Sonntag, 16. Februar 2020

Niemand ist konservativer als ich

Gerade erst gestern legte ich mir eine moosgrüne Jagdkotze zu, einen ponchohaften Überwurf, unter dem ich aussehe wie ein verschimmelter Inka. 
Zu Hugo Egon Balders bevorstehendem runden Geburtstag werde ich komplett in Halali erscheinen, mit Kniebundhose und Karokniestrümpfen. Hugo hat es sich so gewünscht, quasi als Geburtstagsgeschenk (normalerweise bevorzuge ich Frack und Zylinder, oder wenigstens Kreissäge). Crazy shit? I wo! 
Jeans und T-Shirts gehen mir nicht zuletzt als Anglizismen auf den Zeiger, zumal das Amerika Trumps und BoJos Königreich derzeit nicht zu meinen Traumdestinationen gehören. 
Lieber spreche ich Französisch, die Sprache jener Diplomaten, die noch anständig mit Messer und Gabel essen konnten. Wenn‘s nach mir ginge, wäre Französisch die Lingua franca der EU - aber ich werde wahrscheinlich auch heute wieder ungefragt bleiben. Das ist nicht schlimm; Trost finde ich bei Lully, Goethe, John Cage, Coltrane und Emily Dickenson (Sie müssen nicht googeln; sind alle tot) und natürlich bei meiner Frau (quitschfidel und puppenlustig). Geheiratet haben wir im Kloster St. Ottilien, und getraut hat uns der Erzabt der Missionsbenediktiner. 
Meine Frau ist Opernsängerin und Wissenschaftlerin (sie hat zum Thema „Funktionale Gesangspädagogik im psychiatrischen Setting“ promoviert), und viele Sonntagvormittage verbringt sie singend auf Kirchenemporen (während ich die Kinder hüte). 
Für meine eigenen Gebete bevorzuge ich leere Gotteshäuser, wobei ich den lieben Gott selten um etwas bitte, mich dafür umso inbrünstiger bedanke - meistens dafür, dass ich unter den Lebenden weilen darf, auf diesem schönen, vielseitigen Planeten. 
Ich koche gerne Hausmannkost, Kohlrouladen, Eintöpfe, vor allem jedoch Grünkohl und Pinkel. Für mich als Oldenburger ist dies elementarer Bestandteil meiner kulturellen Identität. Mit dem Konzept „Deutschland“ kann ich kaum mehr anfangen als mit dem sonstigen Europa, geborgen fühle ich mich vor allem im Schoße des alten Großherzogtums in den Grenzen von 1818. 
Oldenburg ist mein geistiger Dreh- und Angelpunkt, mein New York, Dangast mein Brighton, Wangerooge mein Bermuda. 
Ein Jammer, dass Oldenburg nach dem Krieg in Niedersachsen aufging, aber soo sehr interessiert mich nun auch wieder nicht, was irgendwelche englischen Offiziere einst in ihre Karten kritzelten, solange die Versorgung mit Kohl und Pinkel gesichert ist. 
Dass es mich schon vor 30 Jahren nach Bayern verschlagen hat und ich nach Artikel 6 der bayerischen Verfassung durch meine Eheschließung zum Bayer geworden bin, ich mithin über die doppelte Staatsbürgerschaft verfüge, stimmt mich vergnügt - zumal Amalie, die Gattin des Wittelsbacher Otto I. auf dem griechischen Thron, aus dem Hause Oldenburg stammte und ich mich in ihren Fußstapfen wähne. 
Apropos Fußstapfen. Autos lehne ich ab. Ich bevorzuge Spazierstock, Fahrrad, Eisenbahn und Tretroller. Vor allem die Tretroller der Amischen haben es mir angetan, wie ich überhaupt glaube, dass wir von den Amischen einiges lernen können - nicht, wenn‘s um das Schlagen von Frauen und Kindern geht (ich bin dagegen), sondern wenn‘s um ein gedeihliches Miteinander von Mensch und Natur geht (ich bin dafür). 
An Flugzeugen habe ich wenig Spaß. Das einzige Verkehrsflugzeug, das mich wirklich begeisterte, war die Concorde, und die gibt’s ja nun nicht mehr. Statt Flugzeuge favorisiere ich Luftschiffe, CO2-neutral großflächig mit Solarzellen verkleidet. Bin mal in der „König Pilsener“ mitgefahren; mit 60 Sachen und heruntergekurbelten Fenstern in einer silbrigen Zigarre durch den Sommerwind - das ist mein Geschmack! 
Da fällt mir ein, dass ich mir zu meiner Jägerkluft eine gekrümmte Porzellanpfeife zulegen wollte. Nicht vergessen! Nein, rauchen möchte ich sie nicht, mir gehts ganz burschikos um die Optik. Zudem kann man vielleicht Pinimenthol einfüllen und die Pfeife als Inhalator verwenden. 
Von der Gleichberechtigung der Frau halte ich nichts. Ich persönlich würde es begrüßen, wenn nach Jahrhunderten des Patriachats jetzt erstmal eine Weile Frauen das Sagen hätten (wir Männer sind testosteronbedingt gehandicapt und sollten, ganz im Ernst, alle wichtigen Entscheidungen den Frauen überlasse). In ein paar Jahrhunderten können wir ja bilanzieren und gegebenenfalls erneut tauschen - wenn es unsere Spezies dann überhaupt noch gibt. Vielleicht werden wir ja auch durch KI abgelöst und geraten unter das Joch irgendwelcher vernetzten Meerschaumpfeifen zB. 
Mein persönlicher Rückzugsort für die bevorstehenden Rückzugsgefechte, soviel ist klar, wird die Kunst sein. Ihr Wesen, ihre Methoden zu bewahren, halte ich für die wichtigste Aufgabe des Konservatismus, denn wer wäre bereit, güldene Sternthaler in Orchestergräben regnen zu lassen, aus denen Ligety und Gluck empor glucksen, wenn nicht wir? 
Die Kunst wird immer stärker sein als KI, denn neben Intelligenz (kann, muss aber nicht) ist die Liebe ihre wichtigste Zuthat. Kein Elektronengehirn hätte sich jemals die „Zauberflöte“ ausdenken können, von Sun Ras Solar Myth Arkestra ganz zu schweigen. 
Ebensowenig wie an die KI glaube ich an PC, „Political Correctness“. Sprechvorschriften sind mir ein Gräuel, aber da ich privat in der Regel Sütterlin schreibe, bemerken nur wenige, wenn ich „Student“ oder ähnliche Reizwörter zu Papier bringe. Dass ich die „alte“ Rechtschreibung verwende und je nach Lust und Laune sogar Thal, Thon, Thor, Thal, Thräne, thun und Thür schreibe, nämlich gemäß den Rechtschreibregeln des Jahres 1901, lässt mich in den Augen progressiver Sprachwächter als ein Fall für verschärfte Gesangspädagogik im psychiatrischen Setting erscheinen, mindestens.
Leider können mich meine Sütterlinkenntnisse in den sozialen Netzwerken nicht schützen. Neulich etwa bei Twitter: Es ging um das Verbot von Faschingsverkleidungen in Kitas, welches eine Hochschullehrkraft aus Berlin-Mitte befürwortete, weil ein Indianerkostüm beim Kind rassistische Stereotype implementiere und sich Native Americans zudem auf den Schlips getreten fühlen könnten. Ich kommentierte, dass ich als Kind viel Cowboy-und-Indianer gespielt habe und nach meiner Erfahrung alle Kinder am liebsten Winnetou bzw dessen Stammesmitglieder gespielt hätten. Weiß wollte niemand sein (Ausnahme: Old Shatterhand). . Außerdem, so schrieb ich, ähnele Winnetou dem Heldentypus eines Robin Hood, dessen Rebellion gegen die (rassistische) Tyrannei uns Kindern als positives Rollenvorbild gedient habe. Den Hinweis, dass sich kaum ein Apache durch das Spiel an deutschen Kitas gestört fühlen dürfte, verkniff ich mir. Trotzdem wurde ich von einer Diskussionsteilnehmerin sogleich geblockt. Nun gut, so ist das im Internet. Warum bleibe ich auch nicht bei meinen Postkarten, die ich seit einiger Zeit voller Begeisterung an meine Gattin schicke, am liebsten täglich. 
So konservativ ich privat sein mag - vom politischen Konservatismus halte ich nicht viel. Die meisten seiner Rezepte erscheinen mir untauglich, etwa die Rückkehr zum Nationalismus, zum „Europäischen Konzert der Großmächte“ oder zum völkischen Denken, vom Leugnen der Klimakrise ganz zu schweigen. Wunsch und Wirklichkeit sind allzu oft nur mit der Brechstange in Einklang zu bringen, und wo erstmal die Brechstange zum Einsatz kommt, ist auch der Baseballschläger nicht weit.
Nein, ich pflege meinen Konservatismus lieber privat, das ist gesünder für alle. Und jetzt rein in die Kotze und raus an die frische Luft. Mein Luftschiff legt ab. 



The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

Beliebte Beiträge