicht so gern. Nestbeschmutzer, der. Brinkmann hörte ich erstmals ca. 2000 auf einer nächtlichen Autofahrt im Radio. Eine Dichterlesung auf Englisch. Ich wusste sofort, wer da spricht, und zwar wegen des typischen südoldenburgischen Akzent. Es war "The Last One", live in Cambridge. Wutbürger in gut. 

Am Ahlhorner Dreieck steht dann die Freiheitsstatue im Vorgarten eines Spargellokals. 2 m hoch. Leider ohne Inschrift. Auf dem Original liest man das folgende Gedicht von Emma Lazarus: 


Puh, da kriege ich sofort Gänsehaut (wenngleich die Praxis in Ellis Island nicht immer ganz so einladend war). 

Inzwischen ahne ich, dass nicht die Laufräder zentriert werden müssen, sondern der vordere Mantel der Übeltäter ist, offenbar ein Montagsexemplar, mit merkwürdiger Gummibeule. Mantel-Mumps? Das ganze Rad muss dringend in die Werkstatt. Am teuersten dürfte das neue Kettenblatt werden. 

Am Sager Commenwealth-Friedhof vorbei nähere ich mich Oldenburg, das letzte Stück auf'm Deich des Osternburger Kanals, und nach 109 km im 23er Schnitt (leichter Rückenwind) klingele ich bei Mama und Papa. Schnibbelbohnen, lecker. Danke, krankes Birdy, fürs Duchhalten! 




Samstag, 20. Mai 2017

In der aktuellen "BikeBild" steht: 

Das war ein angenehmer Tag, damals, und der entstandene Artikel ist durchaus einladend zum Radeln - das war mein persönliches Ziel bei der Sache. Einige Kleinigkeiten sind sachlich nicht richtig, etwa beträgt die Strecke von HH nach Winsen keine 80 km. Eher 30 oder so ähnlich (Ich möchte bitte nicht für einen Aufschneider gehalten werden). Aber was soll ich mich drüber ärgern - für Wutwallungen gibt's momentan bessere Gründe.

Die ganze Nacht habe ich mit der gestrigen S-Bahn-Kontrolle gehadert. Heute nun radelte ich per Birdy zum Flughafen München, der just jetzt seinen 25. Geburtstag feiert. Im Zuge des Jubiläums sind allerhand Festzelte errichtet, die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt - und die Radwege gesperrt. "Soup au lait", Milchsuppe: So nennt man auf französisch einen aufbrausenden, leicht überschäumenden Menschen. Moi. In scharfem Ton herrsche ich den Sicherheitsmann an: "Ich habe ein Ticket, wie komme ich jetzt zum Flugsteig?" Der schmunzelt und empfiehlt die S-Bahn, was ich natürlich ablehne. "Der Laden stinkt mir!" - "Das kann ich verstehen", nickt der Securist, " dann bleibt ja nur die Schnellstraße". Ich knirsche mit den Zähnen wie ein prasselndes Osterfeuer. "Ja, dann bleibt wohl nur die Schnellstraße" äffe ich ihn nach, "da sind Fahrräder verboten, aber hilft ja nix". Und prompt trage ich das Rad über die S-Bahn-Treppe, steige ab zum Standstreifen und rolle an der Leitplanke entlang zum Terminal 2. Auf nach Köln; da versuche ich heute bei in einer WDR-Show ("Das Quiz für den Westen") ein paar Öcken für Dravet-Syndrom e.V. zu erspielen, dessen Schirmherr ich bin. 

Und jetzt erstmal runterregeln. An den Wegrändern blühen die Wiesenwitwenblumen. Lange Hosen braucht niemand mehr. Und vorgestern habe ich Steckrüben gekocht, "Oldenburger Südfrüchte", mit Ochsenschwanz. Das schmeckte wie bei Muttern, und alle wurden satt. Es gibt also auch gute Nachrichten in diesen Tagen. 


Freitag, 19. Mai 2017

Ulli Hoeneß und ich. 

 

Gut: Sohn Leander begleitet mich morgens zum zweiten Tag der "Ghostsitter"-Hörspiel-Aufnahme zur Bummfilm nach Otterfing. Leander hat in den letzten Wochen das Fahrradfahren für sich entdeckt und einige 80-km-Touren hinter sich gebracht - mitunter sogar alleine und bei Dreckswetter. "Aus Langeweile" antwortet er auf die Frage nach seiner Motivation, und die Begründung ist durchaus glaubwürdig, nachdem er einem eventuellen Studium zunächst ein Sabbatical vorangestellt hat. Also rollen wir einträchtig durchs frühsommerliche Oberbayern und diskutieren die Rede Ulli Hoeneß' ("Jeder hat das Recht, sich ungerecht behandelt zu fühlen"), den Brexit ("Früher galten die Briten als besonders rational, heute sind sie mehr, äh, hormonell gesteuert") und Nationalratswahl in Österreich ("Kurz hat lange Ohren"). Da wir beide unsere Diskussionsbeiträge gerne gestisch untermalen, radeln wir vorwiegend freihändig. 


Wo sich vorgestern noch die bronzene Blindschleiche im Siberlicht aalte, steht heute ein goldiges Rehkitz, reg- und arglos. Kaum fünf Meter trennen uns; wir blicken uns an wie Gut und Böse im Showdown von "High Noon", dann fällt kein Schuss, und wir passieren beglückt den Faunaklimax des heutigen Tages.

Für "Ghostsitter" spreche ich den Rechtsanwalt Rufus T. Feuerflieg, einen überkandidelten Schnellredner à la Groucho Marx. Alle Dialoge werden gemeinsam von allen Beteiligten eingesprochen, u.a. von Kollege Bernhard Hoecker, und diese Vorgehensweise macht die Chose angenehm lebendig. 

Alle 15 Minuten ordnet Tommy eine Lüftungspause an und fügt verdächtig offensiv an, dass dies nicht mit dem Aroma meines Radlwams zu tun habe. Hm. Wechselkleidung habe ich keine dabei. Wenn Hörspielproduktionen einen Vorteil haben, dann doch den, dass die Kleidung völlig egal ist. Dachte ich.

Als der Heimweg ansteht, warnt man uns eindringlich vor der Radfahrt nach München. Schwere Unwetter mit Golfball-Hagelschlag hätten bereits ein Produktionsauto beschädigt. Als wir zudem ein paar Inline Skates stadtwärts transportieren sollen, folge ich höflichkeitshalber den Empfehlungen meiner Kollegen, den Rückweg doch besser per S-Bahn zurückzulegen. Wir stempeln Streifenkarten ab (auch für die Räder) und steigen in den spärlich besetzten Zug ein - vorschriftsmäßig, wie wir glauben. Prompt geraten wir in eine Fahrkartenkontrolle und erfahren, dass Fahrräder zwischen 16 und 18 Uhr in der S-Bahn verboten sind - außerdem brauche man eine Fahrrad-Tageskarte der DB. Ein doppeltes Fahrpreiserschleichungsdelikt quasi. Meine Halsschlagader schwillt auf Überbrückungskabelstärke an, und mit der Stimmfärbung einer gereizten Klapperschlange zische ich meinen Dank für die ausgedruckte Kostennote hervor. 120 €. Ohne böse Absicht. Der Kontrolleur: "Ich kann leider keinen Promibonus anwenden, weil: wir haben hier überall Kameras". Meine Stimmung kippt endgültig, und ich skandiere heiser: "Es! Ist! Ja! Wohl! Auch! Völlig! Egal! Wer! Ich! Bin!" Oh, wie ich sie alle hasse: Den ÖPNV und seine kafkaesken Regularien. Die Autos auch. Und meinen Heuschnupfen. Lasst mich einfach radeln, Ihr alle! (Dass wir durchs Zugfenster keinen Tropfen, kein Hagelkörnchen sehen, möchte ich an dieser Stelle am liebsten gar nicht erwähnen). 

Ja, jeder hat das Recht, sich ungerecht behandelt zu fühlen. Nicht nur Ulli Hoeneß. 

36 km.


Donnerstag, 18. Mai 2017

Klingelingeling, hier kommt der...

Traumtag, total Tretroller-tauglich. Meine Freundin hat morgens in Hasenbergl zu tun, Münchens wildem Nordwesten, hinter BMW, dort, wo die Erlkönige in zweiter Reihe parken, wo die sperrhölzernen Bärenfellmützenträger der "Kingsgard-Textilpflege"-Filialen die bestgekleideten Passanten sind und der Plattenbau (West) einen seiner historischen Siege feierte. 

Aber erstmal hinkommen. Der Zweirad-Verkehr ist dicht wie ein Abflussrohr in  der Kanalisation des alten Islamabad. Lastenfahrräder mit Kindern drin, Studenten, verwitterte Komparserie aus "Zur Sache Schätzchen", und alle, alle haben's eilig. Zwischendurch werden wir von wirren Autofahrern angehupt, und ich motze beherzt mit meiner Oldenburg-Klingel zurück. Pass up do! Als Tretrollerfahrer ist man etwa so schnell wie eine sehr alte Tourenradlerin, auf den ersten Metern jedoch spritziger. Laut Straßenverkehrsordnung gilt ein Roller allerdings als "Kinderspielzeug", unterliegt keiner Beleuchtungspflicht und darf, ja muss, Trottoirs befahren. Man ist also nicht Fisch, nicht Fleisch. Vogel wäre gut, dann höb' man ab und hätt' sei Ruh'. 

Kurz vor knapp geht meiner Komoot-App der Strom aus, und so verlasse ich mich für den Rückweg auf die städtische Radweg-Beschilderung. Ist eh viel besser. "Radl-Autobahn" - so nennt man in Minga diese kreuzungsarmen Schnellwege. Daran kann man gut sehen, welche Fahrzeugklasse den Verkehr dominiert (ich warte auf ein Zeitalter, in dem man eine exklusive Kraftfahrtstrasse "Auto-Radweg" nennt). 

Viele Pollen in der Luft. Ich schniefe asthmatisch - wie bereits im Lenz vor drei Jahren. Daheim durchstöbere ich das Internet nach Einkaufsquellen für Atemschutzmasken. Jemand sagte mir zwar, die taugten nicht gegen Pollen - aber ich würde es dennoch gerne selber ausprobieren, schon alleine wegen der inkognitisierenden Optik. Vielleicht sowas? 


Strecke: 25 km, 2h

Mittwoch, 17. Mai 2017

Ist Arbeit tatsächlich die Folge der Erbsünde? 

"Arbeit ist die Folge der Erbsünde" seufzte meine fromme Oma mütterlicherseits oft und gern. Ich stelle ihre Sicht ungern in Frage, aber mindestens ein Aspekt am Erwerbsleben gefällt mir ausgezeichnet: der Arbeitsweg. Arbeit ist für mich deswegen unverzichtbar, weil sie mir Gelegenheit gibt, mich morgens aufs Rad zu schwingen und an den Arbeitsplatz zu eilen. Heute befindet sich dieser bei der Bummfilm, in Otterfing, 30 km südlich von München. Das Hörspiel "Ghostsitter" wird dorten eingesprochen, und so eile ich auf meinem Crossrad am oiden 60er-Stadion und dem Trainingsgelände des FC Bayern vorbei durch den Perlacher Forst. Mannometer, Ihr Autofahrer, habt Ihr einen Schimmer, was Euch entgeht? Die Natur feiert sich selbst, ekstatisch, es riecht nach Feuchtholz, Chlorophyll und Dung, man meint in der Höhe bis an die fernsten Ränder des Universums blicken zu können, und vor mir paradieren die Alpen, weiß geschminkt wie thailändische Ladyboys auf einem Laufsteg. 


Kurz vor Sauerlach, auf dem "Eisenbahnstrassl", einer Schotterpiste neben der Bahnlinie Richtung Tegernsee, erlebe ich dann auch schon meinen Tageshöhepunkt: Eine Blindschleiche liegt im Prachtlicht und tankt Wärme. Ich steige ab, verwickle sie in einen kurzen Plausch (Wahl in NRW, Trump verrät Staatsgeheimnisse an Russland, ESC), dann wünsche ich Ihr einen angenehmen Resttag und fahre weiter, so dass ich nach eineinhalb Stunden im Studio eintreffe. 


Regie führt Tommy Krappweis, dessen Papa unlängst beim Radtraining ums Leben kam. Werner war 75, früher in der Nationalmannschaft der Rennradler, und fuhr auch als Senior mehrmals wöchentlich 80-km-Touren. Die Bücher "Vorzelt zur Hölle" und "Sportlerkind" machten ihn einem größerem Publikum bekannt. Werner war hurtig, hilfsbereit, herzlicher Humorist und hintersinniger Haudegen, Herzensbrecher und Hallodri - und hiermit zähle ich nur jene seiner Vorzüge auf, die mit "h" beginnen. Immerhin war er sofort tot, nachdem auf einer Abfahrt das Automobil vor ihm eine grundlose Vollbremsung hinlegte und er chancenlos auffuhr. Er hat sich einen derartigen Tod immer gewünscht: Vom Rad fallen - tot. Hat er mir selber mal gesagt. Allein: Der Trost ist schwach. 

Der Berg, an dem der Unfall passierte, soll, so wünscht sich sein Radsportverein, in "Werni-Berg" umbenannt werden und veranstaltet zu seinen Ehren eine Sternfahrt. Blühende Rapsfelder und wonnemonatliches Gesummse passiere ich auf meiner nachmittäglichen Heimfahrt und gedenke seiner inniglich. Leute, bitte fahrt vorsichtig!


Macht zusammen 64 km, 3h

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