20.7.
In der S-Bahn zum Pilsensee erklärt eine ältere Dame in derbem bayerischen Dialekt einer anderen älteren Dame die Welt. Als wir zusteigen, geht es um Lachse. Was heute als Lachs verkauft wird, sei gar kein Lachs, sondern ein kleiner Fisch, nicht größer als ein Guppy, dessen Fleisch eingefärbt werde. Man züchte ihn in stehenden Gewässern, sehr enge Behälter, Aquarien mit Löchern. Die Fische hätten Läuse, können sich aber ja nicht kratzen - und das geht ja auch alles ins Abwasser! Ich runzle die Stirn, kann mir denken, welche Zustände sie - zurecht - beklagen will, nur in den Details irrt sie hier und da.
“Mei san die süß“ lobt sie nun unsere Kinder, „schöne brave deutsche Kinder! Wissen’s, die ausländischen Kinder schreien ja immer, mit wenigen Ausnahmen, ich kann am Geschrei schnell erkennen, welche Kinder ausländische Kinder san“.
Ich zucke zusammen und gucke konzentriert in die andere Richtung. Soll ich mich bedanken? Oder sie auf ihre Denkfehler aufmerksam machen? Oder mit ihr diskutieren?
Im unter der Waggondecke hängenden Monitor der MVG gibt es eine Rubrik mit Zitaten berühmter Persönlichkeiten, und just, als ich auf den Monitor blicke, lese ich dort, von Hermann Hesse: „Jeder Mensch ist liebenswert, wenn er wirklich zu Worte kommt“.
Und während die Lachsläuse- und Kinderschreispezialistin noch hinzufügt, dass sie ja selber aufgrund ihres Aussehens oft für eine Italienerin gehalten werde, lobpreise ich innerlich den Öffentlichen Personen-Nahverkehr. Wo sonst hat man Gelegenheit, seine Mitmenschen so gründlich kennenzulernen, und zwar auch jene Mitmenschen, mit denen man sich sonst aus Gründen eher selten unterhält. Das mag jetzt nach Ironie klingen, aber ich meine es betont unironisch: Wenn es überhaupt eine Gesellschaft gibt (Margaret Thatcher verneinte dies), dann könnte es sinnvoll sein, wenn ihre Mitglieder wenigstens einen ungefähren Eindruck voneinander haben, besser noch: Wenn sie einander zuhören, sich kennen und - im Extremfall - sogar liebenswert finden.
Die Plätze, an denen unterschiedliche Soziotope sich begegnen, sind rar. Fußball verbindet viele, aber einstweilen ist da alles vergeistert. Ich bin ein Fan staatlicher Schulen, auf denen alle möglichst lange gemeinsam unterrichtet werden - eben, um die gegenseitige Kenntnis zu vertiefen. Und dann sind da eben Busse und Bahnen.
Und wo ich gerade nach diesen Verbindungselementen suche: Corona gehört natürlich auch dazu. Erwähnte ich nicht unlängst Eibl-Eibesfeldt, der den verhaltensphysiologischen „Sinn“ der Fremdenfeindlichkeit in der Stärkung der eigenen Gruppen-Identität sah?
Ist nicht das Corona-Virus ein solcher Feind? Der perfekte „Fremde“: Neu, unbekannt, unberechenbar, er kann kein Deutsch, verweigert die Integration, ist faul, liegt uns auf der Tasche. Auch als klassischer Sündenbock ist Corona tauglich. Wie oft habe ich jetzt schon gehört: „Tut mir leid, geht nicht, wegen Corona“. Fernsehsendung wird abgesetzt? Warum? Corona ist schuld etc.
Führt nicht der Maskenzwang, der Lockdown, das Ritual des Händewaschens, von dem wir annehmen, dass wir es alle zelebrieren, reich und arm, jung und alt, zum Gefühl, einer Schicksalsgemeinschaft anzugehören? Gemeinsam gegen einen arglistigen, fiesen Gegner. Stärkt dieses Gefühl unsere gemeinsame Identität, jenseits der bisweilen etwas schal wirkenden Solidaritäts-Beschwörungen?
21.7.
Natürlich hätte ich einschreiten müssen. Aufmerksame Leser wiesen mich zu Recht darauf hin, dass es notwendig ist, Rassismus entgegenzutreten, wo immer man ihm begegnet, also natürlich auch in der S-Bahn. Zu meiner Verteidigung kann ich wenig vorbringen, außer, dass ich die These der älteren Dame, dass „ausländische“ Kinder mehr schreien würden als „deutsche“ Kinder, gar zu abstrus für eine sachliche Erwiderung fand. Wo soll man da anfangen? Alle Kinder schreien, wenn sie ein unerfülltes Bedürfnis haben - was gibt’s da zu diskutieren? Aber richtig ist: Unwidersprochen machen derlei Thesen die Runde, und ihre Verbreiter halten sich für oberschlau.
Beim nächsten Mal werde ich meine Schüchternheit überwinden und meine Stimme durch den Vlies schallen lassen. Vielleicht war’s mir für ein Streitgespräch gestern auch einfach zu heiß, denn die Münchner S-Bahn fährt ohne Klimaanlage. Irgendjemand erzählte mir neulich, das hänge mit Corona zusammen: Laufende Klimaanlagen würden die Viren im ganzen Zug verbreiten - dann lieber Hitzestau. Vielleicht stimmt das auch gar nicht, und es war damals, in der „alten Normalität“, genauso heiß wie heute, aber ich kann mich schon jetzt nicht mehr an alle Details erinnern, die unser präcoronäisches Leben ausmachten. Puh, die Hitze dieser Tage macht meinen Gehirnschmalz dünnflüssig; er rinnt ölig aus den Poren, und im Dachstübchen bleibt nur kochender Sulz.
Was gibt es noch richtigzustellen? Maskenzwang, genau. Man sage besser „Maskenpflicht“, der Begriff „Maskenzwang“ suggeriere eine geistige Nähe zu gewissen Kreisen, denen ich sicher nicht angehören wollen würde. In Ordnung, ich verstehe den Punkt. Pflicht - das klingt nach staatsbürgerlicher Notwendigkeit, Zwang nach Gesslerhut. Da ist es wieder, das Gefühl, ein Ethnologe auf den Virus-Inseln zu sein, der sich im Irrgarten der Bräuche ihrer Ureinwohner nur allzu leicht verläuft. Mal wieder im Fettnapf gelandet, seufze ich, und nehme mir vor, zukünftig von der Maskenpflicht zu sprechen.
Besuch im Freibad. Erstmal online einchecken. Seite lädt, Seite lädt, Seite lädt. Ich bin zu ungeduldig für diese Ära, und es ist mir unbegreiflich, wie man dieses Internet glorifizieren kann. Seite lädt, Seite lädt, Seite lädt - das soll dieser heiße Scheiss sein, von dem alle schwärmen? Eine glatte halbe Stunde warten Teresa und ich, dann endlich erfahren wir, dass das Dante-Bad ausgebucht ist. Immerhin gibt’s ja noch Schwarzmärkte, auf denen bereits erworbene QR-Codes mit Gewinn weiterverkauft werden, digital und in der Nähe des Eingangs. Nachdem Teresa am Rechner nicht fündig wird, dränge ich darauf, den Schwimmbadbesuch ad acta zu legen. Aber da wir eh in der Nähe sind, besteht Teresa auf einen Ortsbesuch; sie quatscht unerschrocken potenzielle Schwimmbadkarten-Schieber an, und bereits mit dem dritten - ich staune nicht schlecht - wird sie handelseinig.
Das gut gefüllte Flachwasserbecken, in dem wir uns tummeln, lässt mich erneut zweifeln. Mindestens im liquiden Teil der Wasserrutschen-Landezone werden die Abstandsbestimmungen nicht immer akkurat eingehalten. Strenggenommen müsste an diesem Ort Maskenpflicht herrschen, aber wie sich Vlies- und Stoffmasken im, unter und knapp über Wasser bewähren, wurde im Drosten-Podcast noch gar nicht behandelt.
Ich plädiere vorsichtshalber für einen Schorchelzwang, äh, eine Schnorchelpflicht!
22.7.
Am Donnerstag trete ich auf Sylt auf, in Wenningstedt. Um wenigstens ein paar Unerschrockene in den „Kursaal 3“ zu locken, führe ich ein telefonisches Interview. Die Zeitungsjournalistin berichtet, dass während der Krise auf Sylt eine umfassende Diskussion in Gang gekommen sei. Der gemeine Insulaner stellte fest: So schön kann’s also sein, ohne Maserati-Parade, ohne nervige Urlauber, ohne volle Strände, und nun fragen sich offenbar viele Sylter, ob man überhaupt zurück wolle zum Geschäftsmodell von vor Corona, also zu Tourismus und Immobilienwirtschaft. Viele Sylter haben ihren Grund verkauft, wohnen nunmehr auf dem Festland und pendeln. „Mit denen hält sich mein Mitleid in Grenzen“ sagt die Journalistin.
Ob ich denn als wiederkehrender Besucher eine Entwicklung bemerkt hätte? Na klar. 1988 war ich das erste Mal da, für Fotoshooting und Videodreh auf der Wanderdüne in List („Weine Nicht“), und seither war ich immer mal wieder zu Besuch.
Ende der 80er stand Jürgen Gosch noch in einer bescheidenen Fischbude auf Rädern, heute hat er den Norden fest im Griff, mit Flanierhalle, unzähligen Restaurants und Riesenrad. Als ich das letzte Mal voriges Jahr dort war, fielen mir die vielen Neubaugebiete auf, in denen auf urig getrimmte Reetdachhäuser en gros gebaut werden, die für wahnwitziges Geld an King Krösus und Konsorten verhökert werden.
Kein Wunder, dass die Insulaner selber ins Grübeln kommen. Die Journalistin erzählt, dass alles auf dem Prüfstand stehe. Aber was für Alternativen gäbe es überhaupt? Ein Zurück zum Walfang wird jedenfalls schwierig, unkt meine Gesprächspartnerin, und heimlich denke ich Westentaschen-Schopenhauer mir meinen Teil, nämlich, dass man prima innehalten kann, wenn man eh innehalten muss, aber sobald wieder das schnelle Geld lockt, weicht die Denkerpose dem Dollarzeichen. Sollte es diesmal anders sein, verdankt Sylt, verdanken wir alle Corona ungeheuer viel. Zu viel, bin ich geneigt zu denken.
Ob ich nicht Lust hätte, als Bürgermeister zu kandidieren? Ich danke artig. Sowas kann ich nicht.
Es gibt zwei Shows am Donnerstag à 50 Minuten, und keck lade ich dazu ein, sich Tickets für beide zuzulegen. Dann jedoch mache ich einen Rückzieher; ich kenne die behördlichen Details nicht, aber wahrscheinlich muss das Publikum komplett ausgetauscht werden, oder? Sonst habe die Begrenzung auf 50 min doch keinen Sinn. Die Journalistin hat auch keine Ahnung. Das ist das Spannende an dieser Zeit: Dass grundsätzlich nie jemand Bescheid weiß. Alle tappen wir im Dunkeln, manche hauen dabei mit dem großen Zeh gegen das Tischbein, die anderen nicht.
Was ist sonst passiert? Sonnenbrand, wie jedes Jahr. Mathilda kann seit heute krabbeln. Theo las ich heute achtmal sein Lieblingsbuch vor, das erste Mal morgens um acht, nämlich: „Gute Nacht, lieber Mond“. Teresa ist schon wieder wegen Aerosol-Alarm ein Konzert abgesagt worden, Schuberts „Der Hirte auf dem Felsen“, geplant für Oktober.
Der EU-Gipfel ist zu einem erfolgreichen Ende gekommen, insofern als dass man sich auf die Verabschiedung surreal hoher Geldbeträge geeinigt hat, die bei mir nicht einmal mehr einen offenen Mund, sondern nur noch Schulterzucken hervorrufen.
Dafür wird an Zukunft und Klimaschutz gespart, juchhei.
Orban rühmt sich, nicht nur gut abgeräumt, sondern auch den „Stolz“ seiner Nation verteidigt zu haben, und beim Wort „Stolz“ wird mir immer ein bisschen schlecht. Habe noch nie davon gehört, dass „Stolz“ zu irgendetwas gut ist. Oder hat jemand ein Beispiel, das mich überzeugen könnte?
23.7.
Einer Bekannten war die Spannung seit Beginn der Ausgangsbeschränkung gar zu hoch, sie hielt‘s nicht mehr aus. Schlaflosigkeit, Herzrasen, Panikattacken, beim Einkauf im Supermarkt brach sie in Tränen aus. So ging’s monatelang, bis vor wenigen Wochen, als sie einen radikalen Entschluss fasst: „Corona ist für mich vorbei“. Sie tut fortan so, wie wenn nichts wäre, und schlagartig bessert sich ihr Befinden. Leider versäume ich es, nach gewissen praktischen Details zu fragen, ob sie zB eine Maske dabei hat, wenn sie mal auf’s Amt muss. Wahrscheinlich schon. Aber man kann viel delegieren und es bisweilen auch einfach drauf ankommen lassen, nehme ich an.
Ein weiteres Treffen der Spielgruppe. Die Mutter, die unlängst das Hygienekonzept bemängelte, weil im Wald Stöckchen von Kinderhand zu Kinderhand wanderten, ohne dass diese vor den Übergaben mit Desinfektionsmittel eingesprüht wurden, ist nicht wieder aufgetaucht. Einladungen zu außerplanmäßigen Treffs blieben unbeantwortet. Corona-Ghosting.
Und dann ist da der Freund, dessen Frau infolge eines geplatzten Aneurysmas die Corona-Zeit im Koma verbrachte, die Intensivstation überlebte und nun hoffnungsvoll stimmende Fortschritte macht. „Doch“, berichtet mein Freund, „ich habe Corona durchaus wahrgenommen, aber nur ganz am Rande“. Ärgerlich bis absurd war aus seiner Warte vor allem das eigentlich strikte Besuchsverbot im Krankenhaus. Eigentlich, denn es fand sich oft kooperatives Personal, das die strengen Regelungen im Sinne der Patientin, ihres Mannes und ihrer Kinder auslegte oder gleich beide Augen zudrückte - zum Glück, sagt mein Freund.
Da er sich bis auf weiteres um die schulpflichtigen Kinder kümmern wird, hat er keine Gelegenheit, Geld zu verdienen, was aber, weil er in meiner Branche tätig ist, momentan für ihn sowieso nur eingeschränkt bis gar nicht möglich ist. Aber wie versicherte Monika Grütters? Für die Kreativen sei der Weg zur Grundsicherung vereinfacht. Nun denn; ich hoffe, dass sein Antrag umstandslos akzeptiert wird. Wehe, wenn nicht. Dann werde ich persönlich nach Berlin reisen und Frau Grütters auf einen Kaffee einladen.
Ich kenne in meinem Freundeskreis mittlerweile viele Beispiele von Künstlern, die sich erst nach Monaten über bayerische „Künstlersoforthilfe“ freuen konnten, oder deren Antrag ohne Begründung abgelehnt wurde. Diesmal muss es klappen.
Ob in einem solchen Fall beten hilft? Mein Freund hat sich derartige Versuche der Einflussnahme verbeten, und bisher habe ich mich an seine Vorgabe gehalten...
In Vorbereitung der Auftritte auf Sylt und Amrum habe ich erstmals wieder mein Tagebuch durchgeblättert. Was sofort auffällt: Alle Phantasien, die ich anfänglich als „schrullige“ Ideen notierte, sind sehr bald Realität geworden: Renaissance der Kleinstaaterei, Rückgang der Kriminalität, Verdächtigung des Hochsicherheitslabors in Wuhan. Nur meine Hypothese, nein, meine Gewissheit, dass der King, dass Elvis Presley höchstpersönlich hinter Corona steckt, hat weiterhin nur Anhänger im engsten Kreis der Insider, der aufgewecktesten Connaisseure. Unklar, was ich von diesem offenkundigen Unwillen der Mehrheit, sich der Realität zu stellen, halten soll. Viele sind Schlafschafe, klar, andere wissen ganz genau, dass Elvis the Pelvis hinter all dem steckt, behalten’s aber für sich, ganz der Vorgabe der Kings folgend, der bekanntlich „A little less conversation“ sang. Wahrscheinlich besser so; nicht auszudenken, was hier los wäre, wenn sich die Wahrheit herumspräche...
Spät am Abend lese ich, dass Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Vollverschleierung an Schulen verbietet. Der Ministerrat habe beschlossen, dass es für Schülerinnen nicht mehr erlaubt sei, mit Ganzkörperverhüllung zur Schule zu gehen.
„In einer freien Gesellschaft sollte man sich überhaupt nicht voll verschleiern“ erläuterte Kretschmann.
Aha.
24.7.
Erste Flugreise n. C. Bin baff: Man muss seinen durchsichtigen Kulturbeutel nicht mehr aus der Herrenhandtasche rausnehmen. Ist das neu? Nein? Und da fällt mir erst auf, wie lange ich nicht mehr geflogen bin. Auf meinem letzten Lufttransport wurde mein Klapprad beschädigt, woraufhin ich schimpfte wie ein Rohrspatz und schwor, nie mehr zu fliegen, sondern lebenslang nur noch Bahn zu fahren. Könnte vor einem Jahr gefallen sein, dieses „Nie wieder“.
Leicht genervte Ansagen über Lautsprecher: „Liebe Fluggäste an Gate 23, bitte denken sie an den Sicherheitsabstand und unterlassen Sie die Gruppenbildung!“
„Priority Boarding“ ist abgeschafft; einstweilen sind gewisse Distinktionen durch Distancing ersetzt.
Am Eingang von LH 2054 wird mir ein kleines Desinfektionstüchlein überreicht, und ich muss an den Wienerwald denken, da gab’s früher zum Backhendl ein Erfrischungstuch mit Citrusduft, für die Schmierhände.
Noch bevor alle Bucket Bags verstaut sind, gibt’s Ärger. Ein Herr sitzt barmündig auf seinem Platz, und die Stewardess bittet ihn, sich zu maskieren. Was er daraufhin murmelt, kann ich nicht verstehen, aber sie legt nach: „Ich habe sie sachlich und höflich darum gebeten!“ - und im Weggehen schiebt sie hinterher: „Traurig, dass ich da überhaupt drum bitten muss!“, und einige der Mitreisenden nuscheln „Jawohl!“ und „Richtig so!“
Trimmtrab vom Flughafen Fuhlsbüttel zum Bahnhof Altona, dann weiter per Zug.
Auf Sylt herrscht schlechtes Wetter. Gut für mich - alle Auftritte sind ausverkauft (hätte ja sein können, dass keiner kommt, aus Angst).
Der Taxifahrer ärgert sich über den starken Verkehr. „Viel mehr Autos als sonst!“ Woran das liege? „In ihren Autos fühlen die Leute sich sicher. Wer fährt heutzutage schon Bahn?“ Naja; ich halt. „Aber die Gäste sind ja immer herzlich willkommen! Der Gast ist König!“ deklamiert der Fahrer ironisch und hupt.
Im Kursaal stehen 70 Stühle, paarweise angeordnet, dazwischen Freiraum, hinten, sehr sinnig, höhere Stühle, im Barhockerformat („Ausverkauft“ führt in diesen Tagen nicht unmittelbar zu größtem Reichtum).
So wie‘s aussieht, war ich der letzte Auftrittskünstler, der sich in Stuttgart verbeugen durfte, und ich bin der erste, der auf Sylt ins Publikum winkt.
Meine Gäste (Könige allesamt!) sind verschmitzt und scheinen den Thrill einer echten, inhäusigen Kulturveranstaltungen zu genießen. Lustig wird’s, als ich unbedarft ins Publikum frage, wer denn persönlich von Corona betroffen sei? Kein Arm geht hoch, dafür großes Hallo.
Memo an mich: Demnächst Thermalwasser und Zollstock mitbringen. Ersteres, weil ich den Tagebucheintrag wiederentdeckt habe, in dem ich von dem Apotheker berichte, der sich mit Gold- und Silber-Kolloiden sowie französischem Thermalwasser aus der Spraydose schützt. Könnte ich, psch-psch, vormachen und mich gleichzeitig erfrischen. Den Zollstock brauche ich, um mich als Corona-Beauftragen auszuweisen, der ich, laut Auskunft eines Mitarbeiters der Gemeinde Wenningstedt, auf der Bühne automatisch sei. Ich könnte mir natürlich auch beim Schlüsseldienst ein Namensschild fürs Revers anfertigen lassen („Coronabeauftragter Boning“) - das verliehe meinem Auftreten noch mehr Gewicht.
Nach 65 Minuten erscheint rotes Blinklicht („Kennen Sie von ihrer App“), dann ist die Vorstellung vorbei. Die zweite Lesung läuft flüssiger, aber im Wesentlichen, weil ich mehr lese und weniger mit den Leuten herumalbere. Zugabe und Autogrammstunde entfallen, auf Anweisung des Coronabeauftragten (völlig neues Lebensgefühl!)
Abends im Hotelbett belohne ich mich für meine gelungene Premiere, indem ich das Desinfektionstüchlein der Lufthansa auspacke und daran herumschnüffle. Riecht allerdings betont neutral. Kein Alkohol, kein Sagrotan, kein Citrus, nichts. Enttäuschend!
25.7.
In aller Frühe trotte und trotze ich durch und dem Nieselregen. Hä? Was ist denn das für‘n krummer Satz? Räusper; ich fang noch mal an.
Gar trübe funzelt das Morgenlicht, als ich strandlängs von Wenningstedt nach Westerland spaziere. Eigentlich will ich joggen, aber meine rote Aktentasche sieht gut aus, ist jedoch nur eingeschränkt marathontauglich.
Ein Radlader schaufelt Sand von A nach B, ich nehme an, es geht um Küstenschutz. Muss an Rolf Kauka denken, den Erfinder von Fix und Foxi, der in seiner Freizeit in Texas in seiner eigenen Kiesgrube rumbaggerte, mit Pfeife im Mund.
Ab Westerland wird mir der Sand zu mühsam, und ich durchwandere die berüchtigten Reetdachhöllen. Logo; ein Reetdachhaus ist was feines, schon von mir als Kind ehrfürchtig bestaunt - aber auf Sylt werden die Dinger hochgezogen wie sozialer Wohnungsbau. Alle sehen sie gleich aus, alle einen Tick zu neu, wie von der Stange. Wer will denn in sowas wohnen? Arme Reiche mit Sehnsucht nach Uniform und Legebatterie. Für den Preis einer Höllenhütte kann man sich anderswo eine komplette Ritterburg kaufen, mit Zugbrücke, Bärenzwinger und Garteneisenbahn - ohne die Gefahr, schon in wenigen Jahren vom blanken Hans zum Frühstück verzehrt zu werden.
Apropos: In Hörnum setze ich mich auf eine Parkbank, esse Backfisch, lese die Zeitung und beobachte die nahezu altertümlich anmutende Gruppenbildung am Fähranleger. Alles ballt sich, will zuerst aufs Schiff. Leute, habt Ihr schon mal was von diesem ominösen Virus gehört? Nein?
Schließlich mogele auch ich mich auf die „Adler Express“, die mich durch raue See nach Amrum kutschiert. Ein Matrose drückt mir eine Spucktüte in die Hand, und einen kurzen Moment lang erwäge ich, diese auch zu verwenden, schon aus Gründen der Theatralik. Dann jedoch fällt mir auf, dass mir gar nicht schlecht ist - unabdingbare Voraussetzung für den Spucktütengebrauch.
Das Gemeindehaus in Norddorf ist eine ehemalige Kirche, deren große Fenster gute Lüftungsmöglichkeiten und somit eine Auftrittsdauer von 80 Minuten erlauben - ganz kapiere ich diese behördlichen Vorgaben allerdings nicht. Ich lese jedenfalls wieder zweimal, vor je 65 Zuhörern, mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Publikumsreaktionen. Eine Passage über absurd petzoides Denunziantentum wird einmal amüsiert, einmal schmallippig zur Kenntnis genommen. Vielleicht Glückssache. Gruppendynamik à la ansteckendes Lachen ist jedenfalls durch die großen Abstände verringert - aber genau das macht bekanntlich den Reiz des Auftrittskünstlerdaseins in diesen Tagen aus: Man ist Pionier, kämpft sich wie Roald Amundsen durch die Eiswüste, bzw versucht das Eis zu schmelzen, was ja auch in der Regel gelingt, und sei es durch den heißen Schweiß des Kämpfers, der alles gibt. Pioniere sind aber auch meine Zuhörer, verwegen und unerschrocken. Danke fürs Kommen!
Zwischen den Auftritten ein Blick auf die Nachrichten: Das RKI veröffentlicht unangenehm hohe Neuinfektionszahlen. In Österreich gilt wieder überall Maskenpflicht. Schluck. Mein Gefühl sagt mir: Da geht was schief.
Haltet ein, Ihr Lieben! Ich will doch auftreten, auch in Euren Kiesgruben, Kirchen und Kaschemmen, also: Kommando Akkordeon. Reißt Euch zusammen, geht auseinander!
(Obwohl, nee, Akkordeon hieße ja: Zusammen, auseinander, zusammen, auseinander...)
26.7.
Nachtfahrt, hurra! Es gibt einen neuen Zug, den Alpen-Sylt-Nachtexpress, und ich harre den ganzen Tag der großen Deutschland-Durchquerung im Schlafanzug. Erstmal muss ich dafür aber nach Westerland kommen und ein paar banale Probleme lösen: Akkuladegerät in der Garderobe vergessen, Rasierer im Hotel. Wie oft habe ich schon diese Utensilien liegen lassen? Ich sollte sie mir am Körper anbinden, so wie man Kindern die Fäustlinge am Anorak befestigt. Ein Nassrasierer, der als Amulett im Dekolleté baumelt, wäre gewiss auch sehr kleidsam.
Der junge Mann von der Amrum-Touristik, der mich nach Wittdün shuttelt, hat mitgedacht und das Ladegerät geborgen - 1000 neue graue Haare völlig umsonst.
Dann erzählt er, dass das Kurhaus in Nebel abgerissen werden soll. Ob wir uns vorstellen könnten, dort „Nicht nachmachen“ aufzuführen, sozusagen live, vor Publikum? Auf einen Schlag sind die Haare wieder dunkel, ich bin quietschvergnügt und verspreche, Bernhard Hoëcker zu konsultieren. Ich fänd‘s töfte: Magic hour, ein bisschen Impro de luxe, wumms, alle jubeln, Feierabend.
Habe sowas mal erlebt, und zwar Silvester in Las Vegas, ca 1996/97, da wurde ein Hotelhochhaus pyroartistisch ambitioniert in die Luft gejagt, vor über 100.000 Zuschauern. Und zum Jahreswechsel gab’s den finalen Big Bang (wobei der Jahreswechsel lustigerweise um 21 Uhr stattfand, damit‘s live im Fernsehen an der Ostküste übertragen werden konnte, wo in USA der Fernsehwerbemarkt am lukrativsten ist).
Per Fähre zurück nach Hörnum, dann barfuß am Strand bis nach Westerland, satt-sandige 20 km. Zeitungslektüre im Strandkorb. Die „Sylter Nachrichten“ erzählen ganzseitig die Story einer Witwe aus NRW, Syltstammgast seit 25 Jahren, die in einem Esslokal schlecht bedient wurde, offenbar, weil sie alleine zum Essen erschien. Der Wirt, der einen Corona-Verlust in Höhe von 50.000€ beklagt, müsse das Geld jetzt wieder reinholen, und da seien Alleinesser unwillkommene Gäste. Nachdem die Witwe ihr Schicksal der Zeitung anvertraute, erhielt sie Hausverbot, und der Wirt wurde ausfällig.
Aber wieso eigentlich „Witwe“? Mehrfach weist die Zeitung auf diesen Beziehungsstatus hin. Vielleicht, um beim Leser Sympathie für die arme Dame zu provozieren, denn als hungrige Witwe bleibt ihr ja gar nichts anderes übrig, als Gastronomen in Geldnot in die Suppe zu spucken. Wäre sie lebenslustiger Single, je oller je doller, dann würde man ihr Verhalten womöglich rügen: Sollen sie doch Essgemeinschaften gründen, all diese egoistischen Einzelgänger; die Singles haben wahrscheinlich auch Sarah Wieners Unternehmen auf dem Gewissen. ...
20 Uhr Abfahrt. Jahreshöhepunktatmosphäre. Als Bahnchef in spe sage ich mal: Night Jet - Liegewagenabteile, behutsam modernisiert (Steckdose). WC und Dusche auf dem Gang. Ein Abteil für mich, Mundschutz überflüssig. Ich bin aufgeregt wie eines dieser Kinder, die immer ihre Fäustlinge verlören, wenn sie nicht festgebunden wären. Der nette Schaffner erklärt mir die technischen Features (man kann das Fenster öffnen, wie im TEE), und dann lege ich mich längs und betrachte, wie ein verregnetes Schleswig-Holstein an mir vorüber fliegt, grau-grün, meerumschlungen, deutscher Sitte hohe Wacht, wahre treu, was schwer errungen, bis ein schön’rer Morgen tagt.
Sieben Uhr! Huch, verschlafen! Und dass ich überhaupt wach bin, liegt eh nur daran, dass irgendwer eine rauchen wollte und die Brandmeldeanlage losgegangen ist. Es bestätigt sich erneut: Echten Qualitätsschlaf finde ich ausschließlich auf der Schiene.
Blick aus dem Fenster: Na ja, so viel schöner als gestern tagt der Morgen auch nicht. Wo simmer denn hier? Veitshöchheim, kurz vor Würzburg. Ich leg‘ mich wieder hin.
P.S.: 9:30 Uhr. Wir nähern uns dem Ziel. Ich wage schon mal ein Fazit: Schön, dass es diesen neuen Nachtzug gibt, und ich hoffe auf viele weitere. Sechs Gründe sprechen für Schlafwagen (mindestens): 1. Ich schlafe darin bestens 2. CO2-freundlicher, dabei gegebenenfalls günstiger als Fliegen 3. Besonderer Erlebniswert 4. Man muss sowieso schlafen - da kann man die Zeit auch zum Reisen nutzen (und umgekehrt) 5. Man reist coronasicher 6. Es lässt sich viel Gepäck mitnehmen (auch Fahrräder, Surfboard, Hund).
27.7.
Baden-Württemberg will nach den Sommerferien die „Schulbesuchspflicht“ aufheben.
Eltern, die aus Angst vor Ansteckung nicht möchten, dass ihre Kinder am Präsenzunterricht teilnehmen, müssen dies lediglich formlos melden. Eine Attestpflicht gelte nicht. Damit endet eine lange Epoche: Bereits 1559 wurde in der württembergischen Kirchenordnung eine Schulpflicht für Jungen eingeführt, 1649 folgte die allgemeine. Markgraf Karl-Friedrich von Baden erließ 1753 eine Generalverordnung, nach der alle Kinder vom 6. bis zum 13. Lebensjahr die Schule besuchen sollten, und Eltern, die ihren Kindern die Schule verweigerten, wurden bestraft.
Schluss damit, ab sofort können’s alle Eltern halten wie die Dachdecker - womit ich weder gesagt haben möchte, dass das Dachdecken für baden-württembergische Kinder nunmehr die Zukunftsperspektive Nummer eins ist, noch, dass es sich beim Dachdecken um eine in irgendeiner Weise anspruchslose Tätigkeit handelt - im Gegenteil!
Womöglich denkt Kultusministerin Eisenmann (CDU) an all die phantastischen Möglichkeiten, die mit den „neuen Medien“ verbunden sind, z.B. Tutorials bei YouTube, spielerische Wissensvermittlung via Snapchat, freudvolle Lerntaktik mit TikTok, e-bitur powered by doodle jump.
Außerdem werden in der Automobilindustrie kurz- bis mittelfristig einige zigtausend Arbeitsplätze überflüssig, und die Betroffenen werden dankbar sein, wenn sie ihren Tatendurst zukünftig mit dem Versuch der Wissensvermittlung an ihre Kindern stillen dürfen.
Wenn ich das sperrige Wort „Schulbesuchspflicht“ richtig deute, besteht weiterhin eine Unterrichtspflicht - die Eltern dürfen nicht nur, sondern sie müssen sogar für die geistige Reifung ihrer Sprösslinge Sorge tragen.
Ich bin hin- und hergerissen zwischen Respekt vor dem Mut von Frau Eisenmann (CDU), nach 461 Jahren (in Württemberg) diese radikale Kulturrevolution in Gang zu setzen und andererseits jener Blümeranz, die mich ergreift, wenn ich mir vor Augen führe, dass diese Entscheidung Ausdruck vollkommener Hilflosigkeit ist: Offenbar ist es nicht gelungen, einen Rückweg in den Schulalltag zu finden, der auch für die besorgten Eltern und Lehrer akzeptabel ist.
Relativ sicher erscheint mir allerdings, dass die Interessen der Schüler bei der Abwägung nicht den Ausschlag gegeben haben, sondern die Ängste besorgter Eltern und Lehrer. Relativ deshalb, weil es eine offene, gründliche Diskussion zu diesem Thema unter Mitwirkung aller Beteiligter gar nicht gab - wie also sollte man die Hintergründe der Stuttgarter Kulturrevolution mit absoluter Sicherheit deuten können?
Bleibt also lediglich, den nunmehr daheim um Wissen ringenden Kindern alles Gute zu wünschen. Ja, es gibt Vorteile: Gefährliche Schulwege, Mobbing, Sanktionen wegen Verspätung und ungebührlichen Verhaltens entfallen ebenso wie der leidige Zwang, in der Schule aufs Handy zu verzichten. Auch entfällt das lästige Weckerklingeln am Morgen, ab sofort bleibt man einfach liegen und wartet auf eine Tagesform, die dem Lernen förderlich ist.
Die Schlauen, von Wissensdrang Beseelten, die begeisterten Autodidakten mit intrinsischer Motivation werden ihren Weg gehen, auch jene, in deren Eltern pädagogische Talente schlummern, die nunmehr zur Entfaltung kommen dürfen, müssen, oder die sich im Falle diesbezüglicher Talentarmut zu privaten Fördergemeinschaften zusammenschließen.
Ich möchte nicht unken; womöglich entsteht unter dem coronäischen Druck ein völlig neues Bildungsideal, das auf Kreativität, Lernfreude und Freiwilligkeit beruht, vielleicht werden wir, pünktlich zur flächendeckenden Automatisierung der Arbeitswelt und dem Einsatz von K.I., zu einem Volk der Dichter, Denker und erfolgreichen Wissensvermittler, das keiner „Schulbesuchspflicht“ bedarf und alle mitnimmt ins Glück.
Vielleicht.
Allein: Mir fehlt der Glaube.
28.7.
Die derzeit unbeliebtesten Deutschen sind: die Urlauber. Rücksichtslos stülpen sie Bikinis übern Corona-Speck, aalen sich an fremden Meeren, als gäbe es keine Planschbecken, die man auf dem heimischen Balkon befüllen könnte.
Manch einer lässt nicht nur die Seele, sondern auch den Mundschutz baumeln und haucht am Teutonengrill sein Aerosole mio.
Der Urlauber, so schließe ich aus tausend-und-einem Post auf den Palaver-Plattformen, hat keine Gnade zu erwarten. Er ist das Gegenteil der ehrbaren Krankenschwester, ein trunkener Tunichtgut, der Tod und Verderben aus der verseuchten Fremde ins mühsam gewienerte Nest importiert.
Deutschland ist - in der Selbstsicht vieler Deutscher - im Grunde seines Herzens antiseptisch. Darum halten sie es für unmöglich, dass wir die verhassten Viren ins Ausland exportieren. Nein, das Böse kommt immer von jenseits der Grenzen. Horch, was kommt von draußen rein - das schmetterte schon Wilhelm II, und sein Rezept gegen alle Malle-Maladien lautete: „Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war“.
Also, liebe Urlauber, Rache ist Blutbild. Mit „Test, Test, one, two“ geht es nun los, dann folgt die überwachte Quarantäne, und solltet Ihr die zweite Welle im Reisekoffer haben, wird’s Zeit für die spanische Inquisition. Gestehe, Du warst auf Piratenfahrt!
Als minderschwer gelten höchstens Vergehen, die an heimischen Kiesgruben begangen wurden; angrenzende Länder des EU-Binnenmarkt sind bereits tabu, Horte des Hustens, und wer ein Risikogebietsgebiet besucht, sollte am besten gleich dort bleiben. Und wenn er doch zurückkehrt, muss er seinen Zwangstest gefälligst selber bezahlen - das fordert auch die FDP.
So virtuos seine antitouristischen Tiraden, so karg die Antworten des Coronaisseurs auf die Frage, wovon die Volkswirtschaften am Mittelmeer denn leben sollen, wenn keiner mehr kommt. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, ruft er den Hoteliers an der Adria zu - was die Leute außerhalb Deutschlands treiben, geht mich doch gar nichts an. Hauptsache gesund. Selten wird auch zwischen verschiedenen Ferienformen unterschieden: ob per Flugzeug, Bahn, Auto, Schiff, Fahrrad, gesellig oder einsam, laut oder leise - alles, pauschal: Urlaub.
Schützen Abstandsregeln, Maske und Händewaschen nicht überall? Und wenn ich gar niemandem begegne - bin ich dann nicht 100% sicher, egal ob auf den Shetlandinseln oder im Gewerbegebiet Hürth-Kalscheuren?
Ich, verehrte Inquisitoren, kaufte gestern groß ein, denn auch ich verabschiede mich ins Ausland, nämlich nach Österreich. Der Zweck meines Aufenthaltes ist jedoch nicht in erster Linie Urlaub, sondern: Quarantäne.
Auf der einsamen Berghütte begebe ich mich mit Familie in diese, da eine Fernsehproduktion bevorsteht, für deren Gelingen ein negatives Testergebnis unerlässlich ist. Amerikanischer Auftraggeber. Jetzt schnell zu Ende schreiben, anschließend den Koffer ins Auto hieven (NICHT AUF DEM GEHSTEIG VERGESSEN), und dann klingelt’s an der Tür und der Betriebsarzt erscheint, um mir den berühmten Wattestab ins Nasenloch zu rammen (so habe ich’s jedenfalls im Fernsehen gesehen)...
Sollte ich infiziert sein, so erfährt es dieses Tagebuch als erstes.
29.7.
Morgens, halb zehn in Deutschland: Es klingelt an der Tür, und die sympathische Betriebsärztin tritt ein.
Nach kurzem Smalltalk kommt sie zur Sache: „Ich brauche Licht“, und so schlage ich die Terrasse als Behandlungsort vor. Dort öffnet sie ihren Handkoffer und holt allerlei Utensilien heraus, während ich Geburtsdatum und Telefonnummer in ein vorbereitetes Formular eintrage. Nachdem die Ärztin in ihre Gummihandschuhe geschlüpft ist, fragt sie, ob ich zu Brechreiz neige? „Schwer zu sagen, da gibt’s bestimmt eine gewisse Bandbreite, aber ich weiß nicht, wo ich mich einsortieren würde. Vielleicht in der Mitte?“ Sie bereitet mich darauf vor, dass der Rachenabstrich zum Würgen führen kann, aber meine vorfreudige Neugier schlägt das Unbehagen um Längen. Schon richtet sie ein langes Wattestäbchen auf meinen Hals. Ich sage „Ahh“, wie mir befohlen, und dann rudert die Medizinerin im hinteren Rachenraum herum. Kurzes Würgen, Pause, Weiter. Anschließend ist das Oberstübchen dran. Nicht lang schnacken, Kopp in’n Nacken, der Wattestab gelangt in eine Gegend, die ich beim Popeln bisher erfolglos angesteuert habe, und meine Augen tränen, ohne dass ich niesen muss (Tränen + Hatschi: die typische Kombi, wenn ich mir ein Nasenhaar ausreiße). Das andere Loch darf auch, und dann stutzt sie das Wattestäbchen per Knickknack auf halbe Größe, so dass es in ein durchsichtiges Plaste-Futteral passt. Deckel drauf, fertig.
Ob ich denn glaube, dass ich’s habe? Oder hatte? Ich verneine. Letzter grippaler Infekt im Januar letzten Jahres, seither null Symptome. Aber was hat das schon zu bedeuten? „Ok, wir sehen uns nächste Woche zum zweiten Test. Auf Wiedersehen!“
Als die Ärztin gegangen ist, werfe ich einen Blick aufs Handy. In der Zwischenzeit sind zwei persönliche Mitteilungen eingegangen, die mich beide vor dem Test warnen, einer sogar in dramatischem Tonfall. Die Absender sind mir persönlich unbekannt. Der eine behauptet, die Untersuchung sei gefährlich, weil der Wattestab die „Nasen-Gehirn-Schranke“ touchieren würde, einen „hochsensiblen“ Bereich. Den Rest könne ich mir ja denken. Hm. Was genau kann ich mir denken? Dass der Wattestab durchbrechen und im Gehirn stecken bleiben könnte? Ich fühle mich gebauchpinselt, dass der Absender meint, ich verfüge über Hirn, bedanke mich jedoch nicht.
Noch bemerkenswerter finde ich die zweite Warnung: Der Test verfolge zwei Ziele: Zum einen werde mir so erst das Virus auf die Schleimhaut aufgetragen, er mache mich also krank. Zum zweiten werde ein sehr, sehr kleiner Chip ins Gehirn implantiert, der mich „zum Roboter“ werden lasse. Ich bin baff, denn das Implantieren eines Chips hatte ich mir feinmotorisch deutlich anspruchsvoller vorgestellt. Die Betriebsärztin muss über reichlich Übung und extreme Zielgenauigkeit verfügen, zumal ich nicht einmal leichtes Nasenbluten hatte. Chapeau!
Kurzer Check: Ja, ich fühle mich ein bisschen steif, gerade in den Kniekehlen, wenn ich versuche, mit vornübergebeugten Armen den Boden zu berühren. Diese Roboterhaftigkeit begleitet mich aber schon deutlich länger.
Dem zweiten Warner schicke ich denn auch eine Antwort: „Zu spät, wurde bereits getestet“, was als Reaktion ein lang gezogenes „Oh neiiiin“ mit unzähligen Ausrufezeichen provoziert.
Mein Fazit: Testen ist kurzweilig und mitnichten unerträglich. Ich empfand es eher als Bereicherung meines Erfahrungshorizonts, dass in mir bisher unbekannte Hohlräume meines Körpers vorgestoßen wurde.
Vielleicht lassen sich noch bequemere Methoden zum Selbsttesten entwickeln? Mein Vorschlag: Mundwasser, mit dem man morgens nach dem Zähneputzen spült, und das sich bei Kontakt mit Corona umfärbt, etwa von lila auf grün. Man spuckt aus und weiß Bescheid.
Ist sowas nicht machbar?
30.7.
Was tun die Bonings in Quarantäne?
Als allererstes ziehen wir uns um.
Bereits vor einigen Wochen besuchten wir den Werksverkauf einer Kaffeerösterei, und für kleines Geld konnten wir Kaffeesäcke erwerben, aus grober Jute, made in India.
Ich erinnere mich, dass eines der eindrucksvollsten Fernsehwerke, die ich als Kind sah, die klassische Verfilmung der „Pippi Langstrumpf“-Geschichten war. Und in einer Episode trugen Pippi, Tommy und Annika Kaffeesäcke als Tagesmode.
Hiervon inspiriert, schneide ich Kopf- und Armlöcher ins braune Textil und kleide uns neu ein. Meine Frau sieht hinreißend aus! Moda povera. Unser Schick ist komplett zeitlos; so ähnlich könnten auch schon Quarantänisten im 16. Jahrhundert herumgetollt sein, im Grunde, solange wie es Säcke gibt - und Säcke, sage ich mal aus der Lameng, begleiten den Menschen, seit er spinnt und webt. Uns umweht die Aura der Bescheidenheit, gleichzeitig hat der Look etwas sektenhaftes.
In unserem kleinen Hüttenhaushalt gibt es viel zu tun: Beide Öfen müssen gereinigt werden, wobei ich gerne gestehe, dass die Reinigung keineswegs dringend ist, ich aber gerne in Sack und Asche gehen möchte und mir besser nicht zu helfen weiß als durch den Transport der Verbrennungsrückstände zum Komposthaufen.
Ein monumentales Unterfangen ist das Entfernen hochwachsender Wildkräuter aus den Fugen der Terrassenplatten, bei dem ich tatkräftige Unterstützung von meinem Sohn erhalte. Im Gegenzug erläutere ich ihm die Bebilderung des „Larousse Junior“, eines französischen Jugendlexikons. Besonders lange und wiederkehrend beschäftigen wir uns mit Flugzeug, Helikopter, Haselmaus und Raubkatze. Theodor möchte, dass ich ihm auch einen Dachs zeige, aber das Buch ist in französischer Sprache, und mir fällt das französische Wort für Dachs nicht ein.
Apropos; zwischendurch wird eifrig gekocht. Es gibt Thunfischnudeln nach Art meiner Mutter: Schalotten halbieren & anbraten, mit Weißwein ablöschen, Sauce Hollandaise, Kapern und Thunfisch dazu. Passt besonders gut zu den etwas aus der Mode gekommenen Jugendherbergsnudeln (die jungen Leute meines Alters wissen, was ich meine).
Beim Schälen der Schalotten singe ich zur Pandemie passende Shanties, etwa den „Hamburger Veermaster“, in dessen zweiter Strophe es heißt : „Das Soltfleesch weer grön un de Speck weer vull Moden, to my hooday...“
Weit schweift mein Blick über das Nebelmeer, bis hinüber nach Madagaskar (wenn ich jedenfalls dem Text eines anderen passenden Marineliedes trauen darf).
Ja, unserer Quarantäne wohnt ein besonderer Zauber inne, und wir würden erwägen, unsere Säcke auch weiterhin zu tragen, selbst dann, wenn eines Tages ein Impfstoff unserer Epoche ihren Zauber raubt - wenn, ja wenn der Stoff nicht so kratzen und nach sehr alten Socken stinken würde. Und darum ziehen wir nach ein paar Stunden die Säcke aus und laufen nackt über die Alm, und dabei wird es in den nächsten Tagen auch bleiben.
Hier kommt eh niemand vorbei - ideales Terrain für FKQ - also für Freikörper-Quarantäne.
31.7.
Ich meinte, die Gefahr sei vorüber, fühlte mich sicher, schlug schon vor, alle Sicherheitsmaßnahmen rückgängig zu machen, zB die flatternden Schnüre vorm Eingang einzumotten.
Leichtsinnig öffnete ich das Küchenfenster, um den Pfannendunst abziehen zu lassen, und mit der Frischluft kamen viele, zu viele Fliegen. Gestern bereits 600, heute nochmal ungefähr 900, die partout keine Abstandsregeln einhalten - ein Superspreading Event. Nein, obwohl der Almbetrieb eingestellt ist, muss ich einsehen: Es ist noch nicht vorbei, ich bin mittendrin in der Pandemie (Pardon, ist im Affekt formuliert; die monatelange Beschäftigung mit dem Vokabular der Virologen infiziert auch andere Gebiete).
Leider gibt es kein zuverlässig wirksames Mittel gegen Puck&Co; nur vereinzelt lassen sich Tiere auf den in allen Zimmern hängenden Klebefallen nieder, chemische Hammermittel habe ich eh nicht auf Lager - bleibt also nur die Fliegenklatsche.
Teresa und die Kinder verlassen den brummenden Hotspot am Vormittag Richtung München, und zurück bleibt ein Fliegenlandeplatz im 54. Lebensjahr, dem bald nicht anderes übrig bleibt, als auf den Berg zu flüchten. Gegen die Sonne trage ich einen Strohhut, untenrum Socken und leichte Wanderschuhe, ansonsten bin ich nackt wie Gott mich schuf. Knapp zwei Dutzend Mal war ich schon oben am Gipfelkreuz, und nie bin ich einem anderen Menschen begegnet, woraufhin ich sittsame Kleidung für verzichtbar halte. Unten im Tal sei es unangenehm heiß, berichtet meine Frau fernmündlich, hier oben ist alles wie in Arkadien höchstpersönlich.
Der Gang ist auch ein Test, denn zum Jubiläum der 25. Ersteigung liebäugele ich damit, vollends unbekleidet raufzugehen - also auch ohne Hut und Schuhe, just so wie der erste Mensch.
Spannend ist die alpine Flitzerei nur ganz am Anfang, dann vergesse ich den Umstand, bin unbedarft unbedeckt. Weit lasse ich am Gipfel den Blick schweifen, bis zum Olperer und zur Cima Vista, nach Italien.
Unter mir sehe ich zu meinem Erstaunen ein Auto (Kompaktklasse, Geschmackstyp Opel Corsa), das zur Nachbaralm hinauffährt. Nanu, wer kann das sein?
Auf dem Rückweg komme ich an einem Bergsee vorbei, dunkle Gesteinsbrocken im Schmelzwasser. Kurzentschlossen springe ich hinein, plansche und plausche mit den sehr großen Kaulquappen, die mich begleiten. Könnten junge Alpensalamander sein, oder Bergmolche. Ich gerate schnell in einen ausgewachsenen Rauschzustand; die durchdringend warme Sonne, das satte Grün der alpinen Matten und das weiche, gar nicht eisige Wasser lassen mich meinen, ich würde träumen; wassergymnastisch strecke ich meinen Leib, sinke singend in die Tiefe, gönne mir während des Tauchgangs große Schlucke, und es schmeckt herrlich.
Zweimal durchquere ich diese paradiesische Badeanstalt, dann bemerke ich, dass ich Zuschauer habe: Zwei betagte Paare in altertümlicher Freizeitkleidung schauen mir zu. Ah! Das sind die Leute mit dem Opel Corsa. Sie sind zweihundert Meter weit weg, aber der Wind trägt Wortfetzen heran, und ich sehe, wie die Herren Feldstecher auf mich anlegen. Senioren-Spanner, juhu! Schüchtern winke ich herüber, und die betagten Ausflügler winken zurück.
Wie im Pirelli-Kalender komme ich mir vor, als ich dem Bad entsteige, meine Endstücke in Hut und Schuhe zwänge und mich zügig auf den Rückweg zur Hütte begebe - nicht ohne mich noch einmal umzudrehen, das Gemächt unter der hohlen Hand versteckt.
Den Rest des Tages bleibe ich in der Hängematte. Eigentlich will ich lesen, aber immer wieder erhaschen mich die Erinnerungsbilder wie euphorisierende Flashbacks.
Wohlan, Poseidon, Bruder des Zeus! Auf dass ich heute wieder meinen Po bei Dir eintauchen darf. Mal sehen, wieviele Zuschauer ich heute habe.
1.8.
So‘ne Quarantäne gebiert zuverlässig neue Ideen. Im Zentrum des Tages steht das gestern vollmundig angekündigte Vorhaben, den Berg hinterm Haus ganz und gar hüllenlos zu erwandern, auch ohne Hut und Schuhe.
In der Morgendämmerung ist es mir jedoch zu kalt, und so absolviere ich meinen Frühsport in herkömmlicher Kunstfasertracht. Nach anschließender Telefonkonferenz, Mittagessen und Nickerchen unternehme ich einen weiteren Anlauf, nur mit Badelatschen an dem Füßen und dem Handy in der Hand.
Von vergangenen Sommern weiß ich, dass die Schmerztoleranz der Fußsohlen durch tägliche Übung gut trainiert werden kann, aber bis die Lederhaut auch nur einigermaßen verstärkt ist, vergehen Monate. So ziehe ich die Schlappen erst aus, als ich die geschotterte Forststrasse hinter mir lasse und über die alten Jägerpfade gehe, durch Alpenrosen, über Moose, Baumwurzeln und Felsschutt. Das piekst bisweilen, aber ich zwinge mich zum Lächeln.
Ausreichend eingecremt bin ich, Lichtschutzfaktor 50, das ist für ehemalige Shetlandponies wie mich überlebenswichtig - die Sonne brennt meisterlich, man spürt ihre langjährige Berufserfahrung, und jedes Wölkchen, das sich vor den geübten Glutball schiebt, würde ich mit gelüpftem Hut begrüßen - wenn ich denn einen dabei hätte.
Nach der gestrigen Seniorenspannerei bin ich ganz sicher, heute keiner Menschenseele zu begegnen. Und erwartungsgemäß erreiche ich den zauberhaften Bergsee ohne Humankontakt, wie es sich für den Quarantänisten gehört. Freudentrunken tunke ich mich in das klare Nass und genieße die Stille. Nur ein paar Vögel piepen, eine Grille zirpt und...und...ja, was ist denn das? Ein merkwürdiges Geräusch, seltsam fremd, es klingt nach Wind, aber auch nach einer Maschine, jedenfalls nach Menschenhand, und der ungewohnte Sound pirscht sich an. Er kommt von oben; ich gehe in die Toter-Mann-Position, um den Himmel abzusuchen und bekomme einen Schreck: Kaum dreißig Meter über mir gleitet ein Segelflieger ins Blickfeld, im ersten Moment denke ich: Der stürzt doch ab! Ganz verdattert bin ich, und dann nutzt der Flieger majestätisch die Thermik, schraubt sich nach oben, und ich mache meinen Mund wieder zu. Kaum zu fassen: 23 x geht man bekleidet aufi aufn Berg und hat seine Ruhe, und kaum macht man sich nackig, kommen Senioren mit Ferngläsern und wollen einem was weggucken. Und dann: Aufklärungsflug!
Ich frage mich, was wohl heute passieren wird. Ein U-Boot, das vor meiner Nase auftaucht?
Und was sich geändert hat, dass man mir neuerdings in dieser unzugänglichen Gegend nachstellt, frage ich mich auch. Klar, ich bin seit meinem Corona-Test gechipt. Das sagen jedenfalls diese, ähem, Fachleute im Internet. Ich brauche fortan kein Smartfon mehr, um getract zu werden - das erledigt ein Multifunktionsmodul knapp hinter der „Gehirn-Nasen-Schranke“.
Auf dem Rückweg zur Hütte reift die Idee einer Alpenüberquerung als Nackidei.
Zahlreiche Detailfragen gilt es zu beantworten: Wie verpflegt man sich, wenn man keine Tasche für Riegel hat? Eine Banane hätte ich zur Not am Mann, aber das reicht ja nicht. Also mit Begleitung laufen? Auf jeden Fall Naked Lunch. Was tun bei Regen und Schnee? Abhärten. Ist machbar, trotzdem bräuchte man beste Bedingungen. Übernachtungen im Zelt, oder sind Pensionen geeigneter?
Kurz bleibe ich stehen wg. Telefon, und zack! beißen mich sehr große Waldameisen in die Füße. Fluchend schlüpfe ich in meine Badelatschen und hetze hurtig heim, aber die „Nackte Transalp“ (Arbeitstitel) lässt mich nicht los.
Nun gut; vielleicht ist diese Idee eher poetischer Natur, womöglich sogar po-ethischer, aber auch in der „Neuen Normalität“ gilt: Geht nicht gibt’s nicht. Außerdem ist das Vorhaben absolut coronatauglich und vor dem Hintergrund der „Maßnahmen“ immer noch realistischer als zB eine Gastspielreise mit launigem Vortrag.
Nein, diese Idee will gründlich gewürdigt werden.
2.8.
20.000 (?) demonstrieren in Berlin. Ja, dieser Sommer wäre schöner ohne Corona, aber das Leben ist bekanntlich kein Gelkissen-Fersenpolster, und Viren lassen sich nicht wegdemonstrieren.
Wenn wir doch Mittel der Vorbeugung haben, sollten wir diese auch nutzen: AHA (nicht HAHA), also Abstand, Hund-Hasen-Schutz, wie mein Vater zu sagen pflegt, und, äh, das dritte vergesse ich immer, was war’s doch gleich? A wie „Augengriff vermeiden“? „Alle halbe Stunde Hände waschen“? AHA halt, Ihr wisst schon.
Ich verstehe durchaus den Unmut der Demonstranten, dass die Polizei neulich bei den Anti-Rassismus-Demos über Verstöße gegen die Abstandsregeln großzügiger hinweg sah als gestern in Berlin, aber so richtig echauffieren mag ich mich darüber auch nicht mehr, nachdem ich von einem Ghanaer in meinem Bekanntenkreis weiß, wie sehr ihn die von den großen „Black Lives matter“-Demos ausgehende Botschaft rührte.
Wenn ich mir allerdings die Menschenmassen an Deutschlands Seeufern vor Augen führe, verliert so‘ne Demo ihren Status als Grusel-Solitär. Angesteckt wird derzeit sowieso immer und überall (behauptet jedenfalls das RKI) - außer in meiner betriebsmedizinisch angeordneten Quarantäne.
Morgens um 10 erhalte ich eine Wattestab, nein, sorry, interessanter Auto-Korrekturfehler, eine WhatsApp von meinem Management.
Nanu, am Samstagmorgen? Was gibt’s denn so wichtiges? „Testergebnis negativ!“
Ach so, stimmt, ich wurde untersucht; fast vergessen. Eine echte Überraschung ist das Testergebnis nicht - ich fühle mich pumperlgesund und könnte Bäume ausreißen. Aber hier oben gibt es keine, dafür blühen die Wiesenmargeriten.
Was gibt’s neues in Sachen Nackidei-Transalp? Zunächst möchte ich die „Warum“-Frage behandeln. Vorab: Der Mensch wird nackt geboren, und die ersten zigtausend Jahre unserer Geschichte verbrachten unsere Urahnen ebenfalls nackt. Offenbar ist Nacktheit ein Ur-Zustand, der vergleichsweise einfach zu studieren ist, und zwar: indem man sich auszieht.
Dann denke ich an Diogenes von Sinope, den Typen mit Tonne, der, als er Kinder sah, die mit ihren Händen als Trinkgefäß aus einem Brunnen tranken, sogleich seine Tasse entsorgte. Und ich meine, dass er bei dieser Gelegenheit seinen berühmten Satz „Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf“ gesagt hat.
Drittens reizt mich die ebenso einfache wie komplexe Aufgabe. Ist so ähnlich wie die Zubereitung eines extrem raffinierten Essens mit nur ganz wenigen Zutaten.
Weiterhin brächte ich einige Grundvoraussetzungen mit: Ausdauer, Robustheit, Kältetoleranz, und schließlich fehlt mir weitgehend das, was in unserem Kulturkreis gemeinhin mit „Scham“ verbunden wird.
Ist natürlich auch ein Tipp für jene, die der Masken und sonstigen Maßnahmen überdrüssig sind: Man kann die Viren nicht wegdemonstrieren, aber man kann ihnen davonlaufen. Hü!
Ein praktisches Problem habe ich inzwischen lösen können: Mein Freund Hannes kommt aus einer Schornsteinfeger-Familie, und er erzählte unlängst, dass sein Papa von allen Bauern, deren Kamine er putzte, je ein Ei spendiert bekam, und diese Fracht wurde in ein Tuch gewickelt und im Zylinder transportiert. Auch ich habe meinen Zylinder schon als Kofferraum genutzt, und da ich eh sehr sonnenstichanfällig bin, könnte ich von der Sondergenehmigung, einen Zylinder zu tragen, doppelt profitieren.
Sondergenehmigung hiermit erteilt.
3.8.
Quartierswechsel per Birdy. Ich packe die übrig gebliebenen Karotten als Wegzehrung ein und faltradle runter ins Zillertal und über den Inn. Von Jenbach rauf zum pfefferminzfarbenen Achensee - uff, so steil hatte ich das gar nicht in Erinnerung. Vielleicht haben sich auch Rucksack und Coronaspeck abgesprochen und ziehen mich genau dann runter, wenn ich’s am wenigsten gebrauchen kann.
Am Achensee Wetterwechsel, aus ödem Business-Grau wird Drama, Baby, mit steifer Brise und peitschendem Regen.
Während ich mich Richtung Deutschland kämpfe, denke ich über den Vorwurf nach, als Mitarbeiter bei „Mainstream-Medien“ sei es für mich schlechterdings unmöglich, eine andere Meinung zu Corona zu pflegen als die Regierungslinie, denn ich sei ja wirtschaftlich abhängig. Hm. Ich persönlich komme mir durchaus unabhängig vor, aber vielleicht erkenne ich meine Verstrickung selber gar nicht, vielleicht gibt es eine unbewusste, vorauseilende Selbstzensur? Womöglich bin ich ja inzwischen auch gechipt und erkenne daher nicht die vollkommene Grandezza des Verweigerns einer Maske.
Unter uns: Ich persönlich hege ja gewisse Zweifel an der Machbarkeit der Verchippung, bin aber technisch nicht auf dem neuesten Stand, kenne mich mit Chipsletten besser aus. Ein Indiz für meine Chiplosigkeit dürfte sein, dass ich gewisse Thesen der Berliner Demonstranten teile, zB dass viele Menschen Angst vor Corona haben, Angst jedoch auch ungesund sein kann. Aber dies ändert ja nichts an der potentiellen Tödlichkeit des Corona-Virus; auch völlig unbesorgte Menschen wie Boris Johnson erkranken daran.
Was sollen Mainstream-Medien eigentlich genau sein? Bei „Genial Daneben“ sitze ich mit Hella von Sinnen am Tisch, und lasst Euch eins sagen: Man kann Hella viel vorwerfen, oh ja, aber nicht, dass sie im Mainstream schwömme.
Und als ich am Sylvensteinspeicher entlang gondele, fällt mir auf, dass der Vorwurf, Büttel der Systemmedien zu sein, ähnlich wenig Überzeugungskraft entfaltet wie der Schmähruf „Covidiot“. Es ist schlechterdings unmöglich, jemanden ins Boot zu holen, den man einen „Covidioten“ schimpft, und umgekehrt werden die Maßnahmen-Kritiker niemanden auf ihre Seite ziehen, den sie „Schlafschaf“ oder „Systemnutte“ nennen.
Überzeugen, geduldig und konziliant - das steht in unserer Debattenkultur nicht hoch im Kurs. Lieber kloppt man mit dem Dreschflegel drauf und beklagt anschließend, dass der Graben immer größer wird.
Ab Bad Tölz wird der Regen üppig wie das Dekolleté der Lollobrigida, ich bin nass bis auf die Unterhose, die zuckrigen oberen Hautschichten lösen sich auf, auch das Fleisch darunter wird abgespült; ich werfe seifige Blasen, ziehe eine Schaumschleppe hinter mir her, und als ich die A95 unterquere, fällt mir auf, dass der Regen mein linkes Bein fast komplett aufgelöst hat! Mit dem verbliebenen rechten setze ich zu einem gewaltigen Endspurt an, um überhaupt physisch in jenem Hotel einchecken zu können, das mir die Produktionsfirma vorschlug. Und mit letzter Kraft humpele ich ins Hotelfoyer, auch mein linker Arm hat dran glauben müssen, und es ist fürwahr knifflig, mit nur einem Restarm einen Mundschutz anzulegen, während man auf den rasch dünner werdenden Resten eines ehemals stolzen Radlerbeines balanciert.
Und als ich, zum formlosen Torso geschmolzen, mühsam mein Zimmer aufschließe, mit Blick auf den Starnberger See, und mich nach 123 km und 1500 Höhenmeter Regenfahrt vorsichtig ausziehe, abtrockne und aufs Bett werfe, habe ich den Vorwurf, als Knecht der System-Medien zu keiner eigenen Meinung fähig zu sein, vergessen & abgehakt.
4.8.
Fernsehproduktion. Auf den Gängen sind Maske UND Faceshield bzw Chemiker-Brille Pflicht. Wenn man vor der Kamera agiert und bereits geschminkt ist, trägt man bis zur Studioschwelle ein Visier aus Plexiplas mit einem angeklebten Haltestab vor sich her, nach Art eines Lorgnons. Auch an Lagerfelds Fächer muss ich denken, noch mehr jedoch an diese Fahnen, mit denen man am Strand Sandburgen verziert oder Kinder beim Staatsbesuch am Straßenrand schwenken lässt, wenn der Mercedes 600 mit Brandt und Kossygin vorbeirollt.
Eine durchsichtige Fahne gab’s bisher noch nicht, obwohl Transparenz, Glasnost, Durchblick positiv besetzt sind. Wäre ich Verfassungsorgan, würde ich die Durchblick-Fahne zum temporären Symbol der neuen Normalität erklären, gültig wenigstens so lange, bis ein Impfstoff da ist.
Vorschlag eines Kollegen: In diese Plexiglasscheiben eine Lupe einbauen. Maximiert den Nutzwert, etwa bei der Konservendosenetikettlektüre im Supermarkt.
Mittags Antikörpertest. Dreiköpfiges ärztliches Fachpersonal betritt die Garderobe, und mein rechter Ringfinger wird mit einem Gerät gepiekst, das ich noch gar nicht kannte, so‘ne Art miniaturisierter Eierpiekser mit Federschnappfunktion. Sei „State of the Art“ erklärt der Arzt, und mir fällt auf, wie sehr ich doch hinterm Medizinmond lebe.
„Wenn wir uns in der nächsten halben Stunde nicht bei ihnen melden, dann haben wir keine Antikörper festgestellt“. Keine Meldung, Thema erledigt. Vielleicht ein bisschen schade, denn wenn man‘s schon gehabt hätte, könnte man darauf hoffen, noch ein Weilchen immun zu sein.
Meinen Kollegen begegne ich tatsächlich erst im Set, es wurde erfolgreich dafür gesorgt, dass wir uns vorher nicht begegnen konnten („Spaziergänge am Set verboten“).
Im enorm ausführlichen Regelwerk steht übrigens auch: „Kollegen werden auf Fehlverhalten hingewiesen“, und als mir ein Teammitglied irgendetwas erklärt, sein Mundschutz am Ende eines langen Tages aber die Nasenlöcher nur noch teilweise abdeckt, schießt mir die Passage durch den Kopf. Natürlich sage ich nichts, hätte ein gar zu schlechtes Gefühl, da ich selber am Set ja sowieso keine Maske tragen muss, darf, kann.
Ja, der Tag ist lang, und er begann spektakulär, mit einem ausgiebigen Bad im Starnberger See, bei prasselndem Regen und dem Wellengang, mit dem man gemeinhin Klaus&Klaus‘ „An der Nordseeküste“ bebildert bzw bewässert. Ich trug meine goldene Badehose, das gehört sich so am Fürstensee, zumal die Stelle, an der König Ludwig II nächtens ums Leben kam, nicht weit weg ist.
Das Wetter am Abend des 13. Juni 1886 muss ganz ähnlich gewesen sein, und soweit ich weiß, trug der Kini bei seinem Suizid eine nicht wasserdichte Uhr, die um 18.31 Uhr stehen blieb. Als eine der Aspekte seiner möglichen psychiatrischen Erkrankung gilt Sozialphobie, was mir vor dem Hintergrund meiner betriebsbedingten Quarantäne seltsam vertraut vorkommt und ihn noch in seinem Ableben modern erscheinen lässt.
Abstandhalten fiel ihm leicht, war Teil der majestätischen Aura, und keinem seiner Untertanen wäre es in den Sinn gekommen, ihm ungebeten auf die Pelle zu rücken.
So gesehen sind wir heute alle erlauchte Fürsten. Heute ein König - Corona hat uns alle geadelt!
5.8.
Bei der Fernsehproduktion, für die ich momentan tätig bin, spielen auch Nasenhaarschneider eine Rolle, und ich habe großzügigerweise meine Nasenhaarschneider-Sammlung von zuhause mitgebracht.
Da ich die knapp hundert Geräte in Originalverpackung belassen habe, stellt sich die fernsehtypische Frage, wie man die Markenbeschriftungen auf den Verpackungen unkenntlich macht. Der Requisiteur, mit einem für unsere Epoche bezeichnenden Versprecher: „Wenn wir farbiges Klebeband drüberpappen, kann man die Marke nicht mehr desinfizieren“ (statt: identifizieren).
Lange standen meine Nasenhaarschneider in einer schmucken Vitrine - bis zum letzten Umzug. Seither stehen im Mittelpunkt meiner Sammelleidenschaft meine Duschhauben, mit denen ich inzwischen drei Setzkästen füllen konnte, außerdem alte Hochzeitsfotos.
Sporadisch komplettiert wird auch weiterhin meine Einkaufszettelsammlung - allerdings habe ich den Überblick über die vielen tausend Zettelchen inzwischen völlig verloren.
Nach neun Stunden Aufzeichnung komme ich erst spät ins Hotel. Es fühlt sich ungewohnt an, in München zu produzieren, aber abends nicht nach Hause fahren zu können, wegen der weiterhin andauernden „Quasi-Quarantäne“, wie sie im Handbuch mit den Sicherheitsbestimmungen genannt wird.
Ich vermisse meine Familie sehr.
Ach ja; heute habe ich erstmals einen Mundschutz im Müll entsorgt, und zwar, weil ich am Studioeingang darum gebeten wurde, einen frischen anzulegen. Da habe ich nicht gut reagiert; Mundschutze sollte man grundsätzlich nicht wegwerfen, sondern, natürlich: Sammeln.
6.8.
Neuerdings wird ja darüber diskutiert, ob man ein abgeschlossenes Hochschulstudium brauche, um in der Politik mitzumischen. Aktuell wird zumeist Kevin Kühnert als Beispiel für einen Politiker genannt, dem mit einem Studienabschluss wichtiges Rüstzeug fehle.
Ich möchte nicht bestreiten, dass eine gewisse Bildung für politische Ämter unerlässlich, vielseitiges und üppiges Wissen generell hilfreich sind, gerade auch für Staatenlenker im Stresemann.
Vehement bestreiten möchte ich jedoch, dass die Allgemeinbildung zwingend an einen akademischen Grad gekoppelt ist. Wissen kann auf sehr unterschiedlichen Wegen erworben werden: durch ein Hochschulstudium, ja, aber auch durch eine Lehre, durch Reisen, jobben, VHS, Praktika, Privatunterricht, Gespräche, Radio, Bücher und Zeitungen natürlich, ja sogar durch Fernsehsendungen sollen Menschen schon ihren Horizont erweitert haben.
Ich habe kompetente, schlaue, gebildete Menschen mit den unterschiedlichsten Bildungsabschlüssen kennengelernt, auch wahre Bildungsbestien ganz ohne Abschluss sind mir begegnet, und schließlich kannte und kenne ich auch belesene, polyglotte Leute, die wenig bis gar keine Schule besucht haben, etwa, weil sie ihre Kindheit im KZ verbrachten oder als Straßenmusiker in Europas Fußgängerzonen.
Umgekehrt hörte ich von hochdekorierten Professoren, denen wesentliche Kenntnisse fehlen, zB darüber, wie Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad ticken, was jenseits der Mauern des Elfenbeinturmes gegessen, getanzt und gespielt wird. Und hat nicht, zugegebenermaßen ein etwas unfaires Beispiel, auch Donald Trump 1968 seinen Bachelorabschluss in Wirtschaftswissenschaften hinbekommen?
Wären nicht die von Platon empfohlenen „Philosophenkönige“, wäre die Herrschaft der Experten nicht eine feine Sache? Die Gebildeten regieren die Dummen, und alles ist gut?
Freunde, vergesst nicht: Wir leben in einer Demokratie. Abgeordnete sind Volksvertreter, und ich freue mich über jeden, der zB die in allen Parlamenten unterrepräsentierten Handwerker vertritt. Einer meiner Helden des deutschen Zeitgeschehens ist Karl-Josef Laumann, Laschets bester Mann, der 1974 an der Harkenbergschule in Hörstel seinen Hauptschulabschluss absolvierte, anschließend Maschinenschlosser lernte und über die IG Metall zur Politik fand.
Wie politisch ungeschickt „die Wissenschaft“ mitunter agieren kann, lässt sich derzeit wunderbar am Beispiel der OnlineKampagne #fürdaswissen der „Deutschen Forschungsgemeinschaft“ studieren: Erst lädt man Dieter Nuhr zur Mitwirkung ein, dann kommt der zu erwartende Shitstorm, panisch wird der Beitrag gelöscht, woraufhin wiederum unangenehme Fragen gestellt werden, und in einem weiteren tollpatschigen move bietet die DFG Nuhr an, den Beitrag kritisch kommentiert wieder online zu stellen - was der Gelöschte, wie zu erwarten, verständnislos ablehnt.
Nun gut, auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft muss den Umgang mit Shitstorms, diesem meteorologischen Phänomen des digitalen Klimawandels (immer mehr heiße Luft) erst erlernen. Oder, um als ahnungsarmer Autodidakt („Die Doofen“) eine promovierte Physikerin überflüssigerweise ein weiteres Mal zu zitieren: „Das Internet ist für uns alle Neuland“.
7.8.
Jetzt Lisa Eckhart. Ausgeladen, weil für‘s Schanzenviertel zu...zu...ungeeignet. Mein lieber Herr*in Gesangsverein, was sind wir doch für verweichlichte Memmen im Ertragen abweichender Ansichten geworden.
Was fehlt, ist ein Trainingscamp, offen für jung und alt, links und rechts, ähnlich wie ein Fitnessstudio, in dem man den Bizeps stählen kann.
Also, Ihr Weicheier, ich hoffe, Ihr habt alle gut gefrühstückt. Wer sich zu schwach fühlt, kann jetzt noch die Turnhalle verlassen.
Ich fange mal ganz locker an, zum Aufwärmen: „Mein lieber Herr Gesangsverein“ klingt, ist, liest sich flüssiger als die oben genannte Version. Gendergerechte Sprache ist ein sicherer Weg, um Textbilder zu verkomplizieren. Noch kein halbwegs poetischer Text hat durch -innen etc. gewonnen.
So. Durchatmen, Herr(!)schaften, es geht sofort weiter. Thema Erben. Erben ist ein fundamentaler Angriff auf die Chancengleichheit. Gleiche Startbedingungen sind erst dann gewährleistet, wenn die Erbschaftssteuer auf 100% angehoben wird. Im Gegenzug können Lohn- und Einkommenssteuer gesenkt werden, um Leistung adäquat zu belohnen. Nehmt den armen Erben ihre Porsches weg, dann sind auch sie gezwungen, sich im Erwerbsleben zu bewähren und haben Gelegenheit, berufliche Erfolge als Quell der Zufriedenheit zu nutzen.
Apropos Töfftöff: Autos gehören sowieso abgeschafft. Braucht keiner und machen alles kaputt. Kauft Euch Kettcars, Bierbike, Rollschuhe, mir egal, Hauptsache sauber und leise.
Kurz die Glieder schütteln, Atmen nicht vergessen, und weiter geht’s.
Es gibt keinen Grund, Karpfen und Kälber zu verzehren, Katzen und Köter aber nicht. Man nenne mir ein überzeugendes Argument (geschmackliche gelten nicht; Geschmack ist Geschmackssache). Übrigens passt zu Katzenragout besonders gut: Kapselkaffee.
Kurz entspannen, nächste Runde.
Ein Blick in die europäische Geschichte zeigt: Wo Männer regieren, geht was schief. Testosteron ist ein Teufelszeug. Es vernebelt die Sinne und lässt noch den friedfertigsten Mann irgendwann grundlos zum Schwert greifen. Meine These lautet: Gleichberechtigung ist Kappes. Nehmt uns Männern wenigstens das passive Wahlrecht, auf dass alle entscheidenden Posten nur noch von Frauen besetzt werden. Ich garantiere Euch: Die Welt wird es uns danken.
Mittlerweile sollten wir warm geworden sein. Will mich schon jemand blockieren? Ausladen? Nein? Ok, dann lege ich noch ein Schippchen drauf: Das Demonstrationsrecht gilt für alle gleichermaßen, für Klimaretter und Antirassisten genauso wie für jene, die unser Grundgesetz verteidigen. Darüber, dass nämlich der Kampf gegen Corona Freiheitsrechte verletzt(e), kann es keine Zweifel geben, auch wenn Anton Hofreiter anderes behauptete. Der sagte zu Beginn der Pandemie sinngemäß, wer gegen die „Maßnahmen“ sei, offenbare eine „triviale“ Auffassung von Freiheit. Allerdings nehme ich mir persönlich auch weiterhin die Freiheit, selber zu entscheiden, was ich für „trivial“ halte und was nicht.
Und jetzt gehe ich in Badelatschen übern Berg und kaufe mir „Die Welt“, eine „Neues Deutschland“, Auftrittskarten von Nuhr, Eckhart und Heino, und dann informiere ich mich über Wohnungen im Hamburger Schanzenviertel. Gibt’s eigentlich eine Mietpreisbremse in Hamburg? Falls nicht, wäre ich an einer Investition interessiert.
Und aus. Relax! Gratulation an alle, die bis hierhin durchgehalten haben. Locker machen, Training einwirken lassen, und sollte Diskussionsbedarf bestehen: Lächeln nicht vergessen! Ich hoffe, es war für jeden etwas dabei.
Morgen leitet jemand anders das Training. Wer möchte?
8.8.
Wenn ich Karl Lauterbach bei Maischberger richtig verstanden habe, dann müssen wir uns entscheiden: Entweder wir geben der Wirtschaft noch mehr Raum zum Atmen, lassen zB Großveranstaltungen zu wie das Bono-Konzert in Düsseldorf und eiern weiter herum, was Schule und Kindergarten angeht. Oder wir belassen es bei der inzwischen eingezogenen Lockerheit bzw richten uns auf ein erneutes Anziehen der Schraube ein, während der Präsenzunterricht so ungehindert stattfindet wie eben möglich.
Epidemiologie scheint mit festen Budgets zu rechnen: Man hat sagen-wir-mal 500€, und man kann sich aussuchen, wofür man die Knete ausgibt, Klamotten, Kurzreise, Klopapier, aber eins ist klar: Auf Pump geht gar nichts. Weil nämlich schon im Herbst Gehaltskürzungen anstehen können, während eine Bonuszahlung eher nicht wahrscheinlich ist.
Als betroffener Bühnenkünstler und vierfacher Vater muss ich über meine Haltung nicht lange nachdenken: Kinder gehen vor, und zwar konsequent und in jeder Lebenslage. Ich persönlich würde auf alle meine Liveauftritte in den nächsten Jahren verzichten, wenn denn dies nötig sein sollte, würde in Ruhe dieses Tagebuch weiterschreiben, schauen, wo ich als Medienproletarier in Rundfunk und Fernsehen anheuern kann und ansonsten in Würde verwittern.
Für die TV-Produktion, an der ich in den letzten Tagen mitwirken durfte, werden Spielszenen gedreht: Eine verräucherte Kneipe; ich sitze an der Bar. Den Rauch würde man normalerweise mit einer Nebelmaschine auf Wasserbasis herstellen, aber natürlich bietet dieser Nebel den tückischen Aerosolen beste Verbreitungsmöglichkeiten. Als Alternative entzündet man in der „Neuen Normalität“ ein Stück Pappe, legt es in eine Pfanne und schwenkt es hin und her, hüstel.
Nach Drehschluss und Rucksackwechsel besteige ich den Rail-Jet nach Salzburg und fahre durch flirrende Hitze mit dem Tretroller über die Ischlbahntrasse zum Mondsee.
In der hiesigen Basilika singt meine Frau am Sonntag, seit Jahren wird sie dort als Sopranistin engagiert und wir freuen uns sehr, dass das diessommerliche Programm trotz Corona klappt. Im Gasthof in Schwarzindien sind wir Stammgäste. Den merkwürdigen Namen verdankt die Ufersiedlung folgendem Umstand: 1879 hatte man die lokale Jugend ermahnt, die Sommerfrischler ja nicht zu belästigen. Am besten wäre es, so beschied man, wenn die jungen Leute gänzlich unsichtbar blieben. Also wichen die Halbstarken in die Auwälder jenseits der Ortsgrenze aus, bauten Wigwams, sendeten Rauchzeichen, womöglich auf Pfannenpappen-Basis und wurden nach einiger Zeit so braun, dass die Einheimischen sie „Schwarzindianer“ nannten. Und so heißt der Weiler noch heute.
9.8.
Salzkammergut. In den Gaststätten liegen Formulare aus: „Freiwillige Covid-19-Gästeregistrierung“. Wir legen uns neben dem dazugehörigen Briefkasten auf die Liegewiese und schauen, wer sich registriert. Von ca. 50 Gästen nutzt niemand den Service (kann natürlich Zufall sein, und sobald wir wegschauen, quillt der Kasten über).
Über Masken wird eher seltener diskutiert als bei uns, und ähnlich selten werden sie angelegt. Vorsichtshalber werden wir uns auf der Rückreise nach Deutschland testen lassen (mir wurde erst gestern das letzte Mal auf der Suche nach Antikörpern in den Finger gepiekst; die Testerei ist bei mir zum festen Tagesordnungspunkt zwischen erstem und zweitem Frühstück geworden, fast wie Zähneputzen).
Auf dem Grabbeltisch des kleinen Ischlbahnmuseum kaufe ich einen Österreichischen Eisenbahnkalender aus dem Jahr 1982, dessen grobvergrießte Schwarzweißbilder jedes Schienenverkehrsfreundeherz höher schlagen lassen.
Zu den Bildunterschriften kann man getrost das Schnaufen einer uralten Waldbahn imaginieren: „Weit über die Grenzen Österreichs hinaus berühmt ist die mittägliche Doppelausfahrt aus Alt-Nagelberg, vom Beschauer aus links nach Heidenreichstein, rechts nach Litschau. Im Bild 399.02 und 298.207 am 30.X.1968“.
Im Hinterstübchen denke ich den ganzen Tag über einige Vorwürfe nach, mit denen ich mich neuerdings bei Facebook konfrontiert sehe. Zum Beispiel: Dass ich auch Kommentare like, die offenkundig nicht meiner persönlichen Meinung entsprechen (können). Stimmt, richtig beobachtet. Mein Like hat im Wesentlichen zur Voraussetzung, dass ich den Text zur Kenntnis genommen habe. Man könnte es mit „Danke für Ihre Wortmeldung“ übersetzen, wahlweise aber auch mit „Es ist mir eine Ehre, dass Du meinen Beitrag um Deine Sichtweise ergänzt“.
Ich bin der giftigen Diskurse müde, des Aufeinander-Rumhackens, der schnellen Beleidigung, und ich empfinde es als großes Geschenk, dass unter den Lesern meines Tagebuchs auch jene sind, mit deren Sichtweisen ich nicht bis gar nicht übereinstimme. Mitunter kommt es so zu einem echten Meinungsaustausch, im Sinne von: „Du verrätst, was Du darüber denkst, und ich verrate Dir, was ich darüber denke“, ganz ohne aggressives Belehrenwollen. Natürlich geht nichts über eine ernsthafte Diskussion, aber ich bin bereits beglückt, wenn überhaupt jenseits der Blasen kommuniziert wird, ohne sich sogleich den Strick um den Hals zu wünschen. Ist nicht selbstverständlich heutzutage!
Ein erzformidabler Sommertag. Meist stehe ich im brusttiefen Wasser, mit meinem Söhnchen auf dem Arm, und ertaste mit dem großen Zeh markante Gegenstände im Modder, etwa Sonnenschirmfüße, Wurzelstöcke oder Bojenbefestigungsfundamente.
Tagestiefpunkt: Ein SUP mit Motor. Also eigentlich ohne P, da man ja nicht paddelt, sondern lediglich SU. Die Abkürzung für „Sowjetunion“ braucht ja eh niemand mehr, kann getrost umgeschult werden. Aber wer braucht so‘n Brett mit Motor?
10.8.
Abteilung Abenteuer: Per Omabrust von Schwarzindien nach Mondsee schwimmen. Der Thrill, so erläutert mir der SUP-Vermieter, kommt vom regen Wasserskiverkehr. Schripp-Schrapp Rübe ab. Ob ich keine Schwimmboje hätte? Doch, zuhause. Eine Schultüte wäre die richtige Kopfbedeckung, mit viel Glitzer. Aber erstens ist Sonntag und zweitens ist auch Österreich noch unsicher, wie man in Sachen Unterricht verfährt. Vielleicht doch digital Schooltüting?
Bei der Realisierung gerate ich nie in Gefahr; die Motorboote umkurven mich gnädig, dafür umschmeichelt mich 24 Grad warmes Wasser unter wolkenlosem Himmel. Zugegeben, das Abenteuer ist kein großes, die Strecke misst unproblematische 1,1 km, wenn ich meiner Boots-Navi-App trauen darf, aber bei jeder Durchquerung eines Gewässers schwingt die Gewissheit mit, dass auch mittelgroße Gesundheitsprobleme wie ein einfacher Herzkasper andere Folgen haben kann als beim Einkaufsbummel (dafür ist so’n See, wenn man den Badestrand erstmal hinter sich hat, äußerst coronafrei).
Nach einer guten halben Stunde Geradeaus-Dümpelei mit der Mondseer Basilika als Zielpunkt, gehe ich im Alpenseebad an Land, pirsche mich durch Ölsardinen und Pommesduft und lasse mich anschließend von meiner Frau in Empfang nehmen, meine Klamotten im Kinderwagen-Untergeschoß. Fazit: Das muss ich wieder häufiger machen! Da steht noch so viel auf meiner Eimerliste, von Rund-um-die-Berliner-Museumsinsel bis Duch-die-Dardanellen, von Gibraltar mal ganz abgesehen.
Lustig: In felix Austria muss man nur einen Meter Abstand halten. Wahrscheinlich, weil das Land kleiner ist als Deutschland. Das Virus ist eben doch nicht so doof und passt sich örtlichen Gegebenheiten an. In USA oder Russland dürfte man, dieser Logik folgend, satte 10 Meter nie unterschreiten, und genau darum steckt Trump tiefer in der Tinte als Kurz.
Während meine Frau fürs abendliche Konzert probt, gehe ich mit den Kindern auf einen großen Spielplatz. Eine indische Familie ist auch da, mit Kastenzeichen und Turban. Die Tochter nimmt Theo an die Hand, begleitet ihn auf Rutsche und Kaffeemühle. Sie erzählt ihm in breitem Wienerisch, dass sie, obwohl schon acht, erst unlängst Fahrradfahren gelernt hat. Dafür könne sie aber fünf Sprachen fließend: Deutsch, Türkisch, Englisch, Indisch und Japanisch. Interessiert frage ich nach: Alle gleich gut? Habt Ihr in Japan gewohnt? „Ja“, sagt sie und liefert zum Beleg die japanischen Wörter für Bushaltestelle und Klettergerüst, und anschließend fügt sie etwas altklug hinzu: „Ich bin ja Inder, und wir Inder san in der Regel a bisserl schlauer als die Deitschn“. Amüsiert entgegne ich (seltsam sinnfrei): „Ihr seid ja auch viel mehr!“, und im selben Moment kommt ihr Papa und holt sie ab.
Das Konzert am Abend läuft fein. Auf dem Programm steht u.a. die Bachkantate „Ich hatte viel Bekümmernis. Schlusschor: „Was helfen uns die schweren Sorgen/Was hilft uns unser Weh und Ach? (...) Was hilft es, dass wir alle morgen/Beseufzen unser Ungemach?/Denk nicht in deiner Drangsalshitze/Dass du von Gott verlassen seist (...) Die folgend Zeit verändert viel/Und setzet jeglichem sein Ziel.“
150 Karten durften und konnten verkauft werden; der Durst ist groß.
11.8.
Unlängst zeigte mir meine Frau mit erschrockener Miene einen Artikel bei Focus Online, in dem behauptet wurde, Gesundheitsämter würden mit dem Corona-Virus infizierte Kinder von ihren Familien isoliert in Quarantäne schicken. Mit einer wegwerfenden Handbewegung lehnte ich die Lektüre ab: „Ach, das ist Quatsch. Die wollen sicher nur Klicks.“
In den letzten Tagen las man ähnliche vermeintliche Räuberpistolen dann auch in der „Neuen Westfälischen“, angereichert mit melancholisierenden Details: Gemeinsame Mahlzeiten, so stellen sich dies jedenfalls die Gesundheitsämter in Offenbach und Karlsruhe vor, gelte es zu vermeiden, „Ihr Kind sollte sich möglichst alleine in einem Raum getrennt von anderen Haushaltsmitgliedern aufhalten“.
Bei Zuwiderhandlung sollen die Kinder der Familie entrissen und in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht werden.
Langsam und schmerzhaft war die Erkenntnis, dass die Berichterstattung womöglich stichhaltig sein könnte, und dann malte ich mir aus, wie ich mich als Kind (und Vater) in einer solchen Situation fühlen würde, und bereits dieses Gedankenspiel entzündete in mir einen reißenden, unkontrollierbaren Hader. Ich sähe mich außerstande, dieser Anordnung zu folgen, und/oder würde meiner staatsbürgerlichen Loyalität verlustig werden.
Im Land der Berge und Babyelefanten wird derlei weit entspannter gesehen. Unsere Herbergsmutter erklärt, bei allen Corona-Warnungen für ihre Branche handele es sich lediglich um Empfehlungen. So werde empfohlen, ein Gästezimmer, bevor es neu vermietet wird, 24h zu durchlüften. Fünf Stunden, so erläuterten zuständige Beamte, sei allerdings auch ok. Unklar ist allerdings, wer haftet, wenn es zu einer Infektion kommt.
Ach ja, für alle Unkundigen: In Österreich wird der einzuhaltende Abstand per Tier illustriert. Die Körperlänge eines Babyelefanten solle eingehalten werden.
Unsere Wirtin dekoriert ihre Pension mit Vorliebe per Sinnsprüchen. Am Eingang zum Kräutergarten zB liest man auf hölzernem Brett: „Einem Ort, an dem kein Unkraut wächst, sollte man nicht vertrauen“, und in der Essecke unseres Zimmers hängt eine poetische Stickarbeit, die behauptet: „Blinder Eifer schadet nur“. Beides, so finde ich, passt auch gut zu Deutschland im Coronäum.
Der Landarzt Thomas Assmann, so meldet mir die FAZ mit viral gehender Kachel, fordert ein Reiseverbot für 16–26jährige, weil dieser Altersgruppe das Verantwortungsgefühl abgehe. Wauisaui, die Thesen werden täglich steiler. Morgen wird irgendein Pathologe behaupten, präventive Beerdigungen würden die allermeisten Krankheitsverläufe deutlich verkürzen, ja, rechtzeitig angewendet sogar Infektionen verhindern, und alteingesessene Medienhäuser werden ihr Heil in der Weiterverbreitung dieser These erblicken - bis uns auffällt, dass der Pathologe recht hat, mit dramatischen Folgen, gerade auch für mich und Euch, liebe Leser.
Merke: Sterben ist der schönste Tod, bzw.: Noch ist nicht aller Tage Abendbrot (Notiz an mich selbst: Nicht der Wirtin verraten; die Gute macht aus dem Spruch sogleich eine Bastelarbeit und hängt sie in den Frühstücksraum).
12.8.
Fips Asmussen ist tot, der radikalste, ausdauerndste, beste Witzeerzähler, den unser Volk je hervorgebracht hat.
Er gehört zu den Künstlern, die man am besten per MusiCassette genoss, so wie Richard Clayderman, oder natürlich live.
Vor einigen Jahren gastierte ich selber in Fürth, und in der Garderobe hing das Plakat für den bevorstehenden Asmussen-Auftritt, ein fotofreies Schriftstück in A0, vor dem ich längere Zeit schmunzelnd meditierte. Es war leuchtend apfelsinenfarben, und in einer gezackten Eckenblase stand „drei Stunden Witzepower“. Ich weiß nicht, woran Asmussen gestorben ist, ich habe ihn privat nie kennengelernt, aber ich weiß, dass er all das konnte, was ich nie lernen werde: Den Blick aufs Wesentliche richten, nämlich die Pointe. Hätte er kollabierte Zwerchfelle gesammelt wie die Indianer Skalps, hätte er Dutzende Kühlhäuser mit den Muskel-Sehnen-Platten füllen können, einen kompletten Bremerhavener Fischereihafen mindestens.
Wenn er auftrat, blieb kein Auge trocken, und das ist auch aktuell bedauerlich, weil Deutschland derzeit unter Wassermangel leidet. „Drei Stunden Witzepower“ hätte zum Bewässern eines durchschnittlichen Gartenrasens wesentliche Tropfen beisteuern können.
In manchen Gemeinden wurden die Bürger mittlerweile aufgefordert, ihren Trinkwasserverbrauch konsequent einzuschränken, was während einer Epidemie mit Hände-Wasch-Gebot gleich mehrere Schlussfolgerungen zulässt: Womöglich hat neben den hohen Temperaturen und den vielen gefüllten Planschbecken auch die gesteigerte Handhygiene Deutschland trockengelegt (Es soll Menschen geben, die während des Einseifens ihrer Flunken unnötigerweise das Wasser aus dem Hahn laufen lassen). Man kann die Wasserknappheit aber auch für einen phantastischen Beweis unserer Seuchenpräventions-Disziplin halten: So viele von uns haben sich so ausgiebig die Viren von den Extremitäten geschrubbt, dass das Wasser nunmehr alle ist. Aber: Non est aqua, non est vita, wie der Latino sagt, also: Ohne Wasser kein Leben, und wo kein Leben, da auch keine Viren, ergo: Die Seuche ist besiegt.
Die Russen kommen mit ihrem Impfstoff demnach zu spät, was ich persönlich schade finde; ich hätte Putin seinen Sputnik-5-Erfolg durchaus gegönnt (was waren eigentlich Sputnik 2-4? Prager Frühling? Boris Spasski Schachweltmeister? Markteinführung des GAZ-24 Wolga?).
Merkwürdig finde ich die Unkereien jener, die erst noch beweisen müssen, dass sie es besser können. Meine liebe Frau sagte auch sogleich, dass sie sich mit dem Zeug eher nicht würde impfen lassen wollen. Ich bin da offenbar weniger wählerisch & verzärtelt - immer her mit der Suppe! Man haue mir eine Spritze irgendwo hin, notfalls sogar ins Zwerchfell, und spassiba vielmals.
P.S.: Just lerne ich: Der Impfstoff heißt Sputnik V, also V wie Vogel-V, wie Vakzin, wie Victory. Schönen Tag allerdings!
13.8.
Tag der Pannen. Erst gesteht Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml, dass die Ergebnisse der freiwilligen Tests an den Autobahnraststätten nicht an die Getesteten weitergeleitet wurde. 900 seien positiv, das ist natürlich nicht ganz optimal. Die Botschaft: Für gute Nachrichten ist der Chef zuständig, die nicht so guten lässt Söder lieber von subalternem Personal überbringen.
Ob der Fehler Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen hat? Schwer zu sagen. Mir würde es mittlerweile nicht mehr im Traum einfallen, irgendjemandem die Hand zu geben, Aerosole ins Gesicht zu pusten, vor allem auch, weil ich nurmehr über mickrige Sozialkontakte verfüge. Allerdings habe ich eine offene Flanke, nämlich meine kleinen Kinder, die ich natürlich anstecken und denen ich eher keine Kontaktsperre verordnen würde, ehe ein positives Testergebnis vorliegt.
Nachmittags lese ich, dass das RKI mit einem Impfstoff zum Herbst 2020 rechnet, und ich atme sogleich erleichtert auf. Der erläuternde Text schränkt den bevorstehenden Durchbruch umgehend wieder ein; man wisse nichts über die Länge der vom Impfstoff ausgelösten Immunität, auch könnten Mutationen der Forschung eine lange Nase drehen. Abends meldet das RKI dann, dass der Text gänzlich veraltet ist und nicht hätte veröffentlicht werden können.
Ach so. Nun denn, umsonst gelesen.
Beide Pannen begrüße ich aus vollem Herzen. Gerade wir Deutschen gefallen uns in der Rolle des Primus der Coronakönner, wo wir sind ist oben, uns kann keiner, am deutschen Wesen soll die Welt genesen, oder, mit Söders Worten: „Die ganze Welt bewundert uns!“
Das Streberhaft-gesundheitspolizeiliche kommt aber weltweit nirgends gut an; erst die Panne macht uns zum Menschen.
Ich weiß das, seitdem ich in der dritten Klasse zum Klassensprecher gewählt wurde und glaubte, die Aufgabe eines Klassensprechers bestehe darin, die Namen sich in der Pause raufender Mitschüler auf einem Zettel zu notieren und diesen dann im Lehrerzimmer abzugeben - ein Irrtum, für den ich zurecht eine Tracht Prügel kassierte. Hinzufügen möchte ich allerdings, dass ich nach umfänglichen Mea Culpa wiedergewählt wurde - ein Modell, das ich auch Markus Söder empfehlen würde, wenn sich unsere Wege kreuzten.
Letzteres möchte ich aber ausschließen, weil ich den Tag vorwiegend in der Kinderspielecke der Basilika Mondsee verbringe, die herausragend ausgestattet ist und mit ihren beiden bequemen Sofas müde Eltern zum Nickerchen einlädt. Keine Ahnung, wie lange ich in der bezirzend kühlen Kirche schlafe. Zum Abschied kaufe ich jedenfalls zwei Fläschchen Weihwasser im Sechsämtertropfen-Format.
Hin- und Rückweg lege ich wieder auf dem Wasserweg zurück. Diesmal bereits in etwas sportlicherem Brust-Stil, gerade so, dass die Brille sicher auf der Nase bleibt.
Die flirrende Kulisse mit Schafberg, Drachenwand und der Mondseer Basilika, das warme, weiche Nass, die freundlichen Renken, die langsam detailreicher werdenden Zielufer formen sich zu rarem Hochgenuss, höher noch als die Motorradpyramiden der Berliner Polizei aus den 60er Jahren, die mir hierzu in den Sinn kommen, und ich habe keine Ahnung, warum.
Aufreger in der Kronenzeitung: 50 Infizierte bei einer Hochzeitsfeier. Auch das Brautpaar muss in Quarantäne, was, sofern alle am Leben bleiben, ja auch Vorteile hat: Diese Flitterwochen werden unvergesslich bleiben.
Herzlichen Glückwunsch; auf hundert gesunde gemeinsame Jahre!
14.8.
Im „Dorf der Tiere“, einem Kinderparadies mit GoCarts, wallisische Schwarznasenschafen und preisgünstigem Marmorkuchen, lernen wir einen Oberösterreicher kennen, der uns mit seiner Krankengeschichte fesselt. Bei Tempo 100 fuhr er auf einen stehenden Laster auf, war von Kopf bis Fuß kaputt. Fünf Monate künstliches Koma. Nach seinem Erwachen Tabula rasa, nur Jugenderinnerungen sind noch da (auch an „RTL Samstag Nacht“ - daher (er)kennt er mich). Etwas später Geburt seines Sohnes, regelmäßiges Betrachten alter Fotoalben, um Lücken zu füllen. Zweimal sagt er „g‘schneizt und kampeet“, ich nicke kundig, verstehe aber nur Bahnhof, und meine Frau erklärt mir später, dass dies „geschniegelt und gebügelt“ bedeutet, also: aus dem Ei gepellt. Zum Abschied reden wir auch über Corona, und er raunt: „Ich weiß nicht, was die Regierung mit ihren Maßnahmen für einen Plan verfolgt, aber „mit Corona hat das alles nichts zu tun“. Was genau dahinter stecken könnte? Er zuckt mit den vernarbten Schultern.
Theodor kann ein neues Wort: „Mundschutz“. Er will wissen, wo der Mundschutz ist, ihn sich vors Gesicht schnallen, auch seine kleine Schwester soll einen tragen. Für einen Zweijährigen natürlich ein großer Schritt; mit Mundschutz gehört man zu den Großen, ist Subjekt im Konzert der Verantwortungsträger, während man all die Jahre zuvor nur zum Chor der Aerosolisten gehörte.
In früheren Generationen spielten deutsche Buben mit Zinnsoldaten, Holzgewehren und trugen Matrosenanzug, heute ist es der MNS. Klare Verbesserung.
In Salzburg wurde eine Bank überfallen, und die Täter trugen eben diese Masken, in handelsüblicher Billigvariante. Ihre Beute fiel offenbar bescheiden aus, eine Summe nennt die Kronenzeitung nicht. Sollte man die Täter dingfest machen, kann man ihnen wenigstens kein epidemiologisch zweifelhaftes Verhalten vorwerfen - ich bin mir nicht sicher, ob der klassische Damenstrumpf das Gegenüber, also den Kundenberater der Bankfiliale, ausreichend schützen würde.
Kann mir übrigens bitte jemand verraten, was mit der Schutzbrille als Ergänzung zum MNS bezweckt wird, und ob meine bewährte Alltagsbrille eine spezielle Schutzbrille ersetzt?
Ach, ich habe ja so viele Fragen. ZB, wie man aus den von 600 auf 1000 angestiegenen Zahlen der pro Tag Neuinfizierten einen gefährlichen Trend ablesen will, wenn doch gleichzeitig von Tag zu Tag mehr Tests durchgeführt werden. Ist das nicht unwissenschaftlich? höre ich mich denken, sage aber nichts, weil ich ungerne mit Donald Trump in einen Topf geworfen werden möchte, der sich regelmäßig ähnlicher Argumente bedient. Unklar ist mir auch, warum immer wieder Spanien genannt wird, wenn es um Urlauber geht, die das Virus nach Deutschland „einschleppen“, während doch die meisten der infizierten Heimkehrer Länder des Westbalkans besucht haben. Überhaupt lese ich: „Einer von vier Infizierten holte sich Corona im Ausland“ - heißt ja, dass sich drei Viertel im Inland infizieren. Warum also die Panik in Sachen Auslandsreisen? Bei einem Blick auf die übervollen Strände im Inland könnte man ja auch zu dem Schluss kommen, dass es sinnvoller wäre, wenn sich die Erholungssuchenden möglichst gleichmäßig innerhalb der EU verteilen.
Heute wechsele ich meinen MNS. Ich habe ihn beflissen getragen, einen Monat lang. Da er ja die anderen schützen soll, nicht mich, darf er verdrecken (auch so eine Legende, dass ein Mundschutz sauber sein muss, um wirksam zu sein. Wieso eigentlich? Wer setzt so‘n Quatsch in die Welt?)
Aber heute ist es soweit. Es duftet nach frischer Wäsche. I bün g‘schneizt und kampeet.
15.8.
Auweia, habe ich mich geärgert. Vornehmlich über mich, weil ich im gestrigen Tagebucheintrag gar zu unbedarft jene Fragen stellte, die mich Naivling bewegten, zB die Frage nach der Schutzwirkung von Labor-Brillen. Hintergrund: Neulich, auf Arbeit, war ich gehalten, Schutzbrille zur Maske zu tragen, etwa auf dem Weg zum 00. Da ich ja sowieso Brille trage, hielt ich die Anordnung für doppelt gemoppelt - und genauso ist es ja auch, wenn ich die eingegangenen Infos richtig deute.
Größere Diskussionen löste meine Frage auf, ob nicht eventuell doch auch die Anzahl der Tests einen Einfluss auf die Anzahl der Neuinfizierten hat. Natürlich, sagen die Gegner der Regierungspolitik; eher nicht, sagen die anderen. War meine Frage wirklich so strunzdumm, wie manche Kommentare nahelegten?
Zunächst las ich mir den BR24 Faktencheck durch, und anschließend wusste ich schon mal: Gar so banal ist die Fragestellung nicht.
Anschließend telefonierte ich mit einer Freundin, Oberärztin einer Corona-Station und Autorin mehrerer wissenschaftlicher Arbeiten zum Thema Covid-19. Zu meiner Erleichterung bestätigte sie meinen Eindruck: Nichts genaues weiß man nicht. Wenn man wirklich valide Aussagen treffen wollte, hätte man schon während der ersten Welle Vergleichsgruppen bilden müssen, oder ersatzweise einen Ort durchtesten, etwa so, wie dies später in Heinsberg gemacht wurde (ist aber nicht repräsentativ). Warum dies nicht gemacht wurde, habe sie sich auch schon gefragt.
Testanzahl und Infiziertenzahlen in einen Bezug zueinander setzen, sei mathematisch keine Hexerei, theoretisch. Praktisch werden mit den Reiserückkehrern momentan viel mehr asymptomatisch Infizierte getestet. Grundsätzlich gehe der Trend deutlich Richtung mehr Infektionen, aber, sagt sie, und damit endet unser Gespräch, momentan gebe es auf ihrer Station einen Coronafall, während dort zwischenzeitlich schon 84 Patienten gepflegt wurden.
Ein Leser warf mir vor, mich Attila Hildmann immer mehr anzunähern. Bitte was? Er vergleicht mich mit einem antisemitischen Demagogen? Wie kommt er darauf? Das ganz harmlose Fragen sei das kleine 1x1 der Rechtspopulisten, und ich sei auch so einer, schreibt er. Puh. Starker Tobak. Ja, ich hätte das mit der Schutzbrille selber ergoogeln können, ja, Fragen nach den Arbeitsweisen des Robert-Koch-Instituts sind in den Augen mancher Hygiene-Jakobiner unzulässig - das habe ich gestern gelernt.
Am Nachmittag ist der Hildmann-Vergleich gelöscht. Ich war‘s nicht, ich schwöre!
Womöglich kam dem Kritiker sein Beitrag im Nachhinein etwas überzogen vor. Falls er dies liest: Ich bin Ihnen nicht böse, beschäftige mich gerne mit Kritik, auch wenn diese ungerechtfertigt ist. Wir können alle aus allem etwas lernen. Also willkommen zurück, wenn‘s mal passt.
Kritisiert wurde ferner, dass ich meine Maske zu lange getragen habe. Obacht Schimmelpilz! In diesem Punkt beanspruche ich künstlerische Freiheit. Eine verdreckte Maske gefährdet ausschließlich mich, und in welchem Maße ich meine Lunge mit Krankheitserregern von Gauloises über Sporen, Kryptonsägemehl bis zu Meerkatzenbartstoppeln garniere, ist einzig und allein meine freie Entscheidung.
Dass eine oft getragene Maske eklig sein kann, ist sicher richtig, aber ich lege auf Einhaltung des Mindestabstands Wert - niemand wird Gelegenheit haben, meine Maske aus der Nähe zu begutachten.
Noch ärger wird der Ärger am Abend, als ich lese, dass fast ganz Spanien zum Risikogebiet erklärt ist und auch die Zahlen in Deutschland nichts gutes verheißen. Habe ich gestern gar zu verharmlosend, zu blauäugig über die Lage geschrieben? Fast sieht es so aus, und mir bleibt neben innerlicher Selbstgeißelung nur die Bitte um Verzeihung, mindestens so schuldbewusst wie Huml&Söder, und ferner das feierliche Gelöbnis, dieses Tagebuch zukünftig mit einem scharfen Adler- und einem wachsamen Holzauge weiterzuführen.
Über eins, liebe Freundinnen, werden wir uns kaum streiten: Das Thema Corona bleibt uns noch eine Weile erhalten - ob wir wollen oder nicht.
16.8.
Mozarts Krönungsmesse („Coronation Mass“) in Mondsee. Aufgrund meiner Vaterfreuden und -pflichten kriege ich mal wieder nur das Drumherum mit: Eine gut gelaunte, dicht gedrängte Publikumsmenge in Dirndl und Trachtenjanker vor der Basilika, die sich erst für den Gang auf die Kirchenbank den Mundschutz aufsetzt. Hierob leicht irritiert und herzlich schmunzelnd, sage ich meiner Gattin, die als Sopran-Solistin auftritt, Toitoitoi und spaziere mit den Kindern durch schlappen Nieselregen runter zum See. Dort findet eine Segelregatta statt, und zwar unter höchst entschleunigenden Umständen, nämlich bei Windstärke <1. Ideales Unterhaltungsprogramm für Burn-Out-Opfer; wäre ich Fernsehdirektor, würde ich dieses Rennen gerne live übertragen („die nachfolgenden Sendungen verschieben sich auf unbestimmte Zeit“). Wie betretene Ölgötzen stehen die Skipper auf ihren Booten, deren Vorwärtsbewegung sich nur erkennen lässt, wenn man sehr lange hinschaut, und mir ist, als hätte ich einen Segler sogar gelangweilt in der Nase bohren sehen.
Nach dem Konzert (fulminanter Erfolg) treffen sich die Musiker nach altem Brauch gegenüber im Kaffeehaus. Ich habe das Glück, mit Gottfried, dem musikalischen Leiter der Kantorei und emeritiertem Professor für Orgel am Mozarteum zu plaudern. Er ist ein echter Crack, phantastischer Musiker und sprühender Geist. Als Teresa erzählt, dass fast alle ihre Konzerte (in Deutschland) „auf unbestimmte Zeit“ verschoben sind (genau wie die nachfolgenden Sendungen in meinem phantasierten Regatta-Sender), fädelt Gottfried sogleich ein „...was ja im Grunde passt, da wir ja auch auf unbestimmte Zeit leben“.
Mir gegenüber sitzt eine meiner Heldinnen in der Wirklichkeit, nämlich die Violinistin und Konzertmeisterin Franziska Strohmayr. Sie gestaltet ihre Tourneen als „Kultur-Biathlon“, fährt von Konzert zu Konzert per Rad. Beim ersten Mal war sie mit einem Rad für 300€ aus dem Supermarkt unterwegs (der Wert der Fracht auf dem Gepäckträger, ihrer italienischen Markengeige von 1759, steht hierzu in einem interessanten Kontrast). Die täglichen Video-Reiseberichte ihres ersten Kulturbiathlons habe ich verschlungen. Im Frühjahr nächsten Jahres will sie von Augsburg nach Rom, mit Bach, Paganini und Mozart. Hatte lange darauf gehofft, sie kennenzulernen. Geklappt, juhu.
Nach Mondsee begleite ich meine Frau nun im fünften Jahr, und ich bin erneut begeistert von der Arbeit der Kantorei. Künstlerisches Niveau, positive Atmosphäre, die wundervolle Basilika als Auftrittsort: Himmlisch.
Für den Rest des Tages schwelgt meine Frau in frischer Beseelung, und ich freue mich mit ihr. Corona habe ihr das Geschenk der Musik, die Magie eines Konzerts erst richtig klar gemacht. Gottfried hat sie nach dem heutigen Auftritt direkt für’s nächste Konzert engagiert: am 6. November dürfen wir für Mozarts Requiem wieder nach Mondsee reisen, sofern die Grenzen offen sind (schon jetzt trauten sich einige deutsche Freunde, die gerne gekommen wären, nicht über die Salzach. Was, wenn just während des Agnus Dei Oberösterreich zum Risikogebiet erklärt wird?)
Ich bleibe Optimist und freue mich auf den November. Mal gucken, wie wir‘s anstellen, dass ich auch mal zuhören kann!
17.8.
Gummiboote sind das neue Klopapier - sagt die Welt am Sonntag. Zunächst stutze ich, denke in Saugfähigkeitskategorien, ein Gedankengang, der aber der Faktenlage kaum gerecht wird. Nein, es geht um den enormen Verkaufserfolg aller Plansch- und Wassersportartikel, bedingt durch das fabelhafte Wetter auf Balkonien.
Nun gut; Gummiboote halten sich ähnlich lange wie Toilettenpapier, und beides ist in jedem Lebensalter anwendbar, von daher muss es jetzt nicht zeitnah verzehrt werden wie zB Grillwürste.
Im Gummiboot lässt sich wesentlich besser, zur Krise passend, „auf Sicht fahren“ als bei der Gesäßreinigung, es sei denn, man bedient sich eines kostspieligen Sanitär-Periskops.
Ich denke bereits an das nächste Klopapier, an den bevorstehenden Herbst, in dem man durchaus mit hohen Infektionsraten rechnen darf, was dazu führen kann, dass ängstliche Naturen geschlossene Räume meiden werden. Heizpilze werden boomen, Eisangeln und Schneegrillen, Wintercamping wird das ganz große Ding. Die elektrisch beheizbare Daunenjacke für die Frierkatze wird Mainstream, mit integriertem Faceshield, in der Sonderedition „Solidarität“ ein lebensrettender Overall mit Helm auf der bewährten Basis des Apollo-Mondlandeprogramms.
Ein weiterer interessanter Trend ist, wenn man der Sonntagszeitung glauben darf, der im Coronäikum massenhafte Verlust von Hörgeräten. Ja, sie haben richtig gehört: Die modernen Mini-Hörgeräte sind so klein und zart, dass sie beim Abnehmen eines Mundschutzes allzu gerne unbeabsichtigt aus ihrer Verankerung gerissen werden. Gerade Schwerhörige sollten sich diesen Warnhinweis hinter die Ohren schreiben, und immer mehr komme zu der Einsicht, dass das permanente Tragen eines Mundschutzes nicht nur das Leben der Hörgeräteträger, sondern unser aller Leben vereinfachen könnte. Einmal aufsetzen, nie wieder abnehmen, vohrlà (Kandidat für den schlechtesten bilingualen Wortwitz der Dekade). Problem: Das Beispiel Spanien zeigt, dass auch eine strenge Maskenpflicht nicht davor schützt, zum Risikogebiet zu werden. Spahn lässt an Spanien kein gutes h - den konnte ich Ihnen nicht erspahn; tut mir leid, uiuiui, ich habe heut zu viel Sonne abbekommen, lange Stunden hinterm Deutschen Museum im knöcheltiefen Isarwasser Steinmandl aufgetürmt und mit Teresa Wege aus der Krise gesucht.
Meine Gattin ist mittlerweile so mürbe, dass sie vorschlägt, einen gesamteuropäischen Radikal-Lockdown durchzuführen: Alle Europäer werden mit Proviant und Campingtoilette (sic) zwei Wochen lang ans Bett gefesselt. Man kann ankreuzen, ob alleine, zu zweit oder mit Familie, oder aber man lässt sich einen Bettgenossen per Zufallsgenerator oder Partnervermittlung zuteilen. Tür zu, Zeit läuft. Die Maßnahme könnte als private-public partnership von der EU in Kooperation mit Tinder organisiert werden - die Wisch&Weg-Spezialisten wissen auch, wie man Daten so ablegt, dass sie nicht verloren gehen bzw händisch in irgendwelche Listen eingetragen werden müssen.
Mein Einwand: Wenn nur in der EU das Virus totgelegen wird, ist gar nichts erreicht. Ok, Russland muss nicht mitmachen, die sind ja dank Sputnik V aus’m Schneider. In Weißrussland wird entscheidend sein, wer wen zuerst fesselt, insofern ebenfalls ein Sonderfall, aber immerhin übersichtlich. In der Schweiz wird‘s vertrackt. Lage derzeit: Großveranstaltungen werden wieder erlaubt, just jetzt, da die Zahlen stark steigen. In einem solchen Land wird der Ruf „Ab ins Bett“ nicht nur ungehört verhallen, sondern das glatte Gegenteil bewirken, nämlich zwei Wochen Volkstanzmarathon bzw Gang Bang jeder gegen jeden. Und auch in der EU ist momentan Dissenz Trumpf: Österreich warnt vor Reisen nach Kroatien, Deutschland nicht, usw.
Kaputte Solisten allüberall. Zwei Wochen gefesselt im Bett fänd’ ich trotzdem spannend. Gute Nacht allerseits!