15.5.
Im Drogeriemarkt. „Der Gang ist zu eng!“ schimpft eine Mittfünfzigerin, „Abstandhalten unmöglich!“ Die junge Mitarbeiterin nuschelt irgendwas in ihren Mundschutz, à la „Womöglich haben sie recht, aber ich bin für die Innenarchitektur nicht zuständig“ - „Eine Unverschämtheit, ihre Kunden so in Gefahr zu bringen! Ich bin vom Fach, kenne mich aus!“ setzt die Beschwerdeführerin nach. Mit eingezogenem Kopf entferne ich mich Richtung Mundwasserabteilung, brauche Nachschub an lila Listerine, meiner Geheimwaffe im Kampf gegen Corona.
Als ich wiederkomme, hat die Fachfrau noch eine Schippe draufgelegt: „Wahrscheinlich gehören sie auch zu den Corona-Leugnern!“ keift sie, wobei die schrillsten Spitzen der Tirade vom Vlies ihrer Maske geschluckt werden. Die Verkäuferin bleibt stumm, geht schulterzuckend Richtung Kasse ab.
Ministerpräsident Bodo Ramelow hingegen macht aus seinem Herzen kein Halunkenloch: Im Pressegespräch gestand er, an der Beerdigung seiner Nachbarin teilgenommen zu haben, obwohl dies de jure nur engen Familienmitgliedern erlaubt war. Ein Verzicht sei ihm „unmenschlich“ vorgekommen - eine Sichtweise, die ich allerdings nachvollziehen kann.
Die Crux seines Vergehens: Ramelow hat die „Maßnahmen“ selber mit beschlossen. Wie begegnet man da jenen, die während des Lockdowns auf die Teilnahme an Beerdigungen verzichtet haben - oder gar nicht erst eingeladen wurden? Ramelows Offenheit, seine Selbstkritik haben meinen Respekt, aber es wird bei den nächsten Hygienedemos Teilnehmer geben, die sich zur Rechtfertigung ihrer Ordnungswidrigkeiten auf den Ministerpräsidenten berufen.
Man könnte den Eindruck gewinnen: Je unklarer die Lage, desto mehr meint ein jeder, im Recht zu sein, immer & grundsätzlich. Ich habe von einem gut situierten Finanzdienstleister gehört, der seinen Nachwuchs beauftragte, umgehend Studierenden-Nothilfe zu beantragen („Probieren wir einfach mal“) - und just diese Leute regen sich heute über Sanofi auf, weil die ihre Impfstoff-Forschung von den USA mitfinanzieren lassen und darum die Amerikaner zuerst beliefern wollen.
„Der Mensch ist des Menschen Wolf“? Man könnte aktualisieren: Homo homini virus.
Jens Spahn sagt: Der Immunitätsausweis wird kommen, nur nicht so schnell - die Gesellschaft brauche noch Zeit zum Debattieren. Naja, wenn das Ergebnis eh feststeht, können wir uns die Debatte sparen. Wenn es denn so ist, dass man ohne einen solchen Ausweis in bestimmte Länder nicht mehr wird einreisen können, ist der Pass eben notwendig. Habe ich nicht mal von der All-Area-Card phantasiert, in diesem Tagebuch? Noch ist jede krude Phantasie im Verlaufe der Krise irgendwann Wirklichkeit geworden.
Spaziergang in der Stadt. Ein wuchtiges Mannsbild, Typ Rambo mit Pittermännchen-Bauch, macht einen Riesenbogen um mein kleines Söhnchen. Könnte ja eine dieser Virenschleudern sein, von denen man jetzt so viel im Zusammenhang mit Kita-Öffnungen hört. Ich muss schmunzeln; so ungefähr könnte es aussehen, wenn ein Elefant auf eine Maus trifft. Ob sich diese Furcht wieder verliert?
16.5.
Wünsch Dir was 2020: Wenn ich mich hier+jetzt entscheiden müsste zwischen Lockdown und Tracking App, nähme ich die App.
Nach derzeitigem EU-Recht muss eine Corona-App zwingend freiwillig sein, aber ich habe gewisse Zweifel daran, dass sich meine Mitbürger in ausreichender Zahl für diese Lösung erwärmen. Was, wenn man EU-weit die Datenhoheit zugunsten einer Zwangsapp opfert? Auch in diesem Fall würde ich, wenn es hart auf hart käme, für die App votieren - weil sie, wie ich finde, mit weniger Grundrechtsverzicht verbunden ist als ein Lockdown.
Als emsiger Nutzer von Komoot, Strava, Google Maps usw wird mein Standort sowieso für allerlei Zwecke aufgezeichnet, von Leuten, die ich noch viel weniger kenne als Herrn Wieler vom RKI. Außerdem: Meine Strava-Aufzeichnungen dienen letztendlich nur der schnöden sportlichen Bauchpinselei, während eine Corona-App immerhin der Volkswirtschaft eine Perspektive schenkt (Meine Frau sieht das übrigens völlig anders, die zöge einen Lockdown jeder App vor, sogar einer freiwilligen. Sachen gibt’s...).
Nächste Runde. Müsste, dürfte ich entscheiden zwischen Tracking App und Impfung, nähme ich die Impfung. Zum einen, weil ein Impfstoff mir einen gewissen Schutz vor Erkrankung gewährt, ein Trumpf, den die App nicht liefert, zum anderen, weil die App ja nur dann ihren Dienst verrichten kann, wenn ich das eingeschaltete Handy mit ausreichend Akku in der Jackentasche mitführe - eine Last, die ich Schussel nur ungerne schultern möchte. Dann schon lieber den bluetoothfähigen Schlüsselanhänger, mit dem Kanzler Kurz zeitweise smartphonophobe Österreicher beglücken wollte.
Auch wenn ich mich zwischen Zwangs-App und Zwangs-Impfung entscheiden müsste, würde ich die Impfung wählen - sogar dann, wenn der Impfstoff eine schnell zusammengepfuschte, obergärige Plörre wäre. Sofern die Nebenwirkungen Pi mal Daumen zwischen heftigem Kater und 08/15-Grippalinfekt lägen: Immer her mit dem Zeug. Man muss mich nichtmal auf der Liege festschnallen.
Die unerfreulichste Lösung ist und bleibt für mich der Lockdown, selbst in jener weichgespülten Variante, die wir erleben durften. Aber womöglich kommst Du, liebe Leserin, zu einer ganz anderen Bewertung, siehst die Sache zB eher so wie meine Frau.
Ich jedenfalls warte weiterhin sehnsüchtig darauf, dass ich nach acht Wochen endlich wieder in mein Wohnzimmer darf, nämlich das Dinea-Restaurant im zweiten Stock der Kaufhof-Filiale am Münchener Rotkreuzplatz.
Ab Montag ist der Laden theoretisch wieder geöffnet. Aber ob ich mir dort noch lange Kaffee und Mangokremtorte aufs Tablett stellen kann?
Eines ist klar. Müsste ich mich entscheiden zwischen Lockdown, Zwangs-App, Zwangs-Impfung oder einem Zwangs-Besuch bei Galeria Kaufhof-Karstadt:
Ich nähme letzteres.
17.5.
Die Bundesliga muss sich erstmal eingrooven. Hätte mir gewünscht, dass die Trainer am Spielfeldrand Sätze aufs Spielfeld rufen wie: „Los Männer! Denkt an den Abstand! 1,50m!“ oder „Hän-de-wa-schen! Hän-de-wa-schen! Gerne hätte ich auch die „Stay home!“-Geste häuftiger gesehen, die zum Dach überm Kopf angewinkelten Arme.
Ich weiß eigentlich gar nicht, was die Trainer auf der Bank verloren haben. Macht man sowas heutzutage nicht vom Home Office aus, per Zoom, mit im Hintergrund durchs Bild krabbelnden Gören?
Dass überhaupt gespielt wird, finde ich gut. Weniges ist mir momentan pieper als Profisport, aber ich freue mich über jedes Unternehmen, das die Pleite abwenden kann, umso mehr, wenn dies ohne Staatsknete klappt.
Wie wichtig ein lochfreier Sparstrumpf ist, musste ich schon früh lernen. Mein erstes selbst verdientes Geld kassierte ich am 14.1.1983, kurz vor meinem 16. Geburtstag. Ich spielte mit der Punkjazz-Band „KIXX“ im Jugendzentrum Papenburg, und die Gage betrug 400 DM, einen Hunni pro Nase. Auf der Rückfahrt nach Oldenburg ging unser Bandauto, ein hellblauer Opel Kadett, kaputt, und die Reparatur kostete genau, tatatata: 400 DM. Wie gewonnen, so zerronnen, und ich lernte: Junge, was immer passiert, du brauchst 'nen Notgroschen! Kommt mir jetzt zugute, in Zeiten des Berufsverbots.
Wobei, Pardon, ich habe mir eigentlich vorgenommen, nicht von „Berufsverbot“ zu sprechen - das klingt so verbiestert. „Berufsverbot“ - diesen Begriff verbindet man mit dem Radikalenerlass von 1972, der die Beschäftigung von Verfassungsfeinden im Staatsdienst verhindern sollte, und kein betroffener Lehrer, Richter oder Sozialarbeiter hätte sein Berufsverbot für eine Notwendigkeit gehalten, die man schulterzuckend hinnehmen sollte.
Meine Gauklerehre hingegen gebietet es sogar, dass ich dem unausweichlichen coronesischen Entertainer-Schicksal nicht nur fatalistisch, sondern sogar bestens gelaunt entgegen trete.
Meine Eltern durften heute mal wieder auf eine Beerdigung - die erste Corona-Tote im Bekanntenkreis. 84 Jahre alt, recht hinfällig, angesteckt bei ihrem Pfleger. Einspruch! mag da so mancher einwenden, sie starb sicher nicht „an“, sondern „mit“ Corona.
Diesen Spitzfindlern sei gesagt: Leider steckte sie wiederum ihre - vormals - mopsfidele Tochter an, die daraufhin zwei Wochen im künstlichen Koma verbrachte, 18 Kilo Gewicht verlor und der Beerdigung im Rollstuhl beiwohnen musste.
Ja, diese Starb-an/starb-mit-Diskussionen fühlen sich mittlerweile etwas ausgeleiert an. Ist nicht das ganze Leben eine „Vorerkrankung“?
Wer kann, sollte nicht über Details streiten, sondern sich vor allem freuen, dass er oberirdisch mitstreiten darf, juchhei - das ist nicht nur eine Sache der Gauklerehre.
Wie konstatierte Franz Léhar in „Giuditta“: Freunde, das Leben ist lebenswert! Oder, ums mit Opus zu sagen: „Live is life, nana-na-nana“
18.5.
Im ICE. Isch dreh dorsch. Zwei kleine Kinder, zwei Taschen, ein großer Koffer, ein Kinderwagen. Meine Frau will ins Mutter/Kind-Abteil.
Erstmal Mundschutz-Konfusion: Letzte Woche war es noch so, dass in unterschiedlichen Bundesländern unterschiedliche Trageverordnungen herrschten. Da konnte man in Köln losfahren, und wenn man NRW verlassen hatte, durfte der Mundschutz runter. Inzwischen wurde vereinheitlicht, aber für unfähige Altnormalisten gibt es eine Hintertür: Wer etwas isst oder trinkt, braucht keinen Mundschutz zu tragen. Also einfache Lösung: Kaffeebecher in die Hand und gut. Nach Umstieg in Hannover ein schreiendes Kind, kein Alibiverzehr möglich, dafür die bohrenden Blicke der Vollmaskierten. Klimaanlage defekt, Prost Mahlzeit. Oberhemd, Knickerbocker, Babytrage: alles schweißnass. Als beide Kinder schlafen, guckt meine Frau die „Heute-Show“ vom letzten Freitag im Handy, ich schiele mit rüber, und in mir gärt der Unmut. Man macht es sich doch sehr leicht, alle Protestierenden mit Hirnis wie Atilla Hildmann in einen Topf zu werfen. Es ist unbestreitbar, dass Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden, um mit fester Stimme das Hohelied der Solidarität zu singen. Da muss man doch nicht rumeiern, verehrter Kollege Welke. Und wenn man es für nötig hält, darf man nicht nur, nein, dann sollte man sich sogar gegen die „Maßnahmen“ engagieren, verdammt nochmal! Das ist doch eine Frage der Hygiene, wenigstens der seelischen. Puh, ist das heiß in diesem Waggon; am liebsten würde ich mich nackig ausziehen. Was guckt ihr alle so unmimisch?
Dabei sind Demos eher nicht mein Ding, nachdem ich Anfang der 80er auf einer Rekrutenvereidigung im Oldenburger Marschwegstadion von einem äußerst emotionalisierten Polizeiwachtmeister einen beherzten Tritt in den Allerwertesten erhielt. „Unerhört!“ platzte es damals aus mir heraus, dann ging ich empört nach Hause und demonstrierte nie wieder.
Wiederum Wiedersehen mit meinen Eltern in Oldenburg, nach langen Wochen. Aller Unmut weicht der Freude. Wie geht es Euch, was gibt’s Neues in der Familie? Spektakulärste Info: Mein Lieblingsonkel hatte einen Autounfall, mit 96 Jahren. Landstraße, Dämmerlicht. Ein Reh lief ihm vor den Kühlergrill. Der Wagen rotierte, kam von der Fahrbahn ab und landete im Graben. Auto Totalschaden, mein betagter Onkel unverletzt. Jetzt überlegt er, ob er sich ein neues Auto zulegen soll, und wenn ja, welches. Ich tippe mal auf Mercedes-Benz; er ist Stammkunde. Man würde ihn gerne beraten, aber er hört nicht mehr so gut. Immerhin kann sich die deutsche Autoindustrie schonmal auf einen potentiellen Neuwagen-Kaufinteressenten einrichten - das ist doch eine herausragend schöne Nachricht in diesen schweren Zeiten!
19.5.
Wir schlendern durch mein liebes Oldenburg und wundern uns über die Atmosphäre, die sich doch sehr von jener in Bayern unterscheidet. Im Straßenbild wird Maske eher wenig angelegt, die Verkäufer und Verkäuferinnen müssen keine tragen, dafür die Kellner in der Gaststätte. Schönes Gefühl, einzukehren, Tapas am Markt. Wir bestellen deutlich zu viel, so groß ist die Freude, wieder gemeinsam auswärts zu essen.
Mir gefällt auch das Ausfüllen der Meldescheine; sowas ähnliches habe ich schon mal gemacht, nämlich bei der Fußball-WM in USA vor einem Vierteljahrhundert. Biergarten in Dallas County, Olli Dittrich war auch dabei. Bible-Belt, sittenstrenge Gegend. Outdoor-Alkohol war eigentlich verboten, aber man konnte ein auf jedem Tisch ausliegendes Formular ausfüllen, in dem man bekannte, Alkoholiker zu sein und darum des Gerstensafts dringend zu bedürfen. Morgen, so versprach man per Unterschrift, würde man sich bei den Anonymen Alkoholikern melden und dem Suff abschwören. Zum Wohle!
Ja, gemessen an dieser Sitte ist die niedersächsische Praxis völlig unauffällig. Alle sind entspannt und freundlich, es fehlt jene intensive Grundspannung, die wir in München in allen Verästelungen des Gesellschaftslebens verspürten. Im Bus sitzen auch Unmaskierte, und wir machen große Augen.
Aus privaten Zuschriften weiß ich, dass ein Treffen zwischen Großeltern und Enkeln von so manchem Abonnenten mit Skepsis beurteilt wird. Bei uns war es so: Eines Tages erhielt meine Mama eine Push-Nachricht aufs Handy, die empfahl, dass Großeltern weiterhin auf Besuch ihrer Enkel verzichten sollten. Wir überlegten damals am Telefon, bis wann man denn diese Art der Enthaltsamkeit durchhalten sollte, und als einziges plausibles Krisenende fiel uns die Einführung eines Impfstoffes ein. Unter Tränen sagte Mama: „Nein, solange warten wir nicht, wir treffen uns, sobald man wieder reisen kann.“
Die Entscheidung lag sozusagen bei meinen Eltern - die sich inzwischen allerdings auch wieder mit ihren Freunden treffen, und zwar in der Gaststätte, inhäusig. So machen das hier viele, von Tag zu Tag mehr, auch in den sogenannten Risikogruppen.
Um meine Eltern nicht zu gefährden, waren Teresa und ich durchaus diszipliniert. Ich habe in den letzten acht Wochen genau einer Person die Hand gedrückt, und zwar meinem Sohn Cyprian, im Affekt, mit anschließendem schlechtem Gewissen.
Gestern durfte ich mich „infantil“ und „unsozial“ nennen lassen, weil ich den Eindruck erweckt hätte, die Maskenpflicht nicht mit dem notwendigen Enthusiasmus zu unterstützen. Womöglich bin ich tatsächlich unsozial, indem ich diesem Tagebuch möglichst unfrisiert meine Gedanken anvertraue.
Ich verstehe mich weniger als Truppenbetreuer, als Marlene Dietrich des Coronakrieges, denn als Ethnologe in der Feldforschung.
Tatsache ist: Ich halte mich zu 100% an alle demokratisch beschlossenen Regeln, weil ich mir wünsche, dass wir alle gesund und zahlungsfähig diese Krise überstehen, mit dem notwendigen Respekt und ohne Beleidigungen. Nun ja, letzteres klappt noch nicht bei allen so ganz (nehme mich selber nicht aus), aber grosso modo sind wir auf einem guten Weg. Weitermachen!
20.5.
Mein 84jähriger Papa, der ansonsten durch bizarre Hygienewitze besticht („Hund-Hasen-Schutz“), verblüfft mit relativer Humorlosigkeit, wenn es an das Thema Fußball geht. Seinen Status als Fan hat er vorläufig auf Eis gelegt. „Theater, Musiker, Künstler dürfen nicht auftreten - nur bei den Fußballern machen die eine Ausnahme“. „Fußball ist eben systemrelevant“, seufze ich, „außerdem könnte auch unsereiner evtl in leeren Hallen performen, mit ausgeklügeltem Hygienekonzept. Die Fußballer desinfizieren den Ball, wir das Mikrofon“.
Und dann denke ich an den Anfang der Krise, vor der Ausgangsbeschränkung, als ich mit Teresa bei Tommy Krappweis die neuen Fälle von „Rufus T. Feuerflieg“ als Hörspiel aufgenommen habe. Heidiwitzka, was da an Desinfektionsmittel verbraucht wurde! Damals wusste man noch nicht, dass Schmierinfektionen eher seltene Übertragungswege sind, und darum wurde das Studio der Bummfilm nach jedem Take bis knapp unter die Decke mit Sagrotan geflutet.
„Rufus T. Feuerflieg“ ist übrigens ausnehmend gut gelungen, namentlich meine Frau, im Hauptberuf Opernsängerin, hat sich erstaunlich schnell zum Hörspiel-Crack gemausert. Erhältlich ist der Spaß bei Audible.
Voilà, den notwendigen Reklame-Satz hätte ich hiermit integriert. Eigentlich bin ich nicht der emsigste Werber in eigener Sache, aber die Wüstenei, die sich zwischen den Deckeln meiner Auftragsbücher erstreckt, erfordert besondere Maßnahmen.
Gestern erhielt ich aus Kirchenkreisen den Tipp, bei SAT1 & Co doch mal ein Sendekonzept zum Thema Glauben einzureichen - da habe ich mich vor Verblüffung verschluckt und musste minutenlang husten (alle haben geguckt). Anschließend erklärte ich, Fernsehsender hätten momentan ganz andere Probleme, etwa die Schwäche des Werbemarktes. Oder ist so‘ne Reli-Show hot stuff? Hm. Ich versuche ja bereits seit 20 Jahren enorm erfolglos, eine Fahrradsendung im TV zu platzieren. Radeln im TV könnte durch Corona realistischer geworden sein - allerdings gilt dies ebenso für Sendungen mit Autos, die zwar keine gesundheitsförderliche Bewegung bieten, dafür jedoch einen umso besseren Schutz vor äußeren Gefahren - vom Virus bis zum randalierenden Nilpferd.
Ganz tief in der Schublade liegt auch noch ein Konzept zum Thema „Kacken around the world“, das wollte ich mal mit Hella von Sinnen angehen, vor vielen Jahren. Könnte in Anbetracht der sichtbar gewordenen Klopapier-Obsession auch interessant sein.
Wann habe ich mich das letzte Mal so ausschließlich mit einem einzigen Thema beschäftigt? In meiner Jugend hatte ich eine Jazz-Infektion. Schwerer Verlauf. Das ging mindestens drei Jahre lang so: Schule, Mittagsschlaf, dann Saxophon üben in der Kellersauna, Platten hören, Joachim Ernst Berendt lesen und zum Festival nach Moers. In der Rückschau wie ein langer, pulsierender Fiebertraum. Ich müsste immer noch reichlich Antikörper im Blut haben. Allerdings kann man auch vom Jazz nie ganz kuriert werden. Ja, man kann nach akuter Entzündung auch „normal“ musizieren, wird dabei aber regelmäßig von einem chronischen Juckreiz gepeinigt.
Impfstoffe und Medikamente sind weiterhin nicht auf dem Markt. Tests mit Improbufen verliefen nicht überzeugend (Der könnte sogar meinem Papa gefallen - schnell Schlussakkord!)
21.5.
Auf Mamas oller Hollandgurke radle ich morgens um sechs durch die Heimat - von den Eltern über Bümmerstede nach Sandkrug, um vor Wardenburg die Hunte zu überqueren. Rechterhand befindet sich einer meiner absoluten Herzensorte, nämlich der Magdalene-Früstück-Platz. Diesen wohlklingenden Namen trägt eine zur Preziose umgebaute ehemalige Parkbucht, mit Kanueinstiegsstelle und Sitzgelegenheit am Ufer. Frau Früstück, so lese ich, war eine Wardenburger Organistin, Klavier- und Schwimmlehrerin, die von 1909-2005 lebte.
Etwas unterhalb, an der Lethe, wurde ich als Zwölfjähriger mehrfach beim Schwarzangeln erwischt. Papa zahlte für mich das Bußgeld, beim letzten Mal mit der Auflage, mich einer Anglerprüfung zu unterziehen. War bald darauf erledigt, aber seitdem ich den Angelschein besitze, habe ich nie wieder etwas gefangen. Nicht die kleinste Sardelle. Nüscht.
Das ist natürlich ungünstig, wenn man sich ausmalt, dass das internationale Finanzsystem eines Tages zusammenklappen könnte, die Lieferketten reißen, und ich die Familie als Selbstversorger durchbringen muss.
Im Garten wachsen sechs Erdbeerpflanzen, Petersilie und ein Hochbeet voll mickrigen Grünkohls, außerdem sind da Zwiebeln und eine Paprika. Könnte knapp werden, wenn der Angelschein-Fluch nicht rechtzeitig durchbrochen wird.
Ob mir mein Lieblingsonkel verrät, wo ihm neulich das Reh vor den Benz gelaufen ist? Für Wildgulasch? In der Wildeshauser Zeitung las ich gestern einen Artikel über den Unfall, gleich auf Seite eins: „96-jähriger Autofahrer überschlägt sich“ - und wurde doch nur leicht verletzt. Mit solchen Leuten in der Familie muss man sich generell keine Sorgen machen.
Nun gut, da sind auch andere in der Sippschaft: Ein Schwippschwager zweiten Grades ist Lehrer und hat sich aus Angst vor diesem Dings, Ihr wisst schon, krankschreiben lassen. Naja; kann ich auch verstehen: Wochenlang verdeutlichen dir dramatische Bilder im TV den Ernst der Lage, und nach Wochen des beflissenen Bibberns sollst du frohgemut vor eine Schulklasse treten.
Wie nimmt man den Eingeschüchterten die Angst?
Ein Weg könnte ein täglicher Test aller Schulkinder sein, morgens vor Unterrichtsbeginn. Überhaupt aller Menschen, direkt nach dem Aufstehen. Müsste so’ne Art Kontrollstreifen sein, wie beim Schwangerschaftstest. Noch bevor der Kaffee durchgelaufen ist, hat man Gewissheit und legt sich gegebenenfalls gleich wieder hin.
Wo war ich? Ach ja, in Sachen Selbstversorger sind wir noch nicht optimal aufgestellt. Teresa stillt weiterhin unsere beiden Kinder, und manchmal überlegen wir, halb im Scherz, ob wir die reichlich vorhandene Muttermilch nicht auch für unsere eigene Ernährung nutzen könnten, etwa für die Zubereitung von Speiseeis.
Richtig ist: Die Milchproduktion wird durch die Nachfrage geregelt, aber ohne Kraftnahrung kann das maximale Potential nicht ausgeschüttet werden. Woher nehmen, wenn die Geldautomaten erstmal eingerostet und efeuumrankt sind?
In der Nähe kenne ich eine idyllische Verkehrsinsel, ganztägig besonnt, gut geeignet für Kartoffeln und Wintergerste. Man könnte dort ein Zelt aufbauen und den Spaten schwingen.
Urlaub im Ausland ist ja heuer eh so‘ne Sache; Söder predigt regelmäßig, man solle sich in Bayern erholen - und eine dünn besiedelte Verkehrsinsel ist für den Aktivurlaub im Dienste der Versorgung der Ehefrau nachgerade ideal. Hühnergegacker komplettiert das Glück. Wie sagte Oliver Kahn? "Wir brauchen Eier!". "Postkapitalistischer autonomer Agrar-Anarchismus gegen die Angst" - klingt nach einem Manifest, auch für meinen Schwippschwager.
Jetzt Früstück.
22.5.
Liebe Leute, die Ihr mir Videos schickt, in denen dargelegt wird, dass Bill Gates die WHO gehört und er die Weltherrschaft anstrebt: Lasst es bleiben! Ihr seid auf dem völlig falschen Dampfer. Jeder, der sich wirklich eingehend mit der Materie beschäftigt, stößt irgendwann unweigerlich auf die Tatsache, dass nicht Gates, sondern Elvis Presley hinter bzw. in den Viren steckt.
Wie ist zu erklären, dass die von mir bereits vor geraumer Zeit enthüllten Zusammenhänge noch nicht den Weg in Eure Hirne, auf Eure Demos gefunden haben? Ihr seid Schafe, Ihr glaubt den falschen Verführern! Die Bill-Gates-Geschichte soll Euch nur ablenken von der Wahrheit. Ihr sollt, Ihr wollt nicht erkennen, dass Elvis lebt.
Was ist schon the WHO gegen den King of Rock‘n Roll, der in jedem einzelnen der Biester steckt?
Lasst Euch doch nicht von den Systemmedien hinters Licht führen - und „Systemmedien“ erkennt man daran, dass die die Urheberschaft Elvis‘ für die Coronakrise standhaft verschweigen. ARD/ZDF: Kein Wort drüber. Maulkorb. Jebsen&Co: Auch kein Wort drüber. Auch Maulkorb. Vertrauenswürdige Medien erkennt man daran, dass sie die Wahrheit schreiben. Willkommen auf meiner Seite.
Ein Freund am Telefon: „Ich mache mir Sorgen! Du erhältst Applaus von der falschen Seite!“ Das ist ein zwar lieb gemeinter, aber dennoch problematischer Satz. Eine Meinung hat und verkündet man ja nicht, um Anschluss an ein bestimmtes Soziotop zu erhalten, sondern weil man diese Meinung für so überzeugend hält, dass man sich immerhin schon mal selber damit überzeugt hat - es sei denn, man braucht dringend Geselligkeit, etwa, weil man den Lickdown in totaler Isolation verbracht hat. Oh, habe ich etwa Lickdown geschrieben, mit i statt o?
Spontan sehe ich vor mir eine sehr, sehr große Eistüte, die ich in beherzter Züngelei binnen weniger Minuten vernichte, so dass schließlich nur noch ein feuchter vanilliner Fleck am Boden von der Schmelze kündet.
Wusstet Ihr, dass es eine Eissorte gibt, die nach Elvis benannt ist? „Elvis Ice Cream Sundae“ vereint die größten geschmacklichen Vorlieben des King: Erdnuss, Banane und Schinkenbrot. Nein, wusstet Ihr nicht? Aber ihr glaubt an Bill Gates, nach dem noch nie eine Eissorte benannt wurde? Fällt Euch was auf? Wenn einer hinter Corona steckt, dann gewiss kein Software-Kasper, sondern nur ein ganz, ganz großer. Ein Eissorten-Namenspate. Der King halt.
Ein Kommentator aus Braunschweig wundert sich, dass ich mich immer noch mit Corona aufhalte - für ihn existiere das Thema schon kaum noch, und er glaube, das habe mit dem Unterschied zwischen Stadt und Land zu tun. Ich glaube eher, dass es davon abhängt, in welchem Maße man persönlich betroffen ist. Beamte haben keine Einkommenseinbußen durch Corona, Gastronomen und Künstler hingegen haben Glück, wenn sie mit einem Bein in der Pleite stehen, wieder andere liegen bereits coronabedingt in der Kiste - die halten sich mit dem leidigen Thema auch nicht mehr auf.
Aber ich will nicht unken - sonst bekomme ich noch Applaus von der falschen Seite.
Wie schrieb mir Hugo Egon Balder unlängst?
„Wenn immer ALLE nur meckern, können wir sowas wie Corona eben nicht mehr machen!!!“
23.5.
Kaffee mit Krankenhausärztin. Ob sie das Ganze für einen Fehlalarm halte? Überhaupt nicht. Es gäbe zwar weiterhin Intensivkapazitäten, aber man habe durchaus viel zu tun gehabt. Ob die Gefahr übertrieben sei? Auch das nicht. Das Krankheitsbild sei ganz anders als bei der Influenza, mehr Richtung Gefäßkrankheit, mit nicht übersehbaren Folgeschäden. Wichtigster Risikofaktor: Fett. Weil man den beatmeten Patienten dann nämlich nicht umdrehen könne. Fürs erste sei die Sache wohl vorbei - bis zum Herbst. Womöglich handele es sich bei Corona um ein Saisongeschäft, hierin der Grippe ähnelnd. Hurra, endlich wieder Lockdown - der Sommer wird lang werden. Ein zweites Stück Kuchen verschmähe ich; winke-winke und Good-bye.
Zeit für ein Fazit?
Ma was et net.
Worüber ich noch nicht geschrieben habe: Schweden. Für die einen die Nation der Verantwortungsbanausen, knapp an der fahrlässigen Tötung vorbei. Für die anderen ungefähr das, was das kleine gallische Dorf bei Asterix ist: Der Hort das Widerstands. Da ist man Mensch, da darf man’s sein. Ein differenziertes Bild, in feinen Grautönen, wird seltener gemalt, wenigstens in Deutschland. Sicher ist, dass ich bei Schweden in Zukunft nicht nur an Julklapp, Nils Landgren und den Wasalauf denken werde, sondern auch an Anders Tegnell, den nachdenklichen, etwas zerknitterten Staatsepidemiologe der Schweden.
Auch andere Orte haben nunmehr ein verändertes Image. Ischgl zB. Nie wieder wird es Gäste im „Kitzloch“ geben, die sich ausschließlich übers Wetter unterhalten oder das Streicherarrangement auf der neuen Single von DJ Ötzi. Vielleicht entsteht auch noch das Verb „ischgln“, als sprachlicher Vetter von „donisln“ oder „über den Löffel balbieren“.
Und sollte jemals jemand den Schlager „Karneval in Heinsberg“ schreiben, wird man diesen gewiss mit anderen Ohren hören als Ernst H. Hilbichs „Karneval in Kyritz an der Knatter“.
Nachmittags überlege ich, wie ich zu Elvis Presley Kontakt aufnehmen könnte. Anfang 1977, im Alter von 10 Jahren, ging ich an einem Samstagvormittag in den Waschkeller. Auf der dort abgestellten blauen Wickelkommode stand ein alter Schallplattenspieler sowie genau eine LP. Ich nahm sie aus der Hülle, legte sie auf den Teller, setzte den Saphir auf und hörte „Hound Dog“. Ein Moment ungefilterter Magie; ein mintgrüner Blitz durchzuckte mich, und auf der Stelle war ich verliebt. Bald darauf gründete ich den EEPFCOO, den ersten Elvis-Presley-Fanclub Oldenburg-Osternburg, ich wurde erster, Klassenkamerad Oliver zweiter Vorsitzender. Weitere Mitglieder gab es nicht. Am 16. August desselben Jahres starb Elvis (angeblich). Ich befand mich mit meinen Eltern im Urlaub auf Mallorca, in einem Hotel, das auch bei schwedischen Touristen sehr beliebt war. Mit einem von ihnen freundete ich mich an, ein nachdenklicher, schon damals etwas zerknitterter junger Erwachsener, der auch sehr gerne Elvis hörte und mir erzählte, dass er Arzt werden wollte. Sein Name: Anders Tegnell. Ich weiß noch genau, wie wir nebeneinander am Strand Sandburgen bauten und er mir zuraunte: „Elvis is not dead. He just prepares to reincarnate as a microbe”.
24.5.
Nachdem ich gar kein Homeoffice habe, weil ich damit auch gar nichts anzufangen wüsste, verbringe ich meine Tage im Wesentlichen mit meinen kleinen Kindern, was abends zu gediegener Bettschwere führt.
Mir wurde schon früher, am Ende langer Tage mit meinen mittlerweile erwachsenen Söhnen klar, warum die Belange der Kinder (und ihrer Familien) in der Politik keine Rolle spielen („Gedöns“): Die dauermüden Eltern haben schlichtweg keine Kraftreserven, um abends auf Parteiversammlungen zu antichambrieren.
Wenn man die Power der Autolobby mit jener der Familien vergleicht: Au Backe!
Die einen reklamieren höchste Systemrelevanz, lassen sich zum Autogipfel ins Kanzleramt bitten, und wenn’s supergut läuft, wird der Absatz ihrer technologisch abgehängten Dreckschleudern auch noch mittels staatlicher Kaufprämie angeheizt.
Und die anderen, die Eltern? Haben ja selber Schuld, dass sie ganz Deutschland mit ihren lärmenden Blagen, frechen Kostgängern, systemirrelevanten Virenschleudern nerven. Konnten sich offenbar im entscheidenden Moment nicht zusammenreißen, und das Resultat dieser Disziplinlosigkeit muss jetzt eben homegeschoolt werden.
Darum gibt es Auto- aber keine Kindergipfel im Kanzleramt. Letztere sind jedoch eh überflüssig, weil Schule und Kindergarten grundsätzlich überbewertet werden - sonst hätte die Politik Bildung schon lange so ernst genommen, wie man in Sonntagsreden allenthalben hört.
Man stelle sich nur mal vor, Deutschland würde sich um Kinder ähnlich entschlossen bemühen, wie es der Coronagefahr entgegen trat: Kein Kind darf unter die Räder kommen, kein Kind Gewalt erleiden, alle Potentiale sollen voll ausgeschöpft werden, egal, was es kostet, und wenn der Lufthansi die Flügel hängen lässt: so what. Schwer vorstellbar. Woran liegt’s?
Regelmäßig taucht die Idee auf, Eltern eine zusätzliche Wählerstimme für jedes Kind zu übereignen. Hierüber habe ich vor einigen Jahren bei Steffen Hallaschkas „Letzter Instanz“ mitdiskutiert. Ich glaube (hoffentlich erinnere ich mich richtig), Kalle Schwensen war eher dagegen, Micky Beisenherz eher dafür, ich sehr dafür - und Ina Müller echauffierte sich königlich dagegen.
Hängen blieb an diesem Abend: Das Thema ist ein wunderbarer Trigger, um die Kinderlosen zur Weißglut zu bringen. Mehr aber auch nicht, denn, wie gesagt, für ein echtes Engagement auch in dieser Sache fehlen Eltern die Ressourcen.
Und mit diesem Gedanken gähne ich herzhaft, scheitere in meiner Kraftlosigkeit am Versuch, eine Chipstüte aufzureißen, sinke mit Tüte neben meine Frau auf das Canapé und schlafe lächelnd ein, noch bevor ich dessen Federkern mit meinem Gesäß vollständig komprimiert habe.
25.5.
Hirschgarten München. Hui, ist das voll. Im Biergarten biegen sich die Bänke - jedenfalls sieht dies in der Supertotale so aus, als wir uns mit Tretroller und Kinderanhänger nähern. Ein Menschenmeer, wie eine Luftspiegelung, eine Fata Morgana. Der Check-In-Bereich mit Sagrotanspender, Formularstapel und Virensammelstift erinnert an ein Roter-Teppich-Event à la Bambi-Verleihung (passt ja zum Hirschgarten). Nebenan spielen die Leute Basketball, das „körperlose“ Spiel. Naja. Im Boulodrome stehen sich die Senioren gegenseitig auf den Füßen, und das dichte Treiben auf dem Kinderspielplatz komplettiert den Eindruck, dass die „Neue Normalität“ nunmehr Vergangenheit ist. Doktor Drosten würde weinen, Teresa und ich reiben uns immerhin ungläubig die Augen. Eben war doch noch Lockdown! Drei Kleinbusse der Polizei kreuzen durch die Menge, die Lautsprecher bleiben aber stumm. Scheint also alles mit rechten Dingen zuzugehen.
Uff, wir kommen emotional nicht mehr mit. Ist die Pandemie etwa ad acta gelegt, has Elvis left the building? Ich hatte mich doch gerade erst an Abstand gewöhnt, mir erfolgreich eingeredet, dass nur keine Gesellschaft eine feine Gesellschaft, dass Maskentragen die Wucht in Tüten ist.
Und jetzt: Volle Kraft zurück. Nicht Hammer und Tanz, sondern Hammer und Hammer.
Wir sind psychisch überfordert, trauen dem Braten nicht und sparen uns den Biergartenbesuch. Wäre schön, wenn meine Frau bald wieder auf einer Bühne stehen und singen darf - das fehlt ihr nämlich sehr.
Der neue Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, sieht keine Beeinträchtigung der Grundrechte. Sie würden auch weiterhin gelten, aber „anders“. Als ich dies im Radio höre, muss ich herzhaft lachen, weil es mich an die „Radio Eriwan“-Witze meiner Kindheit erinnert - „...im Prinzip ja, aber...“
Kleine Fußnote: Früher haben Teresa und ich sonntags gerne „Tatort“ geschaut. Mit Beginn der Ausgangsbeschränkungen stellte die Realität jedoch jede Fiktion in tiefsten Schatten. Dabei kann man auch Ministerpräsidenten als Jäger gerissener Halunken begreifen, und jeder von ihnen hat seinen eigenen Stil. Und dann gibt es beim Tatort diese Mundart-Kalfaktoren, meist Mitarbeiter in den Kommissariaten. Die gibts in der Realität auch, und der beste unter ihnen ist unzweifelhaft Hubert Aiwanger. „Im Biergarten mit Kumpels“, „Das halbe Hähnchen von der Versicherung“ - Für seine Kabinettstückchen hätte er einen Bambi verdient.
26.5.
Pflichtlektüre ist eingetroffen, Fachliteratur über internationale Toilettenbauten für das Projekt „Kacken around the world“, mit Hella.
Mir schwebt eine Sendung vor, in der es ganz seriös über sämtliche Aspekte eines universellen Menschheitsthemas geht, oder, ums mit Helmut Kohl zu sagen: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt“.
Von Hella weiß ich, dass sie diesem Thema einerseits ein außergewöhnliches Interesse entgegen bringt und andererseits in einer Weise drüber sprechen kann, die man durchaus unverkrampft nennen darf.
Ich würde den wissenschaftlichen Blick beisteuern, traue mir, ganz ohne Scheiß, Interviews auf Augenhöhe mit Proktologen, Entsorgungsingenieuren und Zellulose-Zwischenhändlern zu.
Unsere Berghütte bietet schon mal einen tauglichen Drehort, nämlich das sogenannte Winterklo, ein heimeliges Plumpsklo, dessen Fallgrube vom Misthaufen des benachbarten Kuhstalls aus zugänglich ist. Schlau konzipiert.
Ramelow will in Thüringen alle Verordnungen außer Kraft setzen, die mit Corona zu tun haben; aus Verboten sollen Gebote werden. Der Gedanke ist mir natürlich sympathisch, aber ob das so funktioniert? Dagegen spricht, dass es Leute gibt, die Vorsicht nur dann walten lassen, wenn der Staat sie dazu anhält. Ob der Anteil der Unvernünftigen groß genug ist, um sich epidemiologisch negativ auszuwirken, wird man in Thüringen studieren können - das ist ja ein kapitaler Trumpf des Föderalismus, dass man parallel verschiedene Konzepte ausprobieren kann.
Gut möglich, dass Ramelows Weg falsch ist.
Ihn deshalb in die Nähe von Verschwörungstheoretikern zu rücken, wie dies Lars Klingbeil in der Bildzeitung tat, ist jedoch wenig hilfreich.
Dass in der Flüchtlingskrise zeitweilig jeder, der nicht mit Merkels Grenzöffnung einverstanden war, als „Nazi“ beschimpft und jeder, der dafür war, als „Gutmensch“ verächtlich gemacht wurde, verhärtete nur die Fronten.
Ich rege hiermit höflichst an, dass wir uns diesmal phantasievoller und vor allem nuancierter beleidigen.
Besten Dank, auch an die Händeschüttler und Sagrotan-Jakobiner.
Ob eine zweite Infektionswelle im Anmarsch ist, lässt sich übrigens besonders gut an der Virenkonzentration im Abwasser erkennen, wie ein Team um den Virologen Sébastien Wurtzer in Paris herausfand, und zwar noch bevor die ersten Krankheitsfälle Praxen und Kliniken füllen.
Ein Frühwarnsystem könnte in thüringischen Kläranlagen installiert werden, um rechtzeitig Alarm zu schlagen und betroffene Kommunen zu isolieren.
Das große Geschäft im Dienste der Prävention - auf jeden Fall ein tolles Thema für Hella und mich. Wird sofort notiert.
27.5.
Und wenn in diesen Tagen die Zukunft der Schule beginnt?
Vor einigen Jahren lernte ich auf einer Party einen Beamten aus dem bayerischen Kultusministerium kennen, der behauptete, das Schulsystem des 20. Jahrhunderts sei eines Tages nicht mehr finanzierbar. Privatschulen würden dann zur Regel werden, und öffentliche Schulen seien (analog zu Hartz 4) den Kindern sehr armer Schlucker vorbehalten. Mich fröstelte, als ich dies hörte, aber dann dachte ich: Party Talk halt; vielleicht will er sich wichtig machen. Ich erzähle ja auch manchmal, ich würde Anders Tegnell vom gemeinsamen Mallorcaurlaub in den 70ern kennen.
Manchmal habe ich in diesen Tagen jedoch den Eindruck, Online-Unterricht werde strategisch glorifiziert. Als wolle man die Gelegenheit zur Durchdigitalisierung der Bildung nutzen. Die Schüler bleiben einfach daheim und lernen am Bildschirm. Billiger wäre es allemal: Man braucht keine Schulgebäude mehr, keine Busse auf dem Land, man spart Heizkosten, und diese ganzen lästigen Ärgernisse wie schmutzige Schultoiletten entfallen. Es gibt auch keine Prügeleien mehr auf den Schulhöfen, Lehrer können sich nicht anstecken, und Klassenfahrten werden per VR-Brille erledigt. Studienreisen sind für Schulen momentan sowieso nicht machbar.
Dabei erwacht so manche Destination gerade wieder zum Leben: Südtirol zB versucht, mit Coronatests als Dreingabe Touristen in den Urlaub zu locken. Ob das Beispiel Schule macht? Fischmarkt in Hamburg. „Nicht ein Aal, nicht zwei Aale, ich geb dir für zwanzig Euro drei Aale und einen Corona-Test obendrauf!“ Yps mit Gimmick. Zum Muttertag ein Mon Chéri plus Coronatest im Schmucketui.
Und nun zu den wichtigen Dingen.
Jimmy Cobb ist tot. Er starb mit 91 in New York.
„Kind of Blue“ ist die beste Schallplatte, die ich kenne. Seit 40 Jahren ist sie mir so eine Art Vademecum in allen Lebenslagen. Da ist einerseits Miles Davis’ Satin-Erotik, mit synästhetisch imaginierten ernst dreinblickenden, etwas blasierten Beauties in mottenlochfreien Negligés.
Wenn makellose Schönheit überhaupt sexy sein kann, dann auf diesem Album.
Und andererseits ist da die verhaltene Ekstase John Coltranes. Meditation, Andacht, Himmelfahrt - Trane zuzuhören, wie er auf dem Tenorsax Rosenkränze betet, war mein erster, bis heute gangbarer Weg zu Gott.
Weitere lebenslange Prägungen: Denke ich an Introversion, denke ich sofort an Bill Evans Klavierspiel bei „Blue in Green“, und höre ich Jimmy Cobbs Beckenspiel, sehe ich unwillkürlich einen frei im Raum rotierenden, spindelförmigen, bläulich schimmernden Diamanten.
Jimmy Cobb war der letzte Überlebende, und, klar, sein Tod ist traurig, wie eben jeder Tod traurig ist, aber der Diamant wird sich weiterdrehen, so lange, wie Musikfreunde „Kind of Blue“ hören - und das kann noch eine ganze Weile andauern, und irgendwelche Viren werden daran nichts ändern.
Ach ja: Der Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen fordert die Wiedereröffnung der Bordelle. Bei der Frage, was ein denkbarer Schlusspunkt der Krise sein könnte, fielen mir, neben Impfstoff-Einführung, bundesweit null Neuinfizierte und die folgende Abschaffung von Mundschutz/Mindestabstand auch immer die Bordelle ein. Wenn die aufmachen, endet die Krise mit einem Puff!
28.5.
Meine Frau schlägt vor, den Großeinkauf per Fahrrad zu erledigen.
Mit Kindern, Anhänger und dem übergroßen Rucksack aus meiner Camping-Ära gehen wir ans Werk und befüllen den Einkaufswagen, ulkigerweise vornehmlich mit Tiefkühlkost, obwohl wir gar keine Tiefkühltruhe besitzen.
Kombiniere: Der blinde Hamster-Wahn hat nun auch uns ergriffen, etwas verspätet.
„Der letzte Hamsterer“ könnte auch als „Film Film“ bei SAT1 taugen. Muss ich bei nächster Gelegenheit den Redakteuren vorschlagen (wann immer die kommt).
Immerhin lerne ich durch den Einkauf, dass Kettenriss, Leisten- und Kühlkettenunterbruch, dass Auto- und Tiefkühltruhen-Kultur aufs engste miteinander verbunden sind. Ja, Kraftfahrt und Fischstäbchen sind Geschwister im Geiste.
Dass mir schwere Lasten allerdings Spaß machen, weiss ich ja eh.
Im Nachhinein ärgerlich, dass ich die Spargelsaison ungenutzt habe passieren lassen; Stechen liegt mir bestimmt auch. Außerdem will ich unbedingt herausfinden, warum für diesen Job angeblich nur Polen taugen. Bin ich als Schrumpfgermane zu doof? Zu weich? Um dieses Geheimnis zu lüften, vereinbare ich mit meiner Managerin Steffi, dass sie mich bei der nächsten Welle in den Ernteeinsatz schickt und während meiner Arbeit in einem Klappstuhl am Feldrand Platz nimmt, mit Thermobecher und Schirmhütchen. Und ihre übliche Provision kassiert - Steffi muss ja auch von was leben.
Am Nachmittag berichtet mir ein befreundeter Reeperbahn-Gastronom von seinem ritterlichen Kampf gegen die coronesischen Windmühlen. Mit Schanklizenz dürfte er seinen Laden öffnen, und zwar für genau 10 Personen, die sich jedoch allabendlich aufs fürchterlichste besaufen müssten, um wenigstens die Kosten für Raumpflege und Bierkühlung reinzutrinken. Als Besitzer einer Lizenz für „Tanzlustbarkeiten“
(Behördenhamburgisch, kein Witz) muss mein Freund momentan jedoch die Füße stillhalten. Er hat schon versucht, die Lizenz in eine solche für „Tanzunlustbarkeiten“ umzuwandeln (müdes Wippen zu Brit-Pop der 80er), aber der Herr vom Amt nestelte nur kurz an seinen Ärmelschonern, verzog ansonsten keine Miene. Antrag abgelehnt.
„Wer auch nur den leisesten Zweifel an den behördlichen Maßnahmen äußert“, so der Reeperbahnwirt, „gilt heutzutage ruckzuck als Verschwörungstheoretiker. Das erinnert mich an die Bildzeitung in den 60ern, die belegte alle Andersdenkenden mit dem Spruch „Lange Haare, kurzer Verstand!“ Haha, stimmt. Aus der Kategorie „Geh doch rüber!“ Phrasi passati, so wie „Frauen und Kinder zuerst“.
Schönen Tag allerseits!
29.5.
Professor Drosten. Es gibt überhaupt gar keinen Zweifel daran, dass er Deutschlands Corona-Fachmann Nr. 1 ist. Bei Kekulé, der gewiss auch ein großartiger Wissenschaftler ist, muss ich offen gestanden immer ein kleines bisschen an Sigmar Solbach denken, als „Der Arzt, dem die Frauen vertrauen“, RTL, 90er Jahre. Hoffentlich nimmt er mir diese Assoziation nicht krumm. Vielleicht schmeichelt sie ihm sogar ein bisschen - hat er doch selber in Filmen mitgespielt, etwa 1968 unter dem Pseudonym ‚Sascha Urchs‘ in „Bübchen“ von Roland Klick. Den Streifen habe ich nie gesehen, aber Drostens informativen Podcast haben meine Frau und ich vollständig durchgehört, mehrfach, der läuft bei uns als Dauerbeschallung von morgens bis abends; die Nachbarn denken bestimmt, der Drosten wohnt bei uns im Gästezimmer. Dass Bodo Wartke eine Lobeshymne auf ihn sang, empfand Drosten als besondere Ehre, die Morddrohungen sind die düstere Kehrseite der Medaille. Und obendrein die Bildzeitung: Alles ein bisschen viel.
Was ich nicht verstehe: Warum man überhaupt twittert. Spätestens seit Habeck sollte sich doch rumgesprochen haben, dass twittern nicht erholt, sondern stresst, dass Triebabfuhr per Giftpfeil nicht lindert, sondern zerstört.
Instagram kann gut lange Beine, hohler Kopf, Facebook ist perfekt für mäandrierende Selbstgespräche magenkranker Senioren, und Twitter ist Trump. Wo will man sich da einsortieren? Ich hätt’ gern das Selbstgespräch.
Ach ja, dann ist da ja noch Hendrick Streeck („Heinsberg-Studie“), auch ein exzellenter Forscher. Und Prof. Melanie Brinkmann von „Hart aber fair“. Ein bisschen schade, dass der Beef in dieser Szene manchmal an Oliver Pocher erinnert, oder an Deutsch-Rapper. Kekulé kritisiert MC Platzhirsch und wird dafür auf Twitter gedrostet, dass er „erstmal was publizieren soll“, um ernst genommen zu werden. Die Bildzeitung lacht sich dann natürlich ins Fäustchen - das ist genau ihr Timbre.
Ich bin ja so froh, dass ich nicht Virologe geworden bin, denn ich mag es nicht, von Kollegen gedisst zu werden, und könnte selber niemals über Kollegen herziehen. Ich finde die netten nett, und die anderen nehme ich gar nicht wahr. Ich bin auch sehr froh, kein Bildzeitungs-Mitarbeiter zu sein; ich stelle es mir enorm anstrengend vor, von Berufs wegen Leute erst auf den Heldensockel zu hieven, um sie anschließend per Kniekehlentritt wieder runter zu befördern. Seit 68 Jahren geht das so, immer rauf und runter.
So’n Chefredakteur bei der Bildzeitung hat ein schweres Los; man möchte ihn mal feste drücken, ihm nachts die Tränen aus dem Gesicht wischen und Mut zusprechen.
Die Virologen würde ich nicht weniger innig umarmen, ihnen danken für den phantastischen Job, den sie da machen, und als der Lebenserfahrenere würde ich ihnen raten: Widmet Euch Forschung und Lehre, das reicht völlig aus, ansonsten gut essen, trinken, schlafen, und, um Himmels Willen, meidet Twitter.
Wir sitzen alle in einem Boot und rudern durchs Dämmerlicht - Ihr aber auch!
Und jetzt erst fällt mir auf, dass Ihr Euch garantiert alle nicht von mir umarmen lassen wollt, von wegen Infektionsschutz.
Wahrscheinlich werde ich niemals ernst genommen werden.
(gepostet ohne peer review).