Zu den meistbesuchten Apps auf meinem Schlaufon gehören „The Guardian", „The Sun" und „BBC News". Seit dem Plebiszit 2016, das mich wie ein Paukenschlag aus dem Schlaf des naiven Europa-Optimisten riss, versuche ich tagtäglich zu ergründen, worauf die Briten eigentlich hinauswollen, ob Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg tatsächlich selber glauben, was sie predigen, und wie Premierministerin May es bis heute geschafft hat, in nahezu jeder Rede die gleichen Formeln zu verwenden und dabei Jeremy Corbyn erstaunlich klein zu halten. Die einzige positive Identifikationsfigur, die mir in diesem ganzen, quälend langen Irrlauf begegnet ist, heisst John Bercow und ist der Sprecher des Unterhauses. Immer wieder schafft er es, bei aller Neutralität, zu der ihn sein Amt verpflichtet, luziden Witz und Realitätssinn zu demonstrieren. Ja, die schnöde Realität- das ist ein Gut, dessen Akzeptanz im heutigen England besonders schlechte Karten hat. Von Beginn der Austrittsverhandlungen an konnte man in den englischen Medien vor allem mit Visionen punkten, die bei nüchterner Betrachtung zu Skepsis führen sollten, etwa das Konzept „Global Britain" oder die Annahme, dass die EU sich noch während der Verhandlungen selbst auflösen werde. Ich war stets hin- und hergerissen. Einerseits bin ich das, was Merkel mal intern abfällig einen „Herz-Jesu-Europäer" genannt haben soll: Ich wünsche mir nichts weniger als eine europäische Republik, mit einer legislativen Musik, die im Europaparlament spielt, und nicht in der Kommission. Andererseits liebe ich die Tradition der englischen Exzentriker, habe Edith Sitwells Bücher über die „menschliche Amphibie" Lord Rokeby und seine schrulligen Kollegen mehrfach gelesen und schliesse einen freundlichen Nickelbrillenträger, der allen Ernstes mit Chapeau Claque auftritt, sofort ins Herz. Allein: Jacob Rees-Mogg (das ist der Typ mit Zylinder) hat in England viele Anhänger, die sein Konzept des „Zurück ins 19. Jahrhundert" für tatsächlich tauglich halten. Puh. Ich glaube: Ja, UK kann sich alleine gegen alle auf dem Weltmarkt behaupten, wenn zB jeder Arbeitnehmer bis auf weiteres auf 10% seines Einkommens verzichtet. Die Wettbewerbsfähigkeit würde einen solchen Schub erhalten, alle Nachteile durch Zollschranken wären aufgefangen, dass das Konzept „Der Starke ist am mächtigsten allein" durchaus zum Erfolg führen könnte. Wo, wenn nicht in England wäre ein solch tollkühner Weg möglich? Blut, Schweiß und Tränen - das wäre die passende Tonlage. Aber diese Tonlage will derzeit niemand freiwillig hören - schon gar nicht die vielen Anhänger des Brexits, die sich von ihrem Votum vor allem eine Gesundung des National Health Service und weitere staatliche Wohltaten versprochen haben, eine Abschottung gegen die fordernden Geister der Globalisierung, also weniger, nicht mehr Wettbewerb.
Jetzt ist alles verfahren, verkeilt, vergeigt. Was tun? Ein No-Deal-Szenario nutzt niemandem, eine Verschiebung macht alles nur komplizierter, ein zweites Referendum würde die Spaltung der Briten nur weiter vertiefen. Egal, wie es ausgehen würde: Die unterlegene Seite würde sich betrogen fühlen. Mays ausgehandelter Deal wird keine Mehrheit finden. Was aber denkbar wäre: dass die pro-europäischen Konservativen sich mit den pro-europäischen Labour-Abgeordneten zusammenschliessen und für eine Zollunion kämpfen, also dass, was bisher immer „Norwegen plus" genannt wurde (wobei ich nie kapiert habe, wofür das „Plus" eigentlich stehen soll). GB wäre raus aus der EU, die Modalitäten bereits annähernd durchverhandelt. Nachteil: So wie Norwegen oder die Schweiz übernimmt man die Regelungen der EU, ohne selber mitbestimmen zu können. Und genau dieser Umstand könnte dann ja - später, nach einer Phase der gesellschaftlichen Erholung - neu diskutiert werden, mit der eventuellen Perspektive eines Wiedereintritts in die EU. Wenn sie das denn unbedingt wollen.
Und Jacob Rees-Mogg? Den habe ich, bei allem Dissenz über Europa und diverse andere politische Fragen, trotzdem lieb. Wegen seines Zylinderhutes.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen