Donnerstag, 28. Februar 2019

Hunde, wollt ihr ewig jodeln?


Ein Mann betritt die Tram, bayerischer geht‘s nicht. Lederhose, Filzhut mit Gamsbart, opulenter Zwirbelbart auch im Gesicht, ordentlich Bauchspeck, a richtiger Mo. Zwei große Hunde hat er dabei, die zu seinen Haferlschuhen Platz nehmen. Während ich noch denke: Bayern bietet seinen Bürgern einen besonderen Service, nämlich: Wer will, kann seine individuelle Identität ganz einfach durch eine höhere Form des Menschseins ersetzen, nämlich indem er sich passend anzieht und zu einem bayrischen Mannsbuid wird. Vormittags zwoa Hoibe und an Schnalzer, mittags a saures Lüngerl oder an gscheiten Bries, und auf geht‘s beim Schichtl. Genau das, was in der Globalisierung immer vermisst wird - die Verankerung in der Heimat. Habe ich „Anker" geschrieben? A Schmarrn, des passt nicht, der Anker gehört zu dena Preissn, pfui deifi. Dann denke ich an den schlauen englischen Publizisten David Goodhart, der zwischen „Anywheres" und „Somewheres" unterschied: Erstere kommen überall zurecht, letztere brauchen zu ihrem Glück die Heimat. Und während ich dies so vor mich hin denke, hat meine Frau den Prachtbayern bereits in ein Gespräch unter Hundefreunden verstrickt, dem ich (scheinbar desinteressiert) lausche. Also, beides sind Rüden. Vertragen die sich? Sicher, ist alles eine Frage der Erziehung. Ab und zu eine Backfotzn, und die Sache läuft. Aha, der Mann schlägt die Hunde. Verstehe. 



Sodann referiert er über bayerische Rassen: Riesenschnautzer, Rottweiler, und, natürlich, der Dackel. Das seien die besten Hunde der Welt, und die würden sich auch untereinander automatisch gut miteinander verstehen, weil sie eben alle Bayern sind. Apropos Welt: „Brot für die Welt, ja, aber die Wurscht bleibt hier", witzelt er. Übrigens, und damit kommen wir zu einer etwas sonderbaren Pointe, spricht der Wurschtfreund gar kein Bayerisch, sondern hessisch. Fast babbelt er. Ok, vielleicht kommt er von der Grenze, aus Mainfranken. Oder er hat eine Dialektstörung, einen seltenen Lautbildungsdefekt. Herrjemine; da kämpft einer um die perfekte Darstellung eines Bayern, und dann sowas. 
Später begegnen wir ihm wieder, am Viktualienmarkt. Er sitzt in der Sonne und trinkt ein Weißbier. „Lange nicht gesehen" winkt er jovial, und wir winken zart lächelnd zurück. 





Und täglich grüsst der Brexiteer



Zu den meistbesuchten Apps auf meinem Schlaufon gehören „The Guardian", „The Sun" und „BBC News". Seit dem Plebiszit 2016, das mich wie ein Paukenschlag aus dem Schlaf des naiven Europa-Optimisten riss, versuche ich tagtäglich zu ergründen, worauf die Briten eigentlich hinauswollen, ob Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg tatsächlich selber glauben, was sie predigen, und wie Premierministerin May es bis heute geschafft hat, in nahezu jeder Rede die gleichen Formeln zu verwenden und dabei Jeremy Corbyn erstaunlich klein zu halten. Die einzige positive Identifikationsfigur, die mir in diesem ganzen, quälend langen Irrlauf begegnet ist, heisst John Bercow und ist der Sprecher des Unterhauses. Immer wieder schafft er es, bei aller Neutralität, zu der ihn sein Amt verpflichtet, luziden Witz und Realitätssinn zu demonstrieren. Ja, die schnöde Realität- das ist ein Gut, dessen Akzeptanz im heutigen England besonders schlechte Karten hat. Von Beginn der Austrittsverhandlungen an konnte man in den englischen Medien vor allem mit Visionen punkten, die bei nüchterner Betrachtung zu Skepsis führen sollten, etwa das Konzept „Global Britain" oder die Annahme, dass die EU sich noch während der Verhandlungen selbst auflösen werde. Ich war stets hin- und hergerissen. Einerseits bin ich das, was Merkel mal intern abfällig einen „Herz-Jesu-Europäer" genannt haben soll: Ich wünsche mir nichts weniger als eine europäische Republik, mit einer legislativen Musik, die im Europaparlament spielt, und nicht in der Kommission. Andererseits liebe ich die Tradition der englischen Exzentriker, habe Edith Sitwells Bücher über die „menschliche Amphibie" Lord Rokeby und seine schrulligen Kollegen mehrfach gelesen und schliesse einen freundlichen Nickelbrillenträger, der allen Ernstes mit Chapeau Claque auftritt, sofort ins Herz. Allein: Jacob Rees-Mogg (das ist der Typ mit Zylinder) hat in England viele Anhänger, die sein Konzept des „Zurück ins 19. Jahrhundert" für tatsächlich tauglich halten. Puh. Ich glaube: Ja, UK kann sich alleine gegen alle auf dem Weltmarkt behaupten, wenn zB jeder Arbeitnehmer bis auf weiteres auf 10% seines Einkommens verzichtet. Die Wettbewerbsfähigkeit würde einen solchen Schub erhalten, alle Nachteile durch Zollschranken wären aufgefangen, dass das Konzept „Der Starke ist am mächtigsten allein" durchaus zum Erfolg führen könnte. Wo, wenn nicht in England wäre ein solch tollkühner Weg möglich? Blut, Schweiß und Tränen - das wäre die passende Tonlage. Aber diese Tonlage will derzeit niemand freiwillig hören - schon gar nicht die vielen Anhänger des Brexits, die sich von ihrem Votum vor allem eine Gesundung des National Health Service und weitere staatliche Wohltaten versprochen haben, eine Abschottung gegen die fordernden Geister der Globalisierung, also weniger, nicht mehr Wettbewerb. 
Jetzt ist alles verfahren, verkeilt, vergeigt. Was tun? Ein No-Deal-Szenario nutzt niemandem, eine Verschiebung macht alles nur komplizierter, ein zweites Referendum würde die Spaltung der Briten nur weiter vertiefen. Egal, wie es ausgehen würde: Die unterlegene Seite würde sich betrogen fühlen. Mays ausgehandelter Deal wird keine Mehrheit finden. Was aber denkbar wäre: dass die pro-europäischen Konservativen sich mit den pro-europäischen Labour-Abgeordneten zusammenschliessen und für eine Zollunion kämpfen, also dass, was bisher immer „Norwegen plus" genannt wurde (wobei ich nie kapiert habe, wofür das „Plus" eigentlich stehen soll). GB wäre raus aus der EU, die Modalitäten bereits annähernd durchverhandelt. Nachteil: So wie Norwegen oder die Schweiz übernimmt man die Regelungen der EU, ohne selber mitbestimmen zu können. Und genau dieser Umstand könnte dann ja - später, nach einer Phase der gesellschaftlichen Erholung - neu diskutiert werden, mit der eventuellen Perspektive  eines Wiedereintritts in die EU. Wenn sie das denn unbedingt wollen. 
Und Jacob Rees-Mogg? Den habe ich, bei allem Dissenz über Europa und diverse andere politische Fragen, trotzdem lieb. Wegen seines Zylinderhutes. 

Mittwoch, 27. Februar 2019

Auf Bayerns höchsten Berg


Auf der Zugspitze war ich schon einige Male. Grund für den ersten Besuch war die „WiB-Schaukel", eine Interviewsendung, mit der ich Anfang des Jahrtausends meine Brötchen verdiente. Wir drehten mit Johann Mühlegg, dem Skilangläufer, der, für Spanien startend, bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City Gold gewann (und wegen Doping wieder verlor). Rauf und runter ging‘s mit der Bahn. Dann habe ich am „Zugspitz Extrem Berglauf" teilgenommen, der 2003 vom Partenkirchener Skistadion durchs Reintal hinauf zum Zugspitzplatt führte, über 21 km. Und anschließend erklomm ich gemeinsam mit Laufjournalist Udo Möller noch das letzte Stück zum Gipfel. Es war ein heißer Tag mit spärlicher Getränkeversorgung. Immerhin besser als 2008, als der Lauf in die Schlagzeilen geriet, nachdem bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt zwei Läufer kurz vor dem Ziel starben und sechs weitere ins Krankenhaus gebracht werden mussten. 
Als nächstes bin ich mit Johann Mühlegg zu Fuss rauf, und zwar von Grainau durchs Höllental zum Gipfel in 2:50 Stunden. Diese Zeit lässt sich auf dem Klettersteig nur erreichen, wenn man auf Sicherungsmaßnahmen konsequent verzichtet und bestens trainiert ist. Ich hatte bereits einen langen Bergsommer hinter mir und stieß trotzdem an mentale Grenzen - und zwar immer dann, wenn ich zwischendurch einen Blick in die gähnende Leere unter meinen Füssen warf. Johann Mühlegg eilte launig plaudernd voraus. Ab und an standen Kletterer mit Helm und Karabiner im Weg. Johann zu einer gesicherten Oma : „Am besten, sie bleiben, wo sie sind, und ich klettere einfach über sie drüber!" eins-zwei-drei, erledigt. Einige Minuten später schloss ich zu der Dame auf. „Für mich wäre es denn doch ganz gut, wenn sie kurz Platz machen würden - ich muss hinter dem Herrn dort oben her". Am Höllentalferner kam uns die berühmte Idee, dass Pumps ideal für diese Strecke seien: Die Schuhspitzen kann man gut beim Klettern in enge Felsspalten einführen und die hohen Absätze als Eisbeile verwenden, während man sockfuss besonders guten Grip auf der Eisfläche genießt. Runter kamen wir über die Wiener-Neustädter Hütte, wofür man damals viele zerschlissene Stahlseilsicherungen in Anspruch nahm - was bei mir dazu führte, dass ich seither auf derartigen Strecken gerne ein Paar alte Fahrradhandschuhe dabeihabe, um Blutvergiessen zu vermeiden.

Mein letzter Aufstieg war erst neulich, gemeinsam mit Sohn Cyprian, und zwar von Ehrwald aus. Start also in Tirol, rauf zur Ehrwalder Alm, bei herrlichem Wetter. Keine Grenzerfahrung wie mit Johann Mühlegg, aber doch sportlich anspruchsvoll, weil mein Sohn, Student in Landeck, oft und gerne in den Bergen unterwegs, daher bestens in Form und schnellen Fußes unterwegs ist (Hier übrigens sein Bergtourenblog: https://bergtourenblog.wordpress.com/2019/02/23/mein-erster-3000er/ )
Cyprian prescht also vor, ich hurtig hintan, und die Landschaft wird hinterm Skigebiet mit der ärgerlichen Infrastruktur immer besser. Grosses Sommerpanorama, Kühe im Gegenlicht, Schalker Königsblau am Himmel. Sehr pittoresk der Grenzübergang von Tirol nach Bayern, just dort, wo das Gelände ruppig wird, und dann rüber zur Knorrhütte, 2051 m hoch. Es ist später Vormittag und wir essen Erbsensuppe. Während wir unser erstes Wegstück fast alleine absolviert haben, sitzen wir hier mit weiteren Wanderern zusammen, die in ihrer großen Mehrheit auch alle auf die Zugspitze wollen. Als wir weitergehen, reihen wir uns in eine anschwellende Wandererkette ein, ein Trend, der sich nach oben hin immer weiter verstärkt. Aus Kette wird Schlange, aus Schlange ein Strom, der am Gipfelaufbau schließlich in ein Meer mündet, ein Menschenmeer. Die meisten Artgenossen kommen natürlich mit den Bahnen hinauf, nur die wenigsten ackern sich durch das lose Geröll, das mit jedem Schritt nachgibt und mitsamt Wanderer ein Stückerl talwärts rutscht. 




Warum wollen alle Leute dort hinauf? Es ist nicht nur der Deutsche Everest, der Berg der Berge, sondern auch Deutschlands höchste Fußgängerzone. Deutschlands höchstes Postamt. Deutschlands höchste Wetterstation. Deutschlands höchste Steckdose, Bierkneipe, Rolltreppe. Oder befindet sich letztere auf der österreichischen Seite des Gipfels? Denn das wird ja gerne vergessen: dass wir Deutsche unseren Rekordberg teilen müssen, mit Felix Austria, welch Schmach. Diesbezüglich sind die allermeisten 16-Summits-Exemplare der höchsten Erhebung Bayerns überlegen: Bremen etwa hat keinen soo hohen Berg, aber dafür muss dieser nicht mit irgendwelchen Nachbarn geteilt werden. 
Nach oben hin sind einige Stellen mit Seilsicherung zu meistern, alle bestens in Schuss, Fahrradhandschuhe nicht vonnöten. Und dann schwimmt man auch schon auf knapp 3000 Metern im Menschenmeer, wähnt sich auf der Hohen Straße in Köln an einem Samstagvormittag und umklammert seine Brieftasche. 

Und immer, wenn ich dort oben stehe, wünsche ich mir, der zivilisatorische Wahnsinn würde komplettiert werden. Ich wünsche mir H & M, Zara, McDonald‘s. Deutschlands höchste Tiefgarage, Kino, Kreisverkehr, Thai-Massage. Ich wünsche mir Wohnblocks, Erlebniswelten, Spa und Club-Szene - und im Gegenzug wünsche ich mir, dass der Rest der Alpen von übertriebener Bautätigkeit und Zersiedelung verschont bleibt. Man wird ja wohl noch wünschen dürfen. 
Bis auf das Selfi mit Baukran sind die Fotos alle von Cyprian. 

Dienstag, 26. Februar 2019

Post-Veganismus und Fußgesundheit



...und kaum poste ich ein Bild meines Fußes, wie ich ihn euphorisch der Kölner Vorfrühlingssonne aussetze, lese ich bei Strava den folgenden Kommentar: „Nach gesunden Füßen sieht das nicht aus!!!" Natürlich bin ich sofort alarmiert, nicht zuletzt wegen der drei Ausrufezeichen. Ist mir irgendetwas entgangen? Frostschaden? Fußpilz? Akute Sepsis? Also entgegne ich mit einem besorgten „inwiefern?" Die Antwort kommt prompt:
„Beim rechten Fuss liegt der grosse Zeh rüber zu den anderen und es besteht die Gefahr eines Hallux Valgus und links ist das Grosszehengelenk auch sehr deutlich, welches auf beginnende Arthrose deuten könnte. Ausserdem kippt dein Sprunggelenk nach innen und es ist ein klarer Spreizfuss zu erkennen. Sorry ich mache solche Analysen beruflich und man guck auf sowas ob man will oder nicht😂 Wenn du mal ne richtige Analyse haben möchtest, dann sag Bescheid😊"

Puh. Erstmal tief durchatmen. Hallus valgus? Ist das nicht diese eher unschöne Deformierung, die man bisweilen bei alten Damen beobachten kann, welche sechs Jahrzehnte lang in zu engen Pumps durch die Welt stilettiert sind? Und mein Großzehengelenk sieht nach Arthrose aus? Au weia! Ich war mal bei einem Orthopäden, der nach Computer-Tomographie Entwarnung bezüglich Arthrose gab - aber das ist auch schon wieder ein halbes Dutzend Jahre her. Hm. Spreizfuß habe ich schon immer, darum trug ich bereits als Grundschüler Einlagen, das ist nichts neues. Tja. Ob ich eine „richtige Analyse" will? Zu welchem Zweck? Um den Alterungsprozess en Detail beurkunden zu lassen? Ist es nicht sinnvoller, diese Zeit mit einem schönen Spaziergang zu füllen, womöglich barfuß, so wie heute? 15 km lief ich vom Hotel Savoy zu Ford im Kölner Norden, dann links ab zum Coloneum, wo wir mal wieder mit „Genial Daneben - das Quiz" beschäftigt sind. Eigentlich wollte ich joggen, aber dann hatte ich wegen einer abrupten Umbuchung zu viel Gepäck zu transportieren und beließ es bei einer Wanderung. Ging problemlos, trotz (angeblich) polykaputter Mauken. Bin ich denn soo unsensibel, dass ich die Schmerzen der Arthrose und des Hallus valgus nicht spüre? Eigentlich rechne ich für die kommenden Jahren eher mit Gichtattacken - solche hat mir jedenfalls vor 30 Jahren ein Arzt mit Blick auf meine erhöhten Purinwerte prophezeit. Und neulich meinte ich es auch tatsächlich zwicken zu spüren, nachdem ich mich eine Woche lang fast ausschließlich von Kassler, Pinkel, Kochwurst, Speck, Buletten und Räucherfisch ernährt hatte. War halt nichts anderes im Kühlschrank. Extremfall.  

Apropos; auf den Blogbeitrag von Sonntag („vegan, mit Fleisch") reagierte tatsächlich jemand bei Facebook mit der Bemerkung, mein Text sei „ziemlicher Mist", um mich anschließend darüber aufzuklären, dass „vegan, mit Fleisch" die Ansage eines Lebensmittelallergikers sei, und dass meine „Geisteshaltung" verantwortlich dafür sei, dass es Lebensmittelallergikern so schwer falle, Eßlokale zu finden, die ihre Spezialwünsche ernst nehmen. Hossa. Ich wundere mich jeden Tag über das Internet und seine Bewohner. Natürlich hatte ich mir bereits gedacht, dass „vegan, mit Fleisch" etwas mit Allergie zu tun haben könnte, oder mit Antipathie. So what? Wichtig ist doch, dass der Gag funktioniert! 
Spannend an der Geschichte ist vor allem die Frage, warum ausgerechnet wir Deutschen solch ein ideologisches Gewese um das Essenfassen machen. Kaum sagt einer irgendwas zum Thema Happahappa, wird er barsch belehrt. Spontane Theorie: Deutschland ist das Land der Reformation; der 30-Jährige Krieg hat uns traumatisiert, auch, wenn‘s um die kriegsvorbereitenden Glaubensdiskussionen geht. Um die sich infolge des Westfälischen Friedens stauende Kampfeslust zu kanalisieren, wird nunmehr übers Essen gestritten, mit dem Eifer der Mennoniten, radikal und humorlos. Küchen-Schismen als Ersatzreligionskrieg, mit Sekten, Bildersturm, Gegenpäpsten, Gegenreformation, mit allem, was dazugehört. 
Und jetzt kommen die Füße ins Spiel. Nur im deutschsprachigen Kulturraum hat „Fußgesundheit" jenen Stellenwert, der Birkenstock groß gemacht hat. Konrad Birkenstock erfand 1925 das sogenannte „blaue Fußbett", das sich den Bewegungen des Trägers anpasst, der Wiener Sportlehrer Wiesner kreierte in den 30ern die moderne Sandale und der „Orthopädiepapst" (!) Professor Wilhelm Thomsen Mitte der 50er Jahre die Gymnastiksandale, aus welcher später die Adilette abgeleitet wurde. Der größte Fußorthopäde des 20. Jahrhunderts war sicher nicht zufällig ein Deutscher, nämlich Franz Schede. Der Schriftsteller Guntram Vesper hat diesem grossen Förderer der Schulgesundheitspflege in seinem Roman „Frohburg" ein Denkmal gesetzt. 
Hat der Eifer, mit dem ausgerechnet wir Deutschen um Fußgesundheit kämpfen, etwas mit unserer fanatischen Streitlust über Ernährungsfragen zu tun? So wie der Mensch „ist, was er isst", so haben sein Gang, sein Stand elementare Bedeutung. Hat er Bodenhaftung? Ist er erdverbunden? Ist er ein „Steher"? Taugt er zum „langen Marsch", wahlweise bis nach Moskau oder durch die Institutionen, oder ist er ein welscher „Flaneur"? Im „Standpunkt" geht das Füsselnde ins Philosophische über. Jahrhundertelang war die Gehfähigkeit der Soldaten kriegsentscheidend, womit wir wieder beim 30-jährigen Krieg wären. Der nackte Fuß ist automatisch ein veganes, ein pazifistisches Statement, er steht für Askese und eingeschränkte Wehrkraft wie die Tagesration eines Rohköstlers. Und so, wie der Veganer beteuert, seine Ernährung sei gesund, so beteuert auch der Barfüssler die „abhärtenden", mithin gesundmachenden Effekten des Schuhverzichts. Ob Gang nach Canossa oder Wandervogelbewegung: Der Fuß war speziell in Deutschland immer auch ein Instrument des Glaubens und hochpolitischer Körperteil, just so wie der Verdauungstrakt. Karl Carstens durchwanderte Deutschland, so wie Helmut Kohl in den Saumagen biss: Als Ausweis der Heimatverbundenheit. 
Was ist nun die Ensprechung zu „vegan (mit Fleisch)", wenn‘s um Füsse geht? Das kann ich aus dem Stand sagen: Es ist der Barfußschuh. Er ist die dünnbesohlte Inkonsequenz, das schuhgewordene „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass". Und bevor mir jetzt was auch immer vorgeworfen wird: Ich trage selber gerne welche (am liebsten „Leguanos"), so wie ich selber gerne dem Post-Veganismus fröne (ich mag nämlich keinen Käse). 
Fußnote: An missionarischem Eifer, Streitlust, analytischem Ernst mangelt es uns Deutschen weiterhin nicht - bisweilen aber an bester liberaler Wurschtigkeit (auch vegan). Soll doch jeder essen, was er will (solange er nicht anderen auf die Füße tritt). 




Montag, 25. Februar 2019

Böse ohne Grund



Impulskontrolle war noch nie meine Stärke. 

Achte Klasse, Schule aus. Ich radelte vom Schulzentrum Kreyenbrück nach Hause, und kurz, bevor ich auf den Radweg am Müllwerk einbog, kam mir ein Junge auf einem beigen Tourenrad entgegen. Blond, dünn, prominente Schneidezähne. Am Beginn seiner Pubertät - just so wie ich. Die Richtung, aus der er kam, ließ annehmen, dass er die nahe gelegene Hauptschule besuchte. 

Ich habe auch heute, vierzig Jahre später, keine Ahnung, was mich trieb, warum ich meinen linken Arm streckte und anhob, nach Art einer mittelalterlichen Turnierlanze. Jedenfalls hatte der Junge keine Chance, meine Attacke kam aus dem Nichts; kurz bevor er mich passierte, traf ihn meine Faust an der Schulter, stieß ihn aus dem Sattel. Er flog einige Meter durch die Luft, während sein Tourenrad noch einen Augenblick weiterfuhr. Im Augenwinkel sah ich den Jungen hart auf den Asphalt aufschlagen, und gleichzeitig beschleunigte ich meinen Tritt. Bald war ich außer Sicht, mein Herz pochte, und mich befiel ratlose, rastlose Panik. Warum hatte ich das getan? Nichts fiel mir ein, was als Antwort getaugt hätte. Ich kannte den Jungen nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen, hatte auch nichts gegen Hauptschüler mit großen Schneidezähnen. Meine Tat war mir ein Rätsel - und ist es bis heute.

Bald war ich daheim, erzählte meinen Eltern nichts und versuchte, den Vorfall zu vergessen. 


Tag zwei, große Pause. Meine Klassenkameraden und ich spielten Fussball. Weitläufiger Pausenhof, keine Aufsicht in der Nähe. Am Parkplatz tauchte ein finster dreinblickender Trupp Hauptschüler auf, angeführt von einem muskulösen Kleiderschrank mit Ofenrohr-Armen. Ganz hinten erkannte ich mein Opfer, mit geprellter Hand auf mich zeigend. Der Kleiderschrank nickte und ließ seine Fingerknöchel knacken. Bevor ich diskret flüchten konnte, hatten sie mich auch schon umstellt; der Schrank, zwei Schubladen größer als ich, packte mich am Schlawittchen, hob mich aus den Latschen und raunte mit ins Bassregister gebrochener Drohstimme: „Warum hast Du das gemacht?" Adrenalin durchflutete mich. Ich blieb stumm, wohl weil die Angst mich lähmte, aber auch, weil ich keine plausible Antwort parat hatte. Im Hintergrund sah ich, wie meine Klassenkameraden in Wortgefechte mit den Hauptschul-Delegierten gerieten. Einer meiner Freunde nahm einen der Rächer in den Schwitzkasten, ein anderes Paar rollte ringend übers Pflaster, doch ich hing weiterhin regungslos an den Pranken des Kraftprotzes, rücklings an eine Waschbetonwand gepresst. Schlotternd rang ich nach Worten, aber kein Piep schaffte den Weg an meinem Kehlkloß vorbei. Dann erklang der Pausengong, mein Rächer ließ mich fallen; die Hauptschüler gingen Richtung Hauptschule ab, und wir machten uns auf den Weg zum Französischunterricht bei Frau Trinks. 

Was es denn mit der Attacke auf sich habe, fragten meine Mitschüler. Keine Ahnung, log ich, und zuckte mit den Schultern. 


Tag drei. Wieder tauchten die Hauptschüler in der großen Pause auf, Schneidezahn hinten, Kleiderschrank vorne, wieder hob dieser mich aus den Angeln, stellte mich zur Rede, ohne dass ich auch nur eine Silbe hätte sagen können. Und wieder endete das Tribunal mit dem Pausengong.

Als ich nach der fünften Stunde heim radeln wollte, begegnete ich im Fahrradkeller meiner Klassenlehrerin. „Man erzählt sich merkwürdige Sachen. Stimmt es, dass du einen Hauptschüler einfach so vom Rad gestoßen hast?" Ich setzte mein harmlosestes Gesicht auf, gab mich betont schlapp und schmächtig. „Aber Frau Hinrichs, sie kennen mich doch. Trauen sie mir sowas zu? Und warum sollte ich derlei tun?" Ja, warum. Frau Hinrichs legte den Kopf schräg, schaute mich eindringlich an und nickte. In mühsam getarnter Beklommenheit radelte ich davon.


Tag vier. Die Sache wuchs mir über den Kopf. Um in der großen Pause nicht erneut vom Rächer meines Opfers drangsaliert zu werden, vertraute ich mich meinen Eltern an. Eine Horde halbstarker Hauptschüler habe es auf mich abgesehen, terrorisiere mich, und um meine Not zu untermauern, verwies ich auf psychosomatische Symptome, etwa Fieber. Das testhalber in der Achselhöhle versenkte Thermometer manipulierte ich in einem unbeobachteten Moment am Heizkörper. Knappe 39 Grad; genug, um das Bett zu hüten und nicht zur Schule zu müssen. Meine Eltern nahmen derweil Kontakt mit dem Rektorat auf, und ich war gespannt auf den Fortgang der Ereignisse. 

Lange warten musste ich nicht. Am frühen Nachmittag öffnete sich die Tür meines Kinderzimmers, und der Dünne und sein Rächer traten ein, begleitet von zwei Polizisten in Uniform. „So, jetzt dürft ihr euch entschuldigen!" bellte barsch der Hauptwachtmeister. Erst trat der Kraftprotz an mein Krankenbett, drückte meine Hand und murmelte „Es tut mir leid!", dann bat auch mein Opfer formvollendet um Entschuldigung. Großherzig nickte ich den beiden zu und nahm mit fester Stimme die Entschuldigung an, woraufhin beide Besucher davondackelten, begleitet von ihrer Polizeieskorte. Im Hinausgehen nickte der Hauptwachtmeister meiner Mama zu: „Richtig so; man muss sich nicht alles gefallen lassen!"

Und damit war der Fall abgeschlossen. 


Für das Foto wurde die Szene nachgestellt. 

Danke, Hugo. 

Sonntag, 24. Februar 2019

Gedichte mit Bart



Am 17. März lesen Jürgen Urig und ich eigene Gedichte in der „Kleinen Affäre" in Hattingen. Es handelt sich um Poeme zu ausgesuchten Themen, etwa Deutsche Flüsse, Haushaltsgeräte oder Bärte. Hier einige meiner Gedichte über die letzteren:

1

Der Mensch ist limitiert:
Er wächst nur zwei Dekaden.
Begrenzt ist auch der Muskelzuwachs;
Arme, Schenkel, Waden
sind bis zur Schwarzenegger-Grenze 
machbar, größer nicht.
Auch das Denkorgan-Gewicht
ist statisch - das verbindet uns
mit Tapir, Schnecke, Fisch

Ganz anders ist's mit unsern Bärten:
Sie wachsen bis zum Allerwerten,
wenn man nicht zuvor rasiert
und After-Shave-Lotion verschmiert.
Der Bart wächst immer, komm, was wolle.
Ließe man ihn wachsen, schwolle
er bis runter nach Emsdetten;
mit Koffein womöglich weiter, wetten? 
Bart: Symbol des Übermenschen, Zeichen der Unendlichkeit.
Allein: Den unendlichen Wuchs zu sehen 
- dafür fehlt dem Mensch
die Zeit

2

Wenn unsere Weltenordung brennt 
wird ER wieder brandaktuell
als Macht- und Herrschaftsinstrument 
Vaterländer, große Reiche
brauchen Bärte, volle, weiche
Wer Strukturen schleift, verwirbelt 
braucht einen Schnäuzer, hochgezwirbelt 
wie Wilhelm 2, oder wie Tirpitz:
An den Backen Hängezacken
DAS macht Eindruck bei den Wählern 
mehr als all die glatten Häute
der Leute vom Establishment
Weidel, Gauland, Hoecke-Sachsen:
Lasst Euch deutsche Bärte wachsen!

3

Drahthaar wächst auf Dackeln sowie manchen Sukkulenten 
Drahthaar ist für manchen Mann, was Federn für die Enten
Es ziert die prominenten Stellen zwischen Nasenloch und Hals 
Und es dient als Kälteschutz und hilft bei Brunft und Balz
den Männer-Status illustrieren. Drahthaar wächst in kleinen Locken 
Manchmal in die Haut hinein. Dann entstehen rote Pocken 
Schreckenswort aller Barbiere: "Rasurbrand".
Was tun?
Entweder man hobelt täglich oder lässt den Hobel ruh'n
Das Drahthaar zwingt zur Konsequenz 
Der Mittelweg hat keine Fans
Bist Du ein Konsens-Demokrat
mit brennendem Dreitagebart?
Der Kompromiss: Hier taugt er nicht 
Faul entflammt er dein Gesicht. Lässt Du wuchern? Willst Du weiden? 
Egal wofür - du musst entscheiden.

Samstag, 23. Februar 2019

Post-Vegan

Veganer sein will jeder, schon wegen der edlen ethischen Aspekte. Aber etwas anstrengend ist es denn doch, den Veganismus wirklich ernst zu nehmen. Eine nonchalantere Variante des Veganismus entdeckte meine Frau gestern zufällig in der Essensliste einer Reisegruppe, die in jenem Hotel auslag, in dem wir an diesem Wochenende nächtigen. „Vegan (aber mit Fleisch)" - das ist DER Trend der Zukunft. Post-Veganismus. Viele, ja fast alle, sind bereits Post-Veganer und wissen es noch gar nicht. Den Begriff führe ich hiermit offiziell in die Gastrosophie ein, inspiriert vom Postkasten an der Außenwand des Hotels. 

Die Geburtsstätte der jüngsten Ernährungsrevolution liegt in der Oberpfalz, wo meine Frau derzeit bei einem Chortreffen Einzelstimmbildungen durchführt und ich derweil tiny Theodor über die Jura-Hügel trage. Gestern inspizierten wir zusammen die Schlossruine Velburg, die Hohlloch-Höhle und den Herz-Jesu-Berg. 

Oben auf dem Herz-Jesu-Berg steht eine Kapelle, deren Fassade auch nicht mehr unbefleckt ist. Ja, auch die katholische Kirche ist in Einzelfällen nicht ganz sauber. Schwanger ja, Sex nein. Also Fleisch und vegan - eine Soße. So, jetzt habe ich Hunger. Ich geh‘ mal Happahappa.



Auf Mecklenburg-Vorpommerns höchsten Berg



Juni 2018. Rot geht im Osten die Sonne auf, als ich morgens um fünf von Berlin-Weissensee kommend auf der L100 durch Wandlitz rolle. Mein Tagesvorhaben: Von der Teutonenmetropole auf dem Faltrad nach Usedom, wo ich mit Carlo von Tiedemann am darauffolgenden Tag eine weitere Folge unserer lustigen Kurorte-Porträtreihe drehe. Der Sommer ist heiss, und zur Belohnung für einen langen Tag auf dem Faltrad imaginiere ich ein erquickendes Bad in der Ostsee. 

Ab Bischofswerder fahre ich an der meditativ mäandrierenden Havel entlang, bis nach Zehdenick, wo ich lecker Pflaumenkuchen frühstücke. Über die 109 gehts weiter nach Templin, das verwunschene Backsteinidyll. Staksig waten Reiher im Winde; Kinder warten in Reihe, trainieren für die Spartakiade, hätte ich fast geschrieben. Danach gehts auf einen langgestreckten, zum Radweg umgebauten Bahndamm, der durch einen Auwald führt. Dort begegne ich einem weißgreisen Liegeradler, mit dem ich plausche. Er versucht mich fürs Liegeradeln zu begeistern, ich wende die mangelnde Bergtauglichkeit ein. Und damit gebe ich mir selber ein Stichwort. Berge. Höchste Eisenbahn, zu überprüfen, ob ich nicht zufällig am höchsten Berg Mecklenburg-Vorpommerns vorbeikomme, um diesen meiner 16 Summits-Sammlung beizufügen. Check: Ja, der Helpter Berg liegt zufällig am Weg. Dascha‘n Ding! Er befindet sich zwischen der Stadt Woldegk und der Gemeinde Helpt, und ich erreiche ihn am Mittag, nach etwa 125 km Wegstrecke. Die Gegend ist gewellt, von lieblichem Charakter, alte Eiszeit, so eine Wuthering-Hights-Landschaft. Man könnte hier auch Rosamunde Pilcher drehen. Von der Strasse aus ist die höchste Kuppe eher mitteldeutlich erkennbar, auch, weil die Hügel mit opulenten Waldfrisuren verziert sind. Der Fernsehturm schließt aber alle Zweifel aus, fungiert wie ein Textmarker. Ja, Sie sind richtig, HIER spielt die Musik!


Und da erkenne ich auch schon ein Hinweisschild, das den Helpter Berg als touristisches Highlight ausweist:
Ich stelle mein Rad ab. Mein Ostseeausflug wird somit zu einer recht umfangreichen Kombitour; der Gipfelsturm muss zu Fuss absolviert werden. Zunächst geht es einen schmalen Ackerpfad bergauf:

Dann geht es auf wenig begangenem Weg durch den Wald. Leichte Orientierungsschwierigkeiten. Manches ist zugewachsen, andere Baumschneisen meinem Navi unbekannt. Haupthinderniss der Unternehmung sind jedoch die Mücken, die in diesem Wald jeden erbarmungslos attackieren, der ungebeten eindringt, um den Gipfel zu erobern. „Kurze Hosen, Radlerleibchen: Lecker!" -schmatzen sie gierig.
Bald nähere ich mich dem Gipfel, erkennbar an der dazugehörigen Infrastruktur:


Schutzhütte rechts, Parkbank mittig, davor das Gipfelkreuz. Macht alles einen eher selten besuchten Eindruck, aber vielleicht bin ich auch als Laie außerhalb der Saison hier - eben dann, wenn die Mücken ihr Unwesen treiben und kein Local, kein Mecklenburger Sherpa den Weg wagen würde.


Ich erledige einige der Biester und zwinge mich zu einem Lächeln für das Gipfel-Selfie. Schauspielerische Glanzleistung, denn alleine während der kurzen Belichtungszeit verliere ich einen Deziliter Blut. 

Aussicht im konventionellen Sinne ist eher nicht vorhanden, demzufolge auch kein Panorama. Nur dichte, verschwirrte Waldeinsamkeit. 
Nach dem Abstieg setze ich mich wieder auf mein Rad und kühle meine Stiche mit scharfem Fahrtwind. Durst; der Blutverlust will ersetzt werden. Um meine leeren Flaschen zu füllen, lade ich mich bei einer äußerst abgelegen wohnenden, s e h r   l a n g s a m   s p r e c h e n d e n  u n d  s i c h  b e w e g e n d e n  Frührentnerin in DDR-Kittelschürze in die Wohnküche ein, und der Pilcher-Film bekommt einen Touch Stephen King: Sie verlässt das Zimmer mit den Buddeln, die Tür geht zu. Nichts passiert. Beklommenes Warten. Nach einer Viertelstunde ist sie wieder da, die Flaschen voll, ich am Leben. T s c h ü s s !
Weiterer Tagesverlauf: Mittagessen in Friedland, mit der Radlerfähre von Anklam nach Usedom, mit perfekt gecastetem Seebär. Weiter in die Kaiserbäder, und dann, nach 216 km: Rein in die Fluten.





Donnerstag, 21. Februar 2019

Die letzte Skitour meines Lebens

...führte mich in die bayerische Staatsoper. Nachdem ich noch morgens am Kleinen Pfuitjoch gescheitert war, erstieg ich hier immerhin den höchsten Rang. 
Los ging’s um 9 Uhr. Zugankunft in Lähn, Tirol. Ich treffe dort Sohn Cyprian, der sich seiner Semesterferien erfreut. Felle auf die Ski und los. Gestern hatte ich extra ein Paar neue Tiefschneebänder besorgt. Braucht man im Aufstieg ja eher nicht, aber ich befestige sie Cyprian beim ersten Stopp an der Hose. Lawinengefahr gering, dafür ist der Schnee zu Eis komprimiert. Immerhin gehts ohne Harscheisen hoch. 
Ich habe das Pfuitjoch ausgewählt, weil es in einem toll bebilderten Buch als „einfach" bezeichnet wird. Auf dem Weg durch den Bergwald frage ich mich aber immer wieder, wie ich denn hier wieder runter kommen soll? Zwischen „einfach" und „babyeierleicht" scheint es da nochmal Unterschiede zu geben. Als Oldenburger, also Flachlandtiroler, habe ich Skifahren erst am Auerberg erlernt, als die gebürtigen Ostallgäuer Cyprian und Leander, damals noch Dreikäsehoche, ihre ersten Glitscherfahrungen sammelten und dabei von mir beaufsichtigt werden mussten. Da war ich schon 35. Sind mir immer suspekt geblieben, die langen Latten, wobei die Angst mit den Jahren eher größer wird. Zum Beispiel vor engen Waldpisten und steilen Eisflächen.
Cyprian hat mit Angst kein Problem, allerdings mag er die flattrigen Tourenski auf der Abfahrt nicht sonderlich. Einstweilen verdränge ich alle Probleme und stiefele flott bergauf. Das Gelände lichtet sich, das Ziel wird sichtbar. Eine Handvoll Tourengänger steht oben am Grat. Ich muss um halb fünf in München sein, Theo beaufsichtigen, während meine Gattin zur Korrepetition in der Oper darf. Kurzes Durchrechnen: Das wird knapp (vor allem schüchtert mich die Aussicht auf die Abfahrt ein). Cyprian schlägt vor, wenigstens eine Anhöhe rechts anzusteuern. Ich folge erst, dann scheue ich, biege links ab. Weiss gar nicht, wo ich hinwill. Traversiere einen steilen Hang. Unten stehen drei alte Hasen und schauen mir zu. Was macht der Mann da oben? fragen sie sich. Schneebrettgegend. Angst. Als ich wieder ebeneres Gelände erreiche, lege ich diesen als meinen Endpunkt fest. Wo ist Cyprian? Ich sehe ihn nicht mehr. Mein Telefon klingelt, er ruft an, hat ein Problem: Die von mir am Hosenbein festgeknoteten Tiefschneebänder gehen nicht runter, passen nicht über die Schuhe. Der Knoten sitzt zu fest. Au weia; mein Fehler. Nach kurzem Beratschlagen rege ich an, die Schuhe auszuziehen, Bänder abstreifen, Schuhe wieder an, Felle runter, zu mir kommen. Aufgelegt. Jetzt erspähe ich ihn, am steilen Hang seitlich über mir:


Hoffentlich passiert nichts beim Schuheausziehen. Wenn ein Schuh runterpurzelte: Das wäre blöd. 
Derweil esse ich einen Riegel, ziehe mich um und mache mich klar zur Abfahrt. Cyprian kommt, uff. Dann los. Nach fünf Metern falle ich voll auf die Schnauze. Der Schnee fühlt sich an wie Beton und meine Schulter jetzt wie Schneematsch. Zweiter Versuch. Dramatische Lenkuntüchtigkeit gepaart mit blanker Panik. Schneller Entschluss: Ski tragen, zu Fuss bergab. Zu meinem Erstaunen entscheidet Cyprian ebenso. Und so trotten wir runter zur Baumgrenze.


Am Waldrand kommen uns zwei Tiroler entgegen. Worte der Ermunterung. „Dass man oben nicht fahren kann, ist nachvollziehbar, aber im Wald ist der Schnee angetaut - versuchts amal, immer a bisserl rutschen, um die Bäume, wieder rutschen..." Ich deklamiere etwas zu dramatisch : „Ich bin zu schlecht!" , dann stiefeln wir weiter. Tatsächlich: Der Schnee ist hier angetaut, mit jedem Schritt sackt man bis zum Knie ein, manchmal gar bis zur Hüfte. An einer Lichtung entscheiden wir uns daher um: Ski an. Knapp verfehle ich im unfreiwilligen Schuss eine Fichte. Nö, Schluss jetzt. Ski runter, wieder tragen. Lieber sacke ich bis zum Brustbein ein, entscheide ich wütend. „Tuuut" höre ich unten meinen Zug nach München davonfahren. Jetzt bin ich so richtig sauer, ackere mich durch Frau Holles Hinterlassenschaft, fluche darüber, dass ich mich immer wieder von den schicken Fotos in Skitourenführern becircen lasse. Nie wieder! Ab jetzt nur noch Schneeschuhe - damit kann ich umgehen. 
Als ich nur noch 100 Höhenmeter über unserem Ausgangspunkt stehe, verliert Cyprian einen Ski, der sich im Schuss über einen kleinen Gegenanstieg davonmacht und nicht mehr entdeckt wird. Aus Zeitmangel entfällt die Suche. „Nimm meine! Ich brauche sie nicht mehr!" sage ich theatralisch (ich muss ja zur Oper), falle auf dem letzten Stück noch einige Mal hin, richtig schlechter Slapstick. Ein würdiges letztes Mal. 
Die gemeinsame Einkehr fällt aus, Cyprian fährt mich stattdessen mit Höchstgeschwindigkeit nach Füssen, dort steige ich in einen Zug, der mich pünktlich nach München bringt. Die letzten dreissig Höhenmeter ins Dachgeschoss der Oper zähle ich zur Tagesleistung dieser meiner letzten Skitour einfach mal hinzu. Ich absolviere auch den folgenden Abstieg unverletzt. Immerhin. Wie schrieb Rilke? „Wer spricht von Skifahren - überleben ist alles"

P.S.: Auf der Maximilianstrasse, vor „Dolce & Gabbana" werde ich von einer eleganten älteren Dame für meinen „mutigen Look" gelobt. Haha, das baut auf. 





Mittwoch, 20. Februar 2019

Auf Schleswig-Holsteins höchsten Berg

Mai 2018. Neue Sendung, aus einer Schnapsidee entstanden: Norddeutsche Kurbäder, die ich gemeinsam mit Schaubuden-Titan Carlo von Thiedemann besuche. Der NDR hat drei Sendungen in Auftrag gegeben, und der erste Drehort ist Malente. Als ich dies erfuhr, kamen mir sogleich die 16 summits in den Sinn; quasi routinehalber ließ ich meine kommot-App den Weg vom Hotel zum Bungsberg berechnen. Und siehe da: Machbar! Also einen Flug früher angereist, mit leichter Verkomplizierung, da die Lufthansa seit drei Wochen nur noch verpackte Klappräder transportiert, ich aber mal wieder kein Futeral dabeihabe. Also lasse ich mein Faltrad blistern - ein unerwartet spannender Sehgenuss, da die Wickelmaschine an eine Spinne erinnerte, die ihr Opfer einwickelt. 


Nach Flug und Transfer in Malente angekommen, schlage ich mir einen Backfisch hinter die Kiemen, ehe ich die Folie vom Rad reiße, dieses entfalte und am wunderhübschen Kellersee entlang durchs frühlingshafte Blö drömele. Nüchel heisst das Örtchen, für das ich nach einer halben Stunde die L178 verlasse, und die Landschaft knittert. Nicht nur kleine Eselsöhrchen, sondern veritabler Faltenwurf. Weite Schwünge, Koppen, Täler, ein Relief wie bei den Teletubbies. Kein Zweifel: Ich nähere mich dem Alpenhauptkamm der Holsteinischen Schweiz. Im kleinen Gang arbeite ich mich hinauf zum Gut Kirchmühl, dann parke ich mein Rad und rüste mich zum Gipfelsturm (heisst: Schuhe zubinden). 


Auf eher subalpinem Trail gehe ich steigungsarm zum gut erkennbaren Doppelgipfel: Einerseits ist da eine bewaldete Kuppe, zwischen deren Bäumen mehrere Bauten erahnbar sind, zum anderen eine freie Wiese, auf der ein Granitblock, aufgestellt von der dänischen Landvermessungsbehörde im Jahre 1838, den höchsten Punkt markiert, nämlich 168 Meter über N.N.

Doch gemach. Zunächst betrete ich den höchsten Hain Schleswig-Holsteins, an dessen Zuweg ich eine sonderbare Skulptur passieren. Was ist das? Ein Hünengrab? Grübelgrübel...


So ähnlich. Eine Plakette weist das Gebilde als Kletterfelsen nach Industrienorm EN 1176 aus, erbaut in Cottbus, Projekt-Nummer 2013-09-93. Das Innere der Konstruktion taugt auch als Unterstand, urteile ich fachmännisch, bin erfüllt vom Gefühl, ein Meisterwerk brandenburgischer Freizeitarchitektur kennengelernt zu haben, und denke an Helmut Kohl, der von Deutschland als einem „Freizeitpark" sprach, womit er zum Ausdruck bringen wollte, dass emsiges Arbeiten nicht mehr so recht unser Ding sei.

50 Meter weiter betrete ich das eigentliche Gipfelplateau, auf dem sich Kultbauten aus gleich mehreren Epochen besichtigen lassen: Der Elisabethturm (erbaut vom Oldenburgischen Großherzig 1884 - quasi „unser" Beitrag), dann die Gastwirtschaft „Waldschänke", der Kleinkinderspielplatz, fein säuberlich getrennt vom Kinderspielplatz, die Logistikgebäude der Stiftung, die sich um die Versiegelung, äh, Attraktivisierung des Bungsberges bemüht, dann das Stiftungsgebäude selbst („Wenn‘s um Geld geht: Sparkasse"), ein „moderner" Fernsehturm mit Aussichtsplattform (bei guter Sicht Blick auf die Ostsee), eine „Gletscherrinne", ein „Besiedelungsplatz", und, gleichsam als Open-Air-Foyer dieser Kultstätte: der Parkplatz. 

Wer wird hier angebetet? Der Gott der Zerstreuung, dessen Heilige die Mainzelmännchen sind, der Zonk, das Sandmännchen? Sein „Großer Gott wir loben Dich" ist die Tagesschau-Melodie, der SAT-1-Ball eine seiner Ikonen. Ja, Funk und Fernsehen sind hier vertreten, mit einem in seiner Vielfalt weltweit einzigartigen Ensemble unterschiedlicher Sendeanlagen. Sogar der Elisabetturm diente zwischen 1954 und 1960 als UKW-Sendeanlage. Der Bungsberg hat eine Mission, er atmet Sendungsbewusstsein.

Aber der Bungsberg ist eben nicht nur Kultstätte der Television, sondern auch des konkret-körperlichen Vergnügens. Auf dem Bungsberg befindet sich Schleswig-Holsteins einziges und Deutschlands nördlichstes Skigebiet. Wenn die Schneelage es zulässt, bietet der Nordosthang Mehrere Abfahrten, die in allen Varianten nach circa 25 Sekunden enden. 1970 wurde der 500 m lange Schlepplift installiert, eine Investition, die sich ob der konkurrenzlosen Schneesicherheit des Bungsbergs bereits nach wenigen Wintern amortisiert hatte. Hoppla; jetzt habe ich mich kurz von meiner Phantasie davontragen lassen. Pardon. Nein, ohne Witz: Rekordwinter war die Skisaison 2009/10 mit 54 Lifttagen. Immerhin. 


In internationalen Skigebiets-Test-Magazinen schneidet der Bungsberg zumeist deutlich hinter Lech, Zürs und Cortina d’Ampezzo ab. Mit einer Bewerbung um die Ausrichtung olympischer Winterspiele konnte man sich bisher nicht gegen die starke Konkurrenz durchsetzen. Obwohl ich‘s toll fände. Dann würde sogar ich wieder Olympia gucken. Die hiesige Sendelogistik erfüllt schon mal allen denkbare Erwartungen, zugebaut ist eh alles, und bei Schneemangel lässt sich auf Ersatzdisziplinen wie Hünengrabklettern ausweichen.


Am Gipfelstein lungern zwei Halbstarke mit Ghettoblaster herum, trinken Schlüpferstürmer und hören Piff Diddy. Als ich mich nähere, drehen sie artig am Volumenknopf, und der Rap ebbt ab. Ich bitte sie, mich auf dem Stein stehend zu fotografieren, eine Bitte, der sie beflissen nachkommen. „GM" bedeutet übrigens: „Gradmessung" - eine veraltete geodätische Methode zur Berechnung der Erdfigur. 


Der Abstieg verläuft komplikationslos; ich erreiche wenige Minuten nach meinem Gipfelglück das wohlbehaltene Rad und rolle das Bungsbergmassiv hinab zurück nach Malente. 34 km Radtour hin und zurück. Und dann beginnt der Dreh. 



Dienstag, 19. Februar 2019

Was macht eigentlich Problembär Bruno?


...fragten sich Sohn Leander und ich, klemmten uns Klein-Theodor untern Arm und spazierten zum Museum Mensch und Natur im Nymphenburger Schloß. Zunächst folgen wir unserer Nase in die Abteilung Erdgeschichte. Theo bearbeitet jene Glasvitrine, in der Galileo Galilei als historisch gewandete Big-Jim-Figur für das Konzept der Erde, die angeblich um die Sonne kreist, mit Fäusten. Ja, der unverbogene junge Geist steht den Konzepten der Wissenschaft mit größerer Skepsis gegenüber als wir alten Hasen, die etwa auf die Evolutionstheorie schauen wie die Kanichen auf die Schlange, um im Nagetier-Bild zu bleiben. Womöglich haben sich Giordano Bruno, Kopernikus, Galilei, Einstein allesamt geirrt, und der liebe Gott schuf den ganzen Kram in sechs Tagen, eher er sich am siebten ausruhte, und zwar auf einer riesigen bunten Hängematte, deren rudimentärer Rest heute noch der Regenbogen ist. Na klar; man kann sich fragen, warum Gott die Hängematte falsch herum aufgehängt hat, nämlich mit der durchhängenden Seite nach oben. Kann man, ja. Aber ist das Mattenaufhängen gegen die Schwerkraft nicht gerade ein deutliches Zeichen, ein Statement gegen die Gesetze der Physik, welches Gottes Faulenzerei erst zum Ausweis seiner Göttlichkeit, mithin bibeltauglich werden lässt?
Weiter. Zwischen 1950 und 1960 wurden, so erfahren wir im nächsten Raum, beachtliche 10 % des weltweiten Fluoridbedarfs in einem bayerischen Dorf gefördert, ehe der Fluoridbergbau unrentabel wurde. Schon wieder vergessen, wie das Dorf hiess. Und was man mit Fluorid eigentlich anstellt, ausser dass man sich die Zähne damit putzt. Ich weiss auch nicht, warum ich mir ausgerechnet „10 %" gemerkt habe. Der gut fluorierte Zahn der Zeit nagt an meiner Gedächtnisleistung; meine Hardware ist mittlerweile ziemlich soft. Und damit sind wir auch schon in der nächsten Halle, in der es um die Entwicklung des Lebens geht. 




Ein Schädelknochen fasziniert Leander dort besonders, der flache, kleine, breite Brägenkasten des Australopithecus boisei, des „Nussknackermenschen". Was er nicht an Grips besaß, hatte er im Kiefer: Ungeheure Bißfertigkeit, geeignet für den Verzehr „härtester Pflanzenteile". Im Klartext: Der Kerl verzehrte Xylophone, Saunen und Gelsenkirchener Barock. Ohne Extra-Flourid. Theo robbt derweil „Ä-bff" deklamierend über den Parkettboden. Wäre er ein Nussknackermensch: Gnade dem Parkett! 
Nächster Raum, für mich persönlich der Höhepunkt: Bruno. Nicht Giordano, sondern JJ1 - der Problembär. Da steht er, in seinem stattlichen Glassarg, ausgestopft, beim Plündern eines Bienenstocks am Rande von Kochel am See. Die zeitliche Parallelität seiner Alpentournee und der Fußball-WM 2006 hatte ich vergessen, ebenso wie den an einer Rekapitulations-Tafel erwähnten Einsatz finnischer Bärenjäger mit Hunden und Röhrenfallen (komplett erfolglos). Auf einem Foto sind die Spuren seines Einbruchs in eine Berghütte bei Fügen zu sehen: Die Holzbretter sind wüst zersplittert. Ob das wirklich Bruno war (und nicht doch eher ein Nussknackermensch)? 
Leander und mir kommt Bruno eher zierlich vor. Elegant und eigensinnig wie Karl Lagerfeld. Und, wie er, ein Europäer, die sich über Grenzen hinwegsetzte. Neuland erkundete. Monochrom gekleidet war. 
Damals hielten ausnahmslos alle meine Freunde die Idee, diesen ersten wilden Bären auf Deutschem Boden nach seiner Erschießung auszustopfen und auszustellen für, nun ja, schräg. Und jetzt, da ich vor ihm stehe, empfinde ich diese Geschmacklosigkeit als nicht sonderlich peinigend; im Facebook-Trump-Zeitalter ist des Petzens Präparation pure Petitesse. Beim Betrachten stellt sich mir vielmehr die Frage, ob nicht auch Menschen nach dem Tod ausgestopft werden sollten - bei ihrer Lieblingstätigkeit, so wie Bruno beim Bienenstockplündern. Und dann ab ins Museum, oder zu den Lieben nach Hause, ins Wohnzimmer. Ist das Verbuddeln der Verblichenen nicht eine Riesen-Verschwendung? Würden eine ausgestopfe Oma beim Stricken, ein Karl Lagerfeld beim Choupette kraulen unsere Trauer nicht aufs tröstlichste lindern? Und wenn das analoge Ausstopfen für den Durchschnitts-Hinterbliebenen zu teuer ist, kann man dies zukünftig auch günstig im Internet anbieten: Digital Preparation - der Tote lebt als 3D-Animation weiter, KI-gestützt. Kommt, wetten? 
Und gerade, als ich diesen Gedanken denke, fängt Theodor bitterlich zu weinen an. 
Wir ziehen unseren Hut vor den toten Meistern: Petz, Giordano, Bruno, Ganz und Karl Lagerfeld sowieso, der gewiss nunmehr in einer schwarz-weißen Regenbogen-Hängematte Platz genommen hat, um auszuruhen. 



Montag, 18. Februar 2019

Wie ich neulich eine Ehe zerstörte



Ich habe Probleme mit der Impulskontrolle. 
Eines der jüngeren Beispiele: Ich jogge durch Köln, schiebe unseren Kinderwagen vor mir her, und meine Frau begleitet mich auf einem Hotel-Leihrad.
Es ist Sonntag, die Sonne lacht, am Rheinufer herrscht reges Treiben. Vor der Rodenkirchener Brücke ist baustellenhalber ein Gehweg gesperrt; um auf die Brücke zu gelangen, muss zunächst eine kleine Treppe vom Ufer hinauf zum Bürgersteig an der Fahrstrasse erklommen werden. Ganz Gentleman, entbinde ich meine Gattin von allen Hebetätigkeiten und wuchte zunächst das schwere Hotelbike hinauf. Meine Frau nimmt es oben in Empfang, dreiviertel in Gedanken, weil sie ihr Handy zwischen Schulter und Wange geklemmt hat. Frohgemut hole ich nun den Kinderwagen nebst schlafender Fracht hinterher. Rechts auf die Hüfte gestemmt, ein billiges Liedchen gepfiffen, portiere ich den Filius und sein Gehäuse hinauf.
Als ich oben ankomme, hat meine telefonierende Frau ihr Gefährt um einen Meter versetzt; die vordere Hälfte des Bugrades ragt nunmehr eine Elle in den Radweg hinein. 
Da nähert sich von links ein älteres Ehepaar auf Trekkingrädern im Partnerlook. Er Typ pensionierter Katasteramtsvorsteherassistent, sie Typ pensionierter Katasteramtsvorsteherassistentenfrau. Just als sie den unsauber geparkten Drahtesel erreichen, steht auch meine Gattin mit einem Viertelfuß auf dem Radweg. Das Katasteramtspärchen saust vorbei, und im Wegfahren zischt die Seniorin: „Dusselige Kuh!" 
Was hat sie gesagt? Wen hat sie gemeint? Kurz muss ich meine Gedanken ordnen. Ja, sie hat „dusselige Kuh" gesagt, laut und deutlich. Und sie muss tatsächlich meine Frau gemeint haben - sonst ist ja niemand in der Nähe. Ehe ich bis drei zählen kann, schreite ich zur Tat: Der Kinderwagen verbleibt an Ort und Stelle, meine Frau telefoniert derweil ungerührt weiter. Nach Art eines indianischen Palomino-Reiters springe ich auf das von ihr nachlässig gehaltene Rad, reiße es in Richtung des davon rollenden Seniorenpaares und versetze die Pedale mit maximaler Kraft in Bewegung. Von null auf 35 beschleunige ich in sechs Sekunden, verkürze den Abstand auf die beiden nichtsahnenden Alten, geize nicht mit Muskelschmalz, mein Puls hämmert, mein Kopf wird rot, aber nicht nur, weil ich sprinte wie vor mir zuletzt Lance Armstrong, sondern auch, weil in mir ein Tier erwacht ist, ein zähnefletschender Höllenhund, ein hungriger Tyrannosaurus Rex, der sich aller Ketten entledigt hat und auf den entscheidenden Moment wartet, der über Leben und Tod entscheidet. Beißen, ich will beißen, höre ich dieses Tier in mir röcheln. 
Und da habe ich auch schon zur Katasterfrau aufgeschlossen, fahre linksseitig an die Kinnlinie heran, der Abstand beträgt kaum zwanzig Zentimeter, und dann fauche ich feucht und fiese: „Habe ich eben richtig gehört? Sie haben zu meiner Frau „dusselige Kuh" gesagt? Meine Stimme überschlägt sich, die Kataster-Oma erschrickt, ihr Mann, der ein paar Meter voraus fährt, blickt sich irritiert um. 
Für einen kurzen Moment ist alles in der Schwebe: Die von mir Drangsalierte sucht schlagartig erbleicht nach einer passenden Antwort; ihr Ehegatte ist alarmiert, muss jetzt aber wieder den Kopf nach vorne wenden, um nicht gegen den nächsten Baum zu fahren. Ich radle weiter auf gleicher Höhe mit der Frau, adrenalingesotten, jederzeit bereit, die alte Dame mit einem Prankenhieb vom Rad zu strecken - und die Sonne lacht dazu. 
„Na? Na?" setze ich crescendierend nach; die Seniorin öffnet den Mund, ist unschlüssig, schließt ihn wieder; ich balle meine Faust, dann setzt sie neu an und antwortet mit mühsam unterdrückter Panik: „Nein, zu meinem Mann! Ich hab das zu meinem Mann gesagt!" Ihr Gatte reißt seinen Kopf nach rückwärts, blickt seine Frau entgeistert an, und gleichzeitig weicht alle Spannung von mir; das wilde Tier schläft auf der Stelle wieder ein, und mit milder Genugtuung flöte ich: „Ah! Dann ist ja gut!" Und mit einem „Schönen Sonntag noch!" drossele ich mein Tempo, wende und rolle entspannt zurück zum Ausgangspunkt. 
Meine Gattin beendet soeben ihr Telefonat. „War was?" erkundigt sie sich, was ich sogleich verneine. Und in der Entfernung sehe ich das alte Ehepaar am Wegesrand stehen, großgestisch im hitzigen Disput. Schade, dass man nicht hört, was sie sich zu sagen haben. 
Und dann setzen wir unseren Sonntagsausflug fort. Lächelnd. 

Die Strichmännchen vom Central Park
















Vor etwa einem Jahrzehnt schoss ich diese Bilder, die seither ungenutzt auf einer Festplatte herumlungerten. Unlängst kramte ich sie hervor, da ich in letzter Zeit vermehrt ans Radeln in New York denken musste. Grund: In meinem Sportsfreundeskreis wird viel Zeit mit ZWIFT verbracht. Den Nichtsportlern sei erklärt: Es handelt sich um eine elektronengehirnige Anwendung, bei welcher der Athlet daheim auf einem Fahrrad sitzt, in einen Monitor schaut und aufgrund der in diesem sichtbaren Farbenspiele meint, er pedaliere sich durch die weite Welt. Eine beliebte Route für diese Wohnzimmerathleten führt durch den New Yorker Central Park. Ich selber habe ZWIFT noch nie ausprobiert (kein WLAN, kein Platz, keine Lust), kann mir aber vorstellen, dass die Grafik gerade in der grünen Lunge des Big Apples einige wichtige Details nicht darstellt - zu denen ich die elegant alternden Radlerporträts auf dem Asphalt zählen möchte. 

The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

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