Kleiner Nachtrag zum Thema „Wiegetritt auf dem Klapprad": Welches war meine schwerste Krise? Da muss ich nicht lange nachdenken. Frühsommer 2015. Es war mal wieder nachts, etwa halb drei Uhr. Am späten Vormittag war ich in Bremerhaven gestartet, nachdem ich am Abend zuvor einen Auftritt in Helgoland absolviert hatte. Nun hielt ich Kurs auf Berlin. Ja, Berlin habe ich schon aus ganz unterschiedlichen Richtungen angesteuert - diesmal halt von Bremerhaven aus.
Vorhin hatte ich mich noch über ein ulkiges Strassenschild beömmelt, 200 km sind rum, ich bin Richtung Danneberg unterwegs, auf meinem Klapprad. Links blubbert die Elbe. Die Nacht ist trocken und mondlos. Leichte Hügel geht es rauf und runter, mein Körper ist warm, alle Systeme sind intakt.
Dass Wiegetritt auf dem Birdy gefährlich ist, weiss ich noch nicht, jedenfalls steige ich bergauf im größten Gang aus dem Sattel. Irgendwas eiert. Zunächst kaum merklich. Ich geniesse die Stille, keine Autos in Sicht. Umso auffälliger drängelt sich plötzlich ein ungewöhnliches Geräusch in meine Ohren. Ein feines Schleifen. Die Eier-Amplitude wird größer, das Schleifen lauter. Kein Haus, kein Licht weit und breit. Jetzt bemerke ich, wo das Schleifen herkommt: vom Vorderrad. Nanu! Testhalber bremse ich. Klappt einwandfrei. Seltsam, das Schleifen kann doch eigentlich nur von den Bremsen kommen? Der nächste Hügel. Rauf mit dem Speck! Das Eiern fühlt sich jetzt richtig eierig an. Keine Einbildung, nein, da ist ein Achter im Rad. Naja, kann man haben. Denke ich und unterdrücke meine Panik. Inzwischen schleift es richtig laut, und mein Tempo wird rapide gedrosselt, obwohl ich mit Macht in die Pedale trete. Ich schlucke trocken, steige ab. Vollkommene Stille umfängt mich. Nur mein pochendes Herz beschallt die Dunkelheit. Ich schiebe zwei Meter. Das Vorderrad blockiert, es schlurft über den Boden. Als hätte man Sekundenkleber auf die Achse gegossen. Ich richte meine Stirnlampe auf den Reifen. Der Mantel liegt, nein, er presst sich an die Gabel. Das ganze Rad ist verbogen, wie eine Vinylschallplatte, die zu lange in der Sonne gelegen hat. Und jetzt? Ich betaste die Speichen. Manche sind locker, hängen ohne Spannung apathisch herum. Ich versuche sie mit den Fingern zu drehen. Geht nicht; dafür bräuchte man ein Spezialwerkzeug, das ich nicht dabei habe. Das dollste an diesem Defekt: Das Rad lässt sich nicht einmal schieben. Ich kombiniere unwillig: Wenn man ein Rad nicht schieben kann, dann muss man es...tragen. Ja. Ruhig, Brauner. Panik bringt jetzt gar nichts. Immerhin hat mein Handy noch Strom. Es gibt ja Mobilitätsapps. Mal schauen...
Also, um kurz vor halb fünf geht ein Bus von einer Haltestelle, die nur vier km weit weg ist. Wohin der fährt, ist ja im Grunde egal. Ich will lediglich in die Zivilisation; weiterfahren geht eh nicht. Also schultere ich mein Birdy und stapfe auf der Landstraße Richtung Dannenberg. Klack Klack klicken meine Radschuhe auf dem Asphalt. Alle paar Minuten wechsele ich die Tragschulter. Nach einer Stunde stehe ich an der Haltestelle am Stadtrand von Dannenberg. Schonmal gut. Der Fahrplan stimmt mit meiner App überein. Läuft!
Jetzt eine Stunde verstreichen lassen. Ich setze mich ins Wartehäuschen und wickle sämtliche verfügbare Ersatzkleidung um meinen Körper, denn der friert mit leisem Zittern vor sich hin. Die Sitzposition ist leider zu unbequem zum Schlafen, und als mich die Müdigkeit zu übermannen droht, ist es schon viertel nach vier. Wenn ich jetzt einschlafe, verpasse ich noch den Bus! Ich vertrete mir die Beine, und als die ersehnte Abfahrtszeit naht, packe ich alle Sachen wieder sorgfältig in den Rucksack, klappe das Rad zusammen und trage es auf die andere Straßenseite, wo mein Retter halten müsste. Dort ist eine Schule, davor eine Rabatte mit kniehohen Sträuchern. In der Ferne nähert sich der Bus, pünktlich wie die Maurer, hurra. Ich bücke mich, um das Birdy anzuheben, mein Retter naht...ich imaginiere einen Ritter auf weissem Pferd, gleich darf ich aufsitzen...und...der Bus...fährt vorbei! Ich bin perplex, lasse das Birdy fallen, laufe auf die Strasse, blicke dem leeren Transportmittel hinterher. Der fährt mit hoher Geschwindigkeit stadteinwärts. Hat er mich übersehen? War ich hinter der Rabatte abgetaucht? In der Ferne erspähe ich einen Kreisverkehr. Ah, mache ich mir Mut, den nutzt er sicher zum Wenden, und dann kommt er wieder und lädt mich ein. Der Schelm, will mir wohl einen Streich spielen, haha!
Das Geräusch des Busses wird immer leiser. Und ist nicht mehr zu hören. Ich stehe immer noch auf der Strasse und blicke ihm hinterher. Stumm. Leer. Blass. So verharre ich minutenlang, dann schultere ich mein Klapprad und folge dem Bus. Bald erreiche ich den Kreisverkehr; der Bus ist weiterhin verschwunden. Nein, fauche ich, das kann nicht sein. Welch bodenlose Unverfrorenheit. Wenn ich den Fahrer in die Finger bekomme, dann...ich...ich komme aus Bremerhaven hierher, und jetzt...Tränen rollen meine Wangen hinab. Nein, weinen ist übertrieben, massregele ich mich. Erstmal Kaffee. Dahinten ist eine Tankstelle geöffnet. Kochend vor Wut falle ich mit der Tankstellentür ins Haus und frage die Kassiererin, einen Tick zu laut: „Wissen Sie, wer den Bus fährt? Der Halunke hat mich sitzen lassen! Wo kann ich mich beschweren?" Die junge Frau ist unsicher, was sie antworten soll. Nein, den Fahrer kenne sie nicht. Auch wisse sie nicht, wo ich mich beschweren könne. Beim Busunternehmen halt. Aber sie könne mir einen Kaffee anbieten. Den trinke ich, und dabei recherchiere ich, dass ein Zug von Dannenberg nach Lüneburg fährt, um 12 nach 7. Nun liegt Lüneburg nicht gerade auf dem Weg nach Berlin. Ganz im Gegenteil. Aber das ist völlig egal. Hauptsache weg. Und so trage ich mein Rad zum Bahnhof, der gar nicht soo weit entfernt ist, warte dort noch ein Weilchen, und dann ist der Ärger auch schon fast wieder verraucht. Nicht zuletzt, weil es am Dannenberger Bahnhof so eine enorm einladende Gastronomie gibt (die um diese frühe Uhrzeit leider noch nicht geöffnet hatte):
Was ich gerne hätte: Ein Erinnerungsfoto meines Gesichts, wie ich auf der Strasse stehe und dem Bus hinterher blicke.
Was ich inzwischen immer dabei habe: Einen Nippelspanner. So heisst das kleine Werkzeug, mit dem man Speichen wieder in die Felge einschrauben kann. Ein Mechaniker hat mir mittlerweile erläutert, wie‘s überhaupt zum Defekt kam: Je kleiner die Räder, desto grösser die Kräfte, die beim Wiegetritt auf die Speichen einwirken. Also auf 20-Zoll-Rädern immer schön im Sattel bleiben.
Geweint hatte ich beim Radeln schon mal, und zwar 2005 beim 24-Stunden-Mountainbike-Rennen im Münchener Olympiapark. An diesem tollen Wettrennen habe ich viermal teilgenommen: Zweimal als Einzelstarter, einmal im Zweierteam mit Uschi Disl und einmal als Kommentator (das war am anstrengendsten).
Als Einzelstarter wiederum war ich einmal mit Betreuern dabei, als Mitglied eines Teams, einmal ohne. Ganz alleine, ohne Auswein-Schulter.
Mitten in der Nacht war damals mein Schuh kaputt gegangen. Ein Cleat, dieser Verbindungshaken, mit dem man mit der Pedale verbunden ist und an dieser ziehen kann, hatte sich gelöst und war futschikato. Heul. Ich löste das Problem dann auf peinliche Weise: Ich schaute mich im Fahrerlager in der Olympiahalle um, und als gerade keiner guckte, montierte ich vom Schuh eines Wettbewerbers ein Ersatzteil ab. Ja, ich hab‘s geklaut. Und bin nicht stolz drauf. Aber immerhin konnte ich weiterfahren und musste nicht mehr weinen. Blöd, wenn man keinen Betreuer mitbringt, an den man das Problem delegieren kann.
Das Bild ganz oben zeigt mich übrigens nicht auf dem Birdy, sondern auf‘m Rennrad. Mein Freund Stefan hat es geschossen, ebenfalls 2005, auf der geinsamen Fahrt von Köln nach Paris. Damals hatten wir keine so enormen Probleme, ausser, dass wir vom Navi ab und zu auf die Autobahn geleitet wurden und uns dann wunderten, wie breit der Radweg plötzlich war. Merke: Zu zweit weint es sich nicht so leicht. Und angekommen sind wir auch: