Freitag, 17. April 2020

Corona: Vom Hammer zum Tanz.

25.3.
Wenn man im Park trimmtrabt, begegnet man zwei Gruppen: die eine sucht auf den Wegen die weitestmögliche Distanz, geht gebückt und hastig, die Blicke sind ernst, wenn nicht gar hinter Mundschutz verborgen. Die andere Gruppe grüßt verschwörerisch, und mir war, als sei mir mehr als einmal zugezwinkert worden. 
Gravitätisch rollen Polizeiautos über die Wege, sie ähneln den Schwänen auf dem Nymphenburger Kanal. Unfreiwillig komisch wirken hingegen jene roten Kleinbusse, die durch Münchens Straßen rollen und mit „harten Strafen“ denen drohen, die sich nicht an die Ausgangsbeschränkungen halten. Die Stimme ist eins zu eins aus „Fahrenheit 451“, dem Truffaut-Film. 
Fast hätte ich gestern gesündigt und wäre zum Beten in die Kirche gegangen. Theo schlief, und er ist eh noch zu klein, um mich zu verpetzen...

26.3.
Für Einbrecher brechen harte Zeiten an. Nur besonders kernige Spitzbuben trauen sich derzeit in fremder Leute Wohnungen, zum einen, weil diese in der Regel bevölkert sind, zum anderen, weil die Insassen, Verzeihung, die Bewohner ja positiv sein könnten und dann an jeder Schmuckschatulle, an jedem Tresorknauf die fiesen Viren kleben. Immerhin dürfen Einbrecher auch weiterhin mit dem Auto auf die Straße, denn Mobilität ist in diesem Gewerbe unverzichtbar. Theoretisch, denn praktisch sind die meisten Einbrecher klassische Freiberufler und mit Kurzarbeit kaum zu retten. Bleibt nur das „Helikoptergeld“, 5000€ Soforthilfe aus der Gießkanne. 
Ich überlege weiterhin, wie ich mir unsere Lage schönreden kann. Derzeitiger Favorit: die Annahme, dass wir nach langer Zeit die ersten Europäer sind, die durch eine Seuche großen Stils ihren Wohlstand ruinieren. Corona komplettiert gleichsam unsere Bildung; wir können besser nachfühlen, was die Bibel meint, wenn sie neben Erdbeben, Meerwasser (?), Dürre und Heuschrecken eben von Seuchen als einer Geißel der Menschheit spricht. 
Nachrichten aus Neuseeland. Erstmal: Faszinierend, dass unsere dortigen Freunde vor exakt den gleichen Herausforderungen stehen wie wir. Vier Wochen Ausgangsbeschränkung, ähnlich wie in Bayern, wobei Mountainbiken verboten ist. Unsere Freunde sind neuerdings arbeitslos, aber das Ausfüllen des Nothilfeformulars dauerte kaum zwei Minuten und am nächsten Tag war eine Zuwendung von 7000 neuseeländischen Dollar pro Nase auf dem Konto, wobei ein Dollar momentan 0,54 € wert ist. Wie lange man mit diesem Geld auskommen muss, konnten unsere Freunde auch nicht sagen - aber wer kann sowas schon in diesen Tagen? Niemand.
Was ich bereits heute nicht mehr hören kann: die Grußformel „Bleiben Sie gesund!“ Ich persönlich habe schon umgesattelt auf „Schönen Urlaub!“. Wobei ich mir unter echten Corona-Ferien etwas völlig anderes vorstellte. Hatte an ein Leben im Schlafanzug gedacht, mit offener Mähne und Däumchendreh imGummihandschuh, aber alle Nase lang ruft jemand an und fragt, ob ich an einer dieser TV-Shows mitwirken möchte, in denen ungepuderte Promis in ihre Webcams stieren und sich gegenseitig ins Wort fallen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sage ich natürlich alles ab, vor allem, weil ich gar kein brauchbares WLAN im Haus habe. Lieber preise ich mich für den übernächsten Schritt an, der sicher in einigen Wochen im TV Furore macht: Heimlich rausgehen, völlig grundlos, aber mit echter Kamera, und womöglich auf echte Menschen treffen, mit angedeutetem Handshake (Spannungsmusik). Morgen allerdings bin ich in der Comedy Konferenz bei SAT1 dabei, mit Hugo. Man hat in einem Studio in Unterföhring mein Wohnzimmer nachgebaut, auch ohne WLAN, aber mit echter Kamera. Ich habe mir vorgenommen, mich volkspädagogisch nützlich zu machen, indem ich verzweifelten Eltern ein paar simple Experimente zur Beschäftigung ihrer Rabauken an die Hand gebe. Hugo hat sich vorgenommen, das Wort „Corona“ nicht ein einziges Mal fallen zu lassen. Ein hehrer, aber übermenschlich erscheinender Vorsatz. Morgen, 20:15, SAT1.

27.3.
Wir werden alle Erntehelfer. Kellner, Komiker und leichte Mädchen stechen den Spargel, in Highheels, und zwar nicht unbedingt, weil die wirtschaftliche Not sie zwingt, sondern weil man auf diese Weise mal raus kommt, ins Grüne, weite Blicke bis zum Horizont genießen kann, mit der begehrten PlatinCard des Gewerbeaufsichtsamtes. 
Was ich auch für denkbar halte: Ein neues Zeitalter der Kleinstaaterei bricht an. Die Reichsbürger wünschen sich das Deutschland von 1937? Pustekuchen! Bayern macht seine eigenen Regeln; 1937 hätte ein Markus Söder gewiss kein eigenes Infektionsschutzgesetz verabschieden dürfen. Ich denke eher an 1815, Graf Montgelas und den Kini. 
In Hessen wiederum darf man nur noch ganz alleine spazierengehen, à la „Erbarmen, der Hesse kommt!“ 
Wie ich gestern hörte, sind in Köln alle Hotels zu, während es in Düsseldorf noch Zimmer gibt. Deutschland, ein Flickenteppich: Jetzt ist sie da, die Chance für uns Oldenburger, das unausgegorene niedersächsische Experiment endlich zu beenden. Wir wiederbeleben den Großherzog und setzen ihm die Korone auf. 
Puh, immer diese unfreiwilligen Geschmacklosigkeiten. Gestern in der SAT1-Comedy-Konferenz ging es ja u.a. darum, Hits von den Lippen abzulesen. Ein Hit war „Atemlos durch die Nacht“, nun ja. Man muss aufpassen wie ein Haftlmacher! 
Ich freue mich schon auf die Zeit, in der man Trash-Klamotten über unsere Ära drehen kann. Eingangsszenario: Chinesische Generäle sitzen im Brainstorming und überlegen, wie sie die Panne im Wuhaner Biowaffenlabor vertuschen können. In die konzentrierte Stille hinein sagt einer: „Ich hab‘s! Wir sagen, der Virus kommt vom Wochenmarkt!“ Schweigen. General zwei: „Aber das ist doch völlig unglaubwürdig! Wer sowas behauptet, wird für einen Aluhutträger gehalten werden!“ Der Magen des Obergenerals knurrt. „Wir brauchen eine Lösung und gleich ist Mittag. Gibt’s weitere Vorschläge? Und was gibt’s heute eigentlich in der Kantine?“ General drei: „Fledermausragout“. Der Obergeneral erhebt sich. „Gut. Die Fledermäuse haben Schuld, die von Flugsäuger Schmidt am Wochenmarkt. Bitte Bericht anfertigen und mir vorlegen. Mahlzeit allerseits!“
Nach der SAT1 „Comedy Konferenz“ (gute Ansätze, aber etwas kurz) schwinge ich mich in der Geisterstunde aufs Rad und fahre durchs mucksmäuschenstille München. Zwei Omnibussen begegne ich, ferner meine ich auf der Leopoldstraße ein Taxi zu erahnen. Sonst nichts, kein Mensch, kein Auto, auf 15 km Wegstrecke. Ich muss gestehen, dass ich dieses Dornröschenhafte genieße. Das erste Mal, dass ich eine Stadt so leise erlebe seit der Ölkrise 1973, als ich auf dem Oberrohr des väterlichen Hollandrades über die Oldenburger Umgehungsstraße kutschiert wurde, auch bei Dunkelheit - ein Moment, der sich tief eingeprägt hat. 47 Jahre musste ich auf die Neuauflage warten. Um zwei im Bett, melancholisch und beglückt.

28.3.
„Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben“ (schrieb Rilke). Anbandeln wird immer schwerer. Erst war „Me Too“, jetzt Corona (sagt meine Frau). Aus der „Armlänge Abstand“ sind nunmehr zwei Armlängen geworden. Gut, dass die Äußerung von meiner Gattin kommt und nicht von mir, denn als Mann muss man mit derlei vorsichtig sein. Sonst droht social distancing (Kackwort). Gestern wurde ich bei Facebook bereits für die „Geistige Scheiße“ gerügt, die ich im Zusammenhang mit Covid 19 absondern würde, wohl, weil ich alles in einen Topf würfe. Kack, Scheiß, Topf - auch sprachlich lässt sich unsere kollektive Analpsychose in diesen Tagen gut erkennen, die Klopapier zur weichen Ersatzwährung der Deutschen hat werden lassen. Wegen weniger Rollen hat es schon Prügeleien gegeben, und eine Frau wurde in Handschellen vom Kassenband getragen, weil sie nur eine Großpackung mit nach Hause nehmen durfte und daraufhin randalierte. Ich kann dieses Hakle-Horten nicht verstehen: Wozu Klopapier, wenn man sich doch eh nicht mehr die Hand gibt? 
Gestern im Hirschgarten. Tolles Wetter, viel Betrieb. Ein halbes Dutzend grüne Minnas, zudem zwei Polizeipferde sorgen für Abstand. Beliebter Zeitvertreib: Andere Kleingruppen beobachten und darüber spekulieren, ob tatsächlich alle zu einem Hausstand gehören. Ist binnen Tagen zu so einer Art Volkssport geworden. Eine Frau blökt in ihr Handy, die Familie nebenan sei ja wohl kaum blutsverwandt, höchstens Patchwork. In ihrem Blick liegen Sorge und Tadel. Warum denn die Polizei da nicht einschreite? Sowas will doch wenigstens überprüft werden! 
Theo möchte die Hirsche im Gehege füttern, wir haben aber nichts dabei. Eine fremde Frau überlässt ihm ein paar Karotten. Um Ansteckung zu vermeiden, gibt sie ihm die Möhren aber nicht in die Hand, sondern legt sie auf den Boden und weicht rückwärts zurück - so wie man früher nach der Audienz beim König den Thronsaal verließ. Bin gespannt, ob wir jemals zurückfinden zur naiven Knuddelei. Womöglich werden wir dereinst den jungen Leuten erzählen, dass es da mal eine Zeit gab, in der man sich umarmte und küsste. „Küssen?“ - „Das ist, wenn sich die Lippen berühren“ - „Ohne Mundschutz?“ - „Ja!“ Ungläubige Kinderaugen.

29.3.
Am Zeitungsstand (systemrelevant, uff). Einmal „Die Welt“ bitte. Während der Verkäufer mein Exemplar aus einem Blattstapel fischt, nuschelt er „Die Welt am Abgrund“, und ich muss lachen. „Ist doch wahr“, sagt er, „ das sollten die zu ihrer Unterzeile machen, wo sonst „unabhängig und überparteilich“ steht. Gute Idee. 
Wir sind Stammkunden in einem Münchener Café („Ooh baby I like it raw“), das neuerdings Lieferservice anbietet, allerdings nur innerhalb des mittleren Ringes, und wir wohnen außerhalb. Also rauf aufs Klapprad-Tandem, mit Kinderanhänger zu viert ins Gärtnerplatzviertel. Am Eingang kommen wir mit dem Kurierfahrer ins Gespräch (shame on us), der eigentlich als Übersetzer für die Polizei arbeitet, aber derzeit arbeitslos ist, mangels Kriminalität. Ja, das ist sein Ernst; eine der stillen Sensationen am Wegesrand des Weltenlaufs. Nun hat die Polizei in diesen Tagen auch wahrlich besseres zu tun als Langfinger dingfest zu machen, nämlich die Einhaltung der Ausgangsbeschränkungen durchzusetzen. Mit den erworbenen Sandwiches suchen wir nach einem Ort für den Verzehr (im Café natürlich verboten, davor ebenso). Am Gärtnerplatz wird eine der Parkbänke frei, und wir lassen uns nieder. Die Polizeistreife geht umher und fordert die Menschen auf, sich zu zerstreuen, und mit einem Ohr schnappen wir auf, dass „Picknick nicht erlaubt“ sei. Geistesgegenwärtig holt meine Frau ihren Busen aus der Bluse und stillt Mathilda, woraufhin uns die Polizei gewähren lässt - wohl, weil Stillen auf dem fahrenden Rad weit weniger akzeptabel wäre. Andererseits: Ist denn Stillen an der frischen Luft etwas anderes als ein „Picknick“, wenigstens im juristischen Sinn?
Weniger Glück haben wir kurz darauf im Englischen Garten. Ich tolle mit Theo auf einer Grünfläche. Die nächsten Personen sind fünfzig Meter entfernt, sonnenbadende Amerikaner mit nacktem Oberkörper. In einem Moment der Unkonzentriertheit entschließe ich mich zu einem kleinen Nickerchen, kuschle mich an mein Söhnchen und schließe die Augen. Prompt nähert sich ein Mannschaftswagen der Polizei und scheucht uns per überlauter Lautsprecherdurchsage auf. Nur Sport und Spaziergänge seien erlaubt; sich auf den Grünflächen niederlassen sei ein nicht statthafter Versuch, die Ausgangsbeschränkungen zu unterlaufen. In mir ringt die Scham des Ertappten mit dem Unmut des passionierten Mittagsschläfers, der sich um seinen Tageshöhepunkt betrogen fühlt. Also ab nach Hause.
„Home Office“ klappt bei mir gar nicht. In unserem kleinen, nun aber immens wertvollen Garten habe ich mein Zelt aufgebaut, ja, jenen Walmagen, in dem ich einst zweihundert Nächte kampierte, in der Hoffnung, hier ab und an zu produktiver Tätigkeit zu finden. Inzwischen jedoch ist es zur Außenstelle einer Bibliothek geworden, gefüllt mit Suchwimmelbüchern und Titeln wie „Mathilda Huhn“, „Biene Bibi“ und „Henriette Bimmelbahn“, und sobald ich mich Richtung Zelt bewege, folgt mir Theo mit einem weiteren Buch und besteht darauf, dass ich ihm vorlese. Nur gut, dass mein Kalender derzeit leer ist wie die Straßenbahnen, die geisterhaft durch unser Viertel fahren - mein Berufsleben hat Pause. Diesen Text schreibe ich im Wohnzimmer, am Morgen, während die Kinder ausschlafen. Höre gerade: Theo ist wach. Muss schließen. Schönen Tag allerseits!

30.3.
Ob es einen Bewohner dieser Stadt gibt, der noch nichts von diesem Conora, äh, Corolla-Gedöns gehört hat?
Auf den Grünstreifen am Romanplatz lagen vor einem gefühlten Jahrzehnt gebrauchte Kondome und Taschentücher, heute sind sie ersetzt durch einzelne blaue und schwarze Gummihandschuhe sowie ausrangierte Mundschutze. Ich betrachte den Krisenmüll und überlege, ob ich mir nicht einen eigenen, schicken Mundschutz nähen sollte. Irgendetwas originelles, glamouröses, vielleicht mit Pailletten. Oder aus einem alten Netzhemd. Habe doch gerade gelesen, dass Mundschutz auch kontraproduktiv sein kann, indem er nämlich ein trügerisches Sicherheitsgefühl vermittelt und zur Unvorsicht verleitet. Dann vielleicht gleich aus Netz, ohne Funktion, aber immerhin mit Punk. 
Ich weiß noch, wie amüsiert meine Frau und ich uns vor einigen Wochen anschauten, als in einer Talkshow ein Epidemiologe auf die Frage der Moderatorin, wie man die neuen Viren bekämpfen könnte, antwortete: „Am besten, wir schließen zwei Wochen lang Schulen, Läden, das ganze öffentliche Leben...“ Neben dem Wissenschaftler saß Karl-Josef Laumann, der Gesundheitsminister von NRW, und zog die Stirn in Falten. Und wir meinten zu erahnen, was er dachte, nämlich: Mutiger Vorschlag, aber komplett undurchführbar. Crazy shit. Mag ein fähiger Wissenschaftler sein, aber vom wahren Leben hat er keine Ahnung, köstlich. Hoffentlich lachen sie ihn daheim nicht aus. Und heute?
Telefonat mit einer befreundeten Ärztin, die seit kurzem Leiterin einer Corona-Station ist. Die Röntgenbilder der schweren Fälle sähen schlimm aus, und es gäbe Fälle in allen Altersklassen. Allerdings habe man noch Kapazitäten, und wenn die Ausgangsbeschränkungen wirkten wie erhofft, würde es mit Glück Intensivplätze für alle geben. Warum es in Italien nur wenig Rückgang bei den Neuinfizierten gäbe? Weil sich die Leute nicht an die Vorschriften halten würden. Und was sie von der Diskussion um die „Exit-Strategie“ hält? Sie könne sich vorstellen, dass in einer Übergangszeit die Risikogruppen daheim blieben, die Läden und Restaurants öffneten, aber alle Mundschutz trügen, konsequent. Hm, denke ich, Mundschutze aus alten Netzhemden wird sie da kaum im Auge haben, und ich rüge mich innerlich für meine Burschikosität. Und dann male ich mir ein 5-Sterne-Lokal aus, und die livrierten Kellner tragen kleine Frackschöße im Gesicht. Und maskierte Prostituierte, womit wir doch wieder beim Netzgewebe wären.
Den abendlichen Tatort überspringen wir und schauen uns ohne Vorfilm einen Horrorschocker namens „Anne Will“ an. Großartig besetzt und gruselige Dialoge. Plot: Was ist besser, so schnell wie möglich das öffentliche Leben wieder zulassen und ein Wiederaufflammen in Kauf nehmen oder langer Shutdown? Erkenntnis: Ein langer Shutdown schützt nicht vorm Wiederaufflammen. Ob denn die Wirtschaft überhaupt noch zu retten sei? Gute Frage. Eine Woche kostet Deutschland ungefähr einen kompletten Verteidigungshaushalt. Erträglich wird der Reißer, ganz wie im wahren Leben, durch das, was man in Hollywood den „Comic Relief“ nennt. Peter Altmeier: „Wir muten den Leuten viel zu, und sie halten sich daran. Das ist eine großartige Erfahrung“. Fragt sich nur, für wen...

31.3.
Meine Frau war beim Apotheker, der versucht, sich mit Gold und Silber zu schützen. „Bitte wie? Wovor soll das schützen? Vor Wertverlust? Er kauft also Gold und Silber?“ - „Nein, er nimmt‘s oral. Sogenannte Kolloide oder so ähnlich“. Meine Stirn wirft Falten. „Das hilft? Was ist denn das für‘n Apotheker?“ - „Ein ganzheitlicher. Sagt er. Und dann hat er mir noch Thermalwasser empfohlen. Wirkt angeblich besser gegen Viren als ein Mundschutz“. Mit bedeutungsschwangerem Blick überreicht sie mir eine kleine Spraydose mit französischem Thermalwasser, das man sich, so der ganzheitliche Apotheker, zum Schutz vor Ansteckung einfach ins Gesicht sprüht. Fasziniert probiere ich‘s sogleich aus. Schmeckt salzig. Kombiniere: Bei Corana handelt sich um sehr salzophobe Süßwasser-Viren, und der innerlich vergoldete Apotheker ist ein Genie - oder eben nicht. 
Unweit der Apotheke befindet sich unser Lieblingsbuchladen, der nunmehr nach Hause liefert. Problem: Titel, die auch nur entfernt mit Seuchen zu tun haben, sind derzeit nur schwer lieferbar, offenbar ähnlich begehrt wie Schutzausrüstung und Backhefe. Und so bestellen wir vor allem Bücher, die uns momentan nicht die Bohne interessieren, für später. Unsere Lieblingseisdiele können wir leider nicht mehr unterstützen; sie wurde behördlich geschlossen, nachdem Kunden ihr Eis vor dem Geschäft verzehrt haben sollen, wogegen der Eisdealer vehementer hätte vorgehen müssen. Puh, auch für ihn werde ich beten, in meiner neuen Gartenkapelle. Habe nämlich im Zelt einen kleinen Reisealtar vom Flohmarkt installiert, ein aufklappbares, ziemlich ramponiertes Kleinod, ausgeschlagen mit rotem Samt. Dass meine Gebete dem Erhalt der Eisdiele helfen, kann ich zwar nicht garantieren, aber wirkungsloser als der Einsatz von Thermalwasser werden sie kaum sein. 
Zu Besuch bei meiner Schwägerin Vroni. Sie wohnt im vierten Stock in Schwabing. Wir fahren mit unserem Klapptandem nebst Kinderanhänger vor und rufen an. Sie erscheint auf ihrem kleinen Balkon und wir rufen uns „Wie geht’s?“ und „Muss ja!“ zu. In meiner Kindheit gab‘s bei Radio Bremen eine Sendung, die hieß „Schnack übern Gartenzaun“ - daran muss ich denken. Könnte man jetzt schon mal wieder neu konzipieren: Talk auf Distanz. Übern großen Teich, hinter der Mauer, durch Geschossdecken hindurch. 
Mama am Telefon: „So neu ist die Situation für mich nicht. Früher gab‘s ja TB“. Tuberkulose, ach ja. Hat unsereiner schon fast vergessen, dabei gibt es noch heute weltweit eineinhalb Millionen Tote pro Jahr. Und dann erzählt sie mir von einem Kindergeburtstag, den ich besuchte, und der Lebensgefährte der Mutter des kleinen Jubilars hatte „offene“ (also ansteckende) TB, woraufhin alle Festgäste, auch ich, zum Röntgen der Lunge ins Krankenhaus mussten. Ich kann mich an nichts erinnern, aber vielleicht ist Corona weniger ein „Einschnitt“ als eine „Rückkehr zur Normalität“ - Seuchen gehören zu unserem Dasein einfach dazu, so wie Schneeregen, Silberfische und der Sensenmann. Wir hatten‘s nur zwischenzeitlich vergessen.

1.4.
Aua, aua. Meine Frau hat Zahnschmerzen, und eine Wurzelbehandlung ist fällig. Problem: Der Zahnarzt hat nur noch begrenzte Mundschutz-Reserven, und sobald diese aufgebraucht sind, muss die Behandlung (vier Termine) abgebrochen werden. Dabei ist er einer der wenigen Dentisten, die in unserer Gegend überhaupt noch aktiv sind. 
Mundschutz ist seit heute in österreichischen Supermärkten Pflicht. Vielleicht ist dies auch ein guter Zeitpunkt, um das Burka-Verbot aufzuheben, denn eine Burka ist epidemiologisch nicht zu verachten. Gibt es eigentlich seriöse Studien über Tröpfcheninfektion in Afghanistan? Wenn ich Christian Drosten richtig zugehört habe, müsste schon ein simpler Schnupfen in Kabul eine Rarität sein, sofern die Hände regelmäßig gewaschen werden. Eine Burka hat als Schutzkleidung den zusätzlichen Vorteil, dass ihr Tragen das Zum-Gesicht-Führen der Hände deutlich erschwert. Wer weiß; vielleicht kommt eines fernen Tages sogar die Burka-Pflicht für alle, also zB nächste Woche - nie veränderte sich das öffentliche Bewusstsein schneller als derzeit. Das gilt natürlich auch fürs Handy-Tracking, auf das ich persönlich mich lieber einlassen würde als auf eine totale Ausgangssperre wie etwa in China. 
Gerade versicherte der Gesundheitsminister, die Verwendung der Tracking-App beruhe bei uns auf Freiwilligkeit. Und wenn schon; käme ein Handyzwang, würde sich für mich persönlich wenig ändern; ich habe mein Handy eh immer zwanghaft dabei, muss ja die News checken - im Gegensatz zum Händewaschen, an dessen Zwanghaftigkeit ich noch arbeite. Eine Zeitlang meinte ich, mich mit Handschuhen vor Viren schützen zu können, nicht zuletzt, weil man dann besser erkennt, wenn man sich unbewusst im Gesicht herumfuhrwerkt. In der Praxis jedoch ärgerte ich mich darüber, dass man in Fäustlingen so schlecht popeln kann - und zog sie bald wieder aus. Jetzt wasche ich zwar mindestens die geforderten fünf Mal täglich, aber selten volle 30 Sekunden lang. Nach spätestens 20 Sekunden fragt eine innere Stimme, warum ich mir denn so oft die Hände wasche, wenn ich doch eh den ganzen Tag zuhause verbringe, wo ich mich ja kaum anstecken könne. Noch arbeite ich an einer plausiblen Antwort auf diese Frage.
Meine Frau ist strikt gegen das Handytracking, egal ob freiwillig oder nicht, sie ist aber auch gegen Hausarrest und will möglichst sofort in den Urlaub fliegen, woraufhin mir ein unbedachtes „Wir müssen jetzt die Zähne zusammenbeißen“ herausrutschte. Aua, aua. Wird schon.

2.4.
Ich mag das Wort „Corona“ nicht mehr hören, nicht in den Mund nehmen, ich mochte „Corona“ noch nie. Schon wie dieser Strolch rumläuft, mit seinen kantigen roten Warzen. Welche Designer-Null hat sich diesen Quatsch ausgedacht? Ähnelt einem billigen Massageball von der Resterampe, einem dieser leicht klebrigen Gummiteile mit stechenden Ausdünstungen. Ja, mit diesem Virus kann man keinen Blumentopf gewinnen, jedenfalls, was die Optik angeht. 
Im Innern sieht’s nicht besser aus. Das Ding taugt nicht. Keine hochwertigen Rohstoffe, nur stinknormale Ribonukleinsäure und handelsübliches Eiweiß. Auch geschmacklich gewiss kein Meisterwerk, schmeckt nach Arsch und Friedrich. 
Über die Geistesleistungen dieses Emporkömmlings unter den Ärgernissen müssen wir gar nicht diskutieren: Jedes halbe Hähnchen hat mehr Grips als Co...nein, ich spreche den Namen nicht aus. 
Vom Umgang mit populistischen Parteien sollten wir gelernt haben: Indem man sie und ihr Wirken überhaupt zum Thema macht, ihren Namen nennt, schenkt man ihnen wertvolle Publicity, man macht sie erst groß. Schluss damit! Schweigt die Dinger einfach tot! Da sollten gerade die Öffentlich-Rechtlichen mal in sich gehen. Ja, es stimmt, dass das Virus selbst in den Talkshows kaum zu Wort kommt, aber all die Animationen, Hochglanzfilmchen, Virologen. Das hätte ich auch gern, dass ich nicht in die Talkshow gehe und stattdessen ein Boningologe mich erklärt. Diese Wissenschaftler-Nummer macht den Corolla-Halunken doch nur noch wichtiger! Dann interviewt lieber gleich das Virus, ich wette, der Wichtigtuer kriegt das Maul nicht auf. Hat nicht eine funktionierende Lösung für die wahren Probleme in petto. Und Probleme gibt‘s nun wirklich zuhauf. Jetzt Rettungsschirm für Galeria Kaufhof. In meiner geliebten „Karstadt-Raucherecke“ haben Olli Dittrich und ich wichtige Doofen-Titel geschrieben, und ein Deutschland ohne Galeria Kaufhof mag ich mir nicht vorstellen. 
Ich wette, Corolla kennt noch nicht einmal die Grundzüge des Insolvenzrechtes. Ist völlig inkompetent, ja gefährlich - da muss ich noch nichtmal die berühmte Nazi-Keule bemühen, um dies festzustellen. Ihr Fernsehgewaltigen, nehmt um Himmels Willen diesen Corolla aus dem Programm! Danke schön.

3.4.
Die Arbeit ruft. Seit Tagen, lauter und lauter. Sie ist schon ganz heiser. Viele Stunden saß ich in den letzten Wochen mit Theo in der Sandkiste, schippte Sand in einen großen Eimer, von dort auf die Schaufel eines kleinen Plastikbaggers und wieder zurück in den Eimer, imposante 150l/h, aber es gelang mir nicht, die Stimme unterm Spielsand zu begraben, die da krächzte: „Da ist noch ein Artikel, den Du schreiben wolltest, für das Radmagazin „Fahrstil“!“ Ich bin seit drei Tagen überfällig, was mein Gewissen peinigt, und die Tatsache, dass Theo es nicht gerne sieht, wenn ich ungefragt die Sandkiste verlasse, taugt als Ausrede nur bedingt. Also reiße ich mich schlussendlich zusammen, drücke meiner Frau die Schaufel in die Hand und verstecke mich im neuen Home Office, also hinter zugezogenen Gardinen auf dem Balkon, wo ich den Artikel ins Handy tippe. Wie eigentümlich, sich gedanklich mit einem Text zu beschäftigen, der harmlose Fahrradtouren behandelt. Naja, man könnte auch Artikel über Fernreisen schreiben müssen oder Bussibussi oder eine Theaterkritik, das wäre noch unpassender derzeit. 
Nach der Fertigstellung schiebe ich Theo auf seinem Bobbycar eine Runde spazieren. Normalerweise wäre dies viel zu gefährlich, wegen des vielen Verkehrs, aber derzeit geht’s. Das gehört zu den Vorteilen dieser Tage, so wie die saubere Luft, das irisierende Licht, die angenehme Ruhe, das besonders frische Grün. Der ansonsten von mir geschätzte Chefredakteur der Welt, Ulf Poschardt, twitterte hierzu: „die umweltfreunde, die sich angesichts tausender toter, intubierter und sterbender über das aktuelle aufatmen der natur freuen, sind zumindest ehrlich“, und ich antworte: „Weiß ich nicht. Ich liege morgens im Bett und stelle fest, dass die Vögel lauter zwitschern. Ist es unmoralisch, sich hieran zu erfreuen? I wo.“ Ein weiterer Quell der guten Laune: Hemmungsloser, entfesselter Knoblauchkonsum. Aglio e Olio ist unser neuer Spitzname, und der Weg zurück in die Gesellschaft wird uns schwerfallen - wenn er denn überhaupt je kommt.
Erste Überlegungen bezüglich Haarschnitt. Abrasieren? Verlottern lassen? Ich favorisiere einen klassischen Topfschnitt. Heute besorge ich Schere und Haarschneidemaschine (sofern noch erhältlich), Töpfe sind vorhanden, und dann darf Teresa sich an mir austoben. Schnippschnapp!

4.4.
Ich nehme zu. Der Mundschutz lässt im Supermarkt meine Brillengläser beschlagen, und dann sehe und nehme ich es nicht mehr so genau, was an der Kasse im Wagen liegt. Kennt Ihr diese extragroßen Tafeln Schokolade, fast wie kleine Bügelbretter? Keine Ahnung, wer mir die untergeschoben hat. Könnte dieser Astronaut am Eingang gewesen sein, der Einweiser mit dem Integralvisier. Oder die Mascarponecreme und die Weichgummis, wo kommen die her? Übergesprungen, so wie die Viren auf den Menschen? Beim Verzehr lautet mein Motto: Wenn schon Ausgangsbeschränkungen, dann wenigstens keine Eingangsbeschränkungen, und: happs. Sollte die Krise länger dauern, passe ich bald nicht mehr durch die Wohnungstür, so dass die Polizei sich um mich schon mal nicht mehr kümmern muss. I (Bäuerchen) stay at home. 
Da steckt doch ein Plan dahinter! Cui Bono? Der Einzelhandel könnte die Sache eingetütet haben, angeführt von den internationalen Papierherstellern, die die Weltherrschaft an sich reißen wollen, entlang der Perforationsstanzungen ihrer vierlagigen Toilettprodukte. Womöglich stecken sie unter einer Decke mit der Discounter-Mafia unter der Ägide von Mas Capone (bitte nicht weitersagen). Andere Kenner der Szene behaupten allerdings, der Plan habe die Abschaffung des Bargeldes zum Ziel, was der Papierindustrie weniger helfen würde, und die Wortkargen unter den Welterklärern belassen es bei schlanken zwei Silben: „Fünf“ und „G“.
Ortstermin beim dm am Rotkreuzplatz: Zwischen den Kassenspalieren hängen neuerdings blickdichte Folien von der Decke, welche die Spuckschutzverglasungen ergänzen. Haarschneidescheren sind aus - das hatte ich mir fast gedacht. Stattdessen landen Nougat-Eier, Hustenbonbons (präventiv) und Studentenfutter im Wagen. 
Weiter zum Kaufhof nebenan. Der hat zwar eigentlich zu, aber die Lebensmittelabteilung im Untergeschoss ist geöffnet, und um dorthin zu gelangen, durchquert man Schuhe und Parfüm. Es brennt nur eine Notbeleuchtung, und alle Regale sind unter Folien verschwunden. Assoziation: Tarnnetze und Verdunkelung. Man denkt unwillkürlich an Kriegswirtschaft, wobei mein 96-jähriger Onkel W. (Lungensteckschuss in Sewastopol) gestern die Krise etwas rustikal kommentierte : „Da war’s ja im Krieg noch besser - da hatten wenigstens die Kneipen auf!“
Zuhause zaubert meine Gattin einen neuen Smoothie, der neben Banane und Chia-Samen ein Viertelpfund Erdnussmus enthält, einen sogenannten Musi. Meine, unsere Versorgung mit vollwertigen Leerkalorien, so viel ist sicher, hat mit echter Kriegs- und Mangelwirtschaft derzeit nichts zu tun (blubb).

5.4.
Jetzt ist Zeit, nicht nur in der Wohnung, sondern auch im Grundgesetz aufzuräumen. Dem einen oder anderen mag aufgefallen sein, dass wesentliche Grundrechte momentan außer Kraft gesetzt sind, etwa Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Freizügigkeit. Ich persönlich sehe die Notwendigkeit der getroffenen Maßnahmen durchaus ein, wundere mich aber über die Distanz zwischen dem, was im Grundgesetz steht und unserer Lebenswirklichkeit - die ist deutlich größer als 1,50m. 
Vorschlag zur Güte: Artikel 8 lautet zukünftig „Alle Menschen haben das Recht, sich zu versammeln, solange der Epidemiologe mit dem meisten Einfluss auf die Politiker dies für vertretbar hält“. Zu schwammig? Wir könnten den Chef-Virologen zum Verfassungsorgan machen, zum „Seuch“. Ja, das klingt ein bisschen wie „Scheich“, stimmt, aber eigentlich dachte ich an eine Abkürzung von „Saubere Hände bzw. Stubenarrest für euch“. Beim Seuch ließen sich Kompetenzen des Gesundheitsministers, des Kanzlers, des Bundestags-, des Bundesrats-, des Bundes- sowie der Ministerpräsidenten bündeln, und als Dienstsitz empfehle ich den Podcast des NDR (hat sich bewährt). 
Sie meinen, es bringe nichts, jetzt im Grundgesetz rumzupfuschen? Hm. Andere Idee: Wir lassen das Grundgesetz so, wie es ist, ersetzen lediglich die Präambel durch das Infektionsschutzgesetz, dessen Bestimmungen im Zweifel immer über den nachfolgenden Regelungen stehen. Für jene, die beruflich das „Grundgesetz unterm Arm tragen“ müssen, empfehle ich eine leichtgewichtige Kurzfassung der neuen Präambel, nämlich: „Hauptsache gesund!“
Unser Fernseher ist kaputt. Beim Finale von „Deutschland sucht den Superstar“ blockieren digitale Bildfehler den Informationsfluss, und auch der Ton bleibt sekundenweise weg. Das WLAN ist schon länger im Eimer. Ist bereits untersucht worden, ob sich SARS-CoV-2 auch in Rechenmaschinen einnisten kann, quasi als Computervirus? Mir war neulich, als habe mein Handy Husten, jedenfalls wenn man es auf laut stellt. Was, wenn unsere Partner, Freunde, unsere liebsten Lieben, nämlich unsere Smartfons, auch erkranken können? Ich weiß nicht, was Ihnen der Seuch empfiehlt, aber ich setze vorsorglich auf digital distancing, bzw. im Notfall Schutzkleidung am Display. 
Habe ich eigentlich Angst? Wir Bonings halten uns seit Generationen für unangreifbar. Schwere Krankheiten werden traditionell mit einer Mischung aus Ignoranz und Alkohol niedergestreckt. Mein Vater ist 84 und geht jeden Tag einkaufen, ohne Handschuhe und Mundschutz, und die Hände wäscht er sich anschließend auch nur, weil meine Mama so nachdrücklich darauf besteht. 
Ich persönlich bin unsicher, ob ich hohes Fieber überhaupt bemerken würde, da mir die hierfür notwendige Sensibilität fehlt - ein Mangel, den ich kaum noch werde beheben können. Auch mit der Flaute in meinem Arbeitskalender und dem bevorstehenden Verlust meiner Rücklagen („einmalige Vermögensabgabe“) habe ich mich innerlich längst abgefunden. Wovor ich mich allerdings fürchte, sind diese besonders martialisch anmutenden Schutzmasken, die manche Menschen jetzt tragen. Neulich beim Rossmann: Ein junger Mann mit riesiger Gasmaske, zwei Filter links und rechts, wie ein Erschrecker in der Geisterbahn. Megagruselig, wie Dieter Bohlen sagen würde. Entsetzt wich ich nach hinten zurück, wo sich allerdings gerade eine ältere Dame Sagrotantücher in den Wagen legte und mich für meine übergriffige Nähe ein „Rindvieh“ schimpfte.
P.S.: Hat Chiara eigentlich gewonnen?

6.4.
Ein älterer Jogger muss husten. 
Wir beobachten ihn aus der Ferne, auf einem Hügel im Hirschgarten stehend. Es ist typisch für diese Ära: Einer hustet, und alle merken auf. Gespräche enden abrupt, egal, worum’s ging, und ernste Blicke richten sich gen Klangquelle, auch die Blicke der jüngeren Dame im Läuferdress, die unterhalb von uns ihre Oberschenkel dehnt. 
Gespannte Stille. Dann hört man, dass der Husten keineswegs trocken ist (schon mal gut). Überdeutlich zieht der ältere Herr Rotz aus Hals und Nase in die Mundhöhle, kaut schnaufend auf dem Batzen herum und spuckt diesen dann mit Verve auf die Rasenfläche neben sich - so wie’s in anderen Tagen auch ein Christiano Ronaldo getan hätte. 
Wir stehen weiter auf unserem Hügel, etwas perplex, aber entspannt, da sich der Vorgang doch sichere 40 Meter entfernt abspielt. Der ältere Jogger, jetzt von der Last des Sputums befreit, läuft frohgemut weiter und will unseren Hügel passieren. Da zeigt die junge Dame unter uns mit ihrem Finger auf den Herrn und blafft in schneidigem Feldwebelton: „Das nächste Mal gefälligst in die Armbeuge!“ Der Gemaßregelte hält an, sein Blick ist leer, er weiß offenkundig nicht, was er sagen soll. Die Ansprache ist ihm gewiss unangenehm, aber er hat wahrscheinlich wenig Erfahrung damit, in einer Grünanlage von einer jungen Frau in einem Ton gerügt zu werden, den man am ehesten aus den Militärklamotten der 70er Jahre kennt, etwa „Wo bitte geht’s zur Front?“ oder „Kompanie stillgestanden!“
Ohne weitere Regung setzt der Mann seinen Dauerlauf fort. Teresa und ich müssen lachen, woraufhin sich die junge Frau zu uns umdreht. Theo hat mittlerweile auch seinen Arm ausgestreckt und deutet auf den davontrabenden Herrn. „Ist doch wahr“, erklärt die Standpaukistin, jetzt im zivilen Flötenton, „das ist doch ein schlechtes Beispiel für ihren Sohn!“ Wir lachen lauter, und Theo zeigt weiter mit dem Finger hinter dem Herrn hinterher und imitiert nun die Spuckrüge im Offizierston. Und dann kläre ich sie über den Grund unseres Gelächters auf, nämlich, dass man in die Armbeuge sehr wohl niesen soll, nicht aber spucken. Jedenfalls nicht unbedingt. Und dass es sicher lustig wäre, wenn der angetrocknete Rotz in der Armbeuge zum Alltag gehörte, auch auf Stehempfängen in der feinen Gesellschaft.
Apropos: Boris Johnson wurde ins Krankenhaus gebracht. An ihm habe ich mich in den letzten Jahren abgearbeitet. Ich war sein Fanboy, sein Verächter. Habe sogar einen Zeitungsartikel über ihn geschrieben. Dass ausgerechnet bei ihm der Krankheitsverlauf schwerer zu sein scheint, geht mir seltsam nah. 
Als unsere Kirche leer ist, singt Teresa konspirativ „Laudate Dominum“. Will sie ab jetzt jeden Tag machen. Und am Abend musizieren meine Frau und ich gemeinsam bei Instagram.„Ridente la Calma“, auch von Mozart. Genieße die Ruhe.

7.4.
„Das Spiel ist die Arbeit des Kindes“, sagte Hannah Arendt. Und viele Kinder arbeiten momentan unter erschwerten Bedingungen: Ihre Arbeitsplätze, die Sandkisten, Schaukeln und Rutschen sind geschlossen, die Lieferketten gestört (niemand da, dem man die Schaufel wegnehmen kann), und die Treffen der Spielgruppen, in denen Theo (20 Monate) mitarbeitet, fallen aus. Eine von denen, so wurde gestern vorgeschlagen, solle jetzt per Skype stattfinden, Unkostenbeitrag 7,50€. Wir lehnen mit hochgezogenen Brauen ab, dachten eigentlich, Kurzarbeitergeld werde gezahlt, nicht entrichtet. 
Lieber versuchen wir, den Mangel zu ersetzen, singen nicht nur „Schotterwagen“, „Auf der grünen Wiese steht ein Karussell“ und andere Action-Hits, sondern ich verbringe weite Teile dieser Tage in der Horizontale, als lebendes Trampolin. Auch ein Wörterbuch habe ich angelegt, mit den Grundbegriffen der theodorischen Sprache: „Ata“ ist Wasser, „Ane“ Katze, „Ütata“ Hubschrauber. Ich spreche es nahezu fließend! 
Beim Spaziergang im Hirschgarten begegnet uns ein fremdes Kind, auf das Theo lächelnd zuläuft. Der Adressierte beginnt hemmungslos zu weinen. Nein, wahrscheinlich nicht aus Angst vor Ansteckung, aber vielleicht, weil die Übung fehlt. Interaktion als Sonderfall - der Gleichaltrige als Exot. 
Apropos „Ane“: Die Nachricht, dass in New York Tiger positiv getestet wurden, lässt für die Katzen in Deutschland nichts gutes erwarten. Sollten auch sie den Virus übertragen können, heißt es Pfotenwaschen, kommt die Maulschutzpflicht, mindestens. 
Auch die Zukunft der EU sehe ich inzwischen leider pessimistisch. Gut möglich, dass es die gewohnte Reisefreiheit alsbald nicht mehr geben wird. Bundeskanzler Kurz: „Die Grenzen bleiben zu, bis es eine Impfung gibt“. Realistisch betrachtet kann das dauern, jedenfalls lang genug, um sich so richtig in die Haare zu kriegen. Kurz brüstet sich damit, ein besonders rigoroser Kämpfer gegen das Virus zu sein, und Ruprecht Polenz (CDU) erinnert daraufhin auf Kurz‘ Seite bei facebook erstaunlich undiplomatisch an Ischgl. So undiplomatisch, dass in einem anderen Kommentar Wolfgang Ischinger (Münchener Sicherheitskonferenz) zur Mäßigung aufruft. Derlei Töne kenne ich, und zwar aus den Spielgruppen, wenn’s Streit um die Schaufel gibt. 
Jetzt basteln alle Länder an ihrer eigenen Corona-App. Kann man nicht wenigstens den europäischen Überwachungs-Instrumente-Bau bündeln? Im Gegensatz zu Überwachungs-Apps habe ich Eurobonds schon immer für eine gute Sache gehalten, aber alleiner stand ich selten auf weiter Flur als heutzutage, jedenfalls unter uns Deutschen. Die Italiener werden uns unsere leeren Intensivbetten kaum nachsehen. Hoffentlich fliegt uns der Laden nicht komplett um die Ohren. Irgendwo habe ich doch noch einen 10-Mark-Schein liegen, den kann ich schon mal suchen gehen...
Und zwar am besten zügig. Die Entwicklung geht so irre schnell, dass ich kaum mitkomme. War nicht Jürgen Klopp bis gerade eben noch Held der Liverpooler Fans? Jetzt ist er bei denen unten durch, weil der Verein Gehälter aus dem Notprogramm der Regierung zahlen lässt. Der Premierminister kann sich hierzu nicht äußern, er kämpft um sein Leben. Ich bete für ihn, so wie für alle anderen schwer Erkrankten, ihre Angehörigen, die Ärzte, Schwestern und Pfleger, und Teresa singt in unserer leeren Kirche Gounods Ave Maria. Ich wünsche uns allen Gesundheit. Genießt den Tag, so oder so.

8.4.
Papa (84) am Telefon. Er ist bester Laune, und das ist nicht selbstverständlich, fällt doch in diesem Jahr das Wildeshauser Schützenfest aus. 
Er: „Ich kenne einen prima Corona-Witz. Willste hören? Also. Da geht einer jeden Tag in die Kneipe (schonmal gut), bestellt sich drei Bier und trinkt sie hintereinander auf ex. So geht das tagaus, tagein. Irgendwann fragt ihn der Wirt: „San‘se mal: Was ist das eigentlich fürn Ding mit diesen drei Bieren, die sie da immer trinken?“ 
Mann: „Ich habe einen Freund in Amerika und einen in Australien, und wir sehen uns nur selten. Und da haben wir vereinbart, jeden Tag getrennt voneinander, aber in Gedanken gemeinsam in die Kneipe zu gehen und ein Bier zu trinken“. „Aha“ nickt der Wirt, „alles klar!“
Ein paar Wochen gehen ins Land, und eines Tages bestellt der Mann keine drei, sondern nur noch zwei Biere. Der Wirt fragt besorgt: „Oha, ist einer ihrer Freunde tot?“ - „Nein, ich habe aufgehört zu trinken“.
Glucks.
Meine Managerin Steffi und ich glauben, dass frühestens im Sommer wieder Fernsehsendungen produziert werden, bei denen ich mitmachen kann. Den Wiederbeginn des Theaterlebens erwarten wir nicht vor 2021 - könnte also eine längere Pause werden. Genug Zeit zum ausgiebigen Zeitunglesen, konstatiere ich, und spendiere mir ein 3-Monatsabo der „Welt“, richtig auf Papier, hurra. Lustig: Mein Papa hatte just exakt die gleiche Idee, allerdings mit der Süddeutschen Zeitung.
To-Do-Liste abgearbeitet. Gedichte für Roberto eingesprochen, auf dass er sie vertonen kann. Kleine Filme für „HISTORY“. Ein Video-Glückwunsch für das Krankenhaus Waldfriede in Berlin, auf dessen Dach ich einst eine Woche zeltete (wird 100 Jahre alt). Ein Blutspendeaufruf für Werder Bremen. Ein kurzes Interview für das Rad-Magazin. Teilnahme an Tommy Krappweis‘ Twitch-Talkshow. Zeit zum Zeitunglesen? Von wegen...
Teresa singt in unserer Kirche „Kinderlieder“ von Aribert Reimann, was a capella nach vereinsamtem Wahnsinn klingt (also völlig normal heutzutage). Als der irritierte Küster (?) auftaucht, schiebt sie noch ein Stück ‚Exsultate Jubilate’ von Mozart hinterher. 
Alles wieder gut.

9.4.
Die Kapelle St.Corona steht seit 1672 in einem Wäldchen südlich von München. Corona hieß eine junge Syrerin, die im zweiten Jahrhundert als Christin hingerichtet wurde, und später stieg sie zur Schutzheiligen bei Hagel, in Geldangelegenheit und bei Seuchen auf. Dass diese drei Probleme zusammengehören, weil Epidemien Bilanzen verhageln, hat sich bis heute nicht geändert, nicke ich verständig und betrachte die vielen frischen Kerzen im kleinen Vorraum der Kapelle. Draußen wartet mein Rad, auf dem ich hierher gerollt bin, um die Namensgeberin unserer bizarren Ära zu besuchen - jedenfalls vermute ich, dass die SARS-Viren nach der Syrerin benannt wurden und nicht etwa nach der mexikanischen Bierspezialität. 
Auf einer Erklärtafel wird detailliert Coronas Tod im Jahr 172 beschrieben: Man band sie mit Armen und Beinen an zwei starke, zu Boden gebogene Palmen und ließ diese anschließend emporschnellen, woraufhin ihr Körper in zwei Teile gerissen wurde. Merkwürdige Strafe; wer denkt sich sowas aus? Und lassen sich alle Palmen bruchlos zu Boden biegen? Sodann grüble ich, welcher Tod unerfreulicher ist: Jener durch Ersticken oder der auf dem Palmen-Katapult? Ich male mir beide Ablebe-Methoden am eigenen Körper aus, kann mich nicht aber entscheiden, was ich nehmen sollte, wenn man mich vor die Wahl stellte. Katapult geht schneller, aber in der modernen Palliativmedizin gibt es Morphium plus Stimmungsaufheller, deren Wirkung mich - theoretisch - durchaus interessieren würde. Blass und blümerant wanke ich ins Freie. Welch sonniger, wonniger Tag.
Wie ich lese, haben sich Hamburg und Schleswig-Holstein auf eine Öffnung der Grenzen geeinigt. Letztes Wochenende mussten Radler und Spaziergänger aus Hamburg nämlich am Rand der Hansestadt umkehren, gestoppt von Schleswig-Holsteinischer Polizei. Deren Aktion gehört in eine Spezialschublade, zu der ich auch das Verbot einer Demonstration mit zwei (!) Teilnehmern in Rheinland-Pfalz zählen möchte sowie die Inhaftierung (!) eines Stuttgarters, der zu einer Demo aufgerufen hatte. Diese Schublade möchte ich mal mit dem Wort „unverhältnismäßig“ beschriften, um Unsachlichkeit zu vermeiden. Noch schlimmer finde ich den doppelten Grenzzaun in Konstanz, und dass Pendler aus Lothringen an der saarländischen Grenze von Bundespolizisten als „dreckige Franzosen“ beschimpft worden sein sollen (Quelle für alle Vorfälle: ZDF Spezial). Höre ich sowas, gerate ich schnell in einen köchelnden Zustand, kriege leichtes Fieber. Ganz zu schweigen von den Lagerkindern auf den griechischen Inseln. Und da erzähle mir noch einer etwas über die „großartige Solidarität“ in diesen Tagen. Hui, so langsam rede ich mich in Rage. Wird Zeit, dass die Mundschutzpflicht eingeführt wird. Die Gesichter mancher meiner Landsleute werden dadurch nämlich erheblich gewinnen. Ist gut; brrrr, ruhig Brauner; ich regele mich schon wieder runter. War gar nicht böse gemeint; bitte herzlich um Entschuldigung. Schönen Tag allerseits!

10.4.
Staubsaugerbeutel, so sagt das Radio, lassen sich in fünf Minuten zu einem passablen Mundschutz umbauen. Sogleich öffne ich meinen alten Kobold, entnehme den Beutel und überlege, wie der Tipp anzuwenden ist. Atmet man durch das Loch, durch welches normalerweise der Staub in den Beutel gelangt? Ich mache einen kurzen Test, muss aber husten, weil der Beutel bereits gefüllt ist. Immerhin lässt sich erkennen, dass man mit einem Staubsaugerbeutel, den man sich vors Gesicht schnallt, einem Tapir ähnelt. Genau mein Ding. Gehe gleich am Karsamstag ins Fachgeschäft und kaufe ein Vorratspack - wenn die Beutel dann nicht schon lange ausverkauft sind. 
Ein Blick ins Jahr 2100. 
Covid-19 ist lange besiegt, die Impfung flächendeckend, an die große Pandemie können sich nur die ganz Alten erinnern. „Corona“ war zwei Dekaden lang ein Synonym für Desaster, ähnlich wie „Rammstein“ einige Jahre zuvor. Doch so wie man bei „Rammstein“ im Präcoronikum an laute Musik mit tiefdröhnenden Stimmen dachte, so steht „Corona“, wie wir alle wissen, heute für Freiheit und Abenteuer. „Bonfortionöse Corona“ sagen die Leute, und sie meinen damit: Ein unterhaltsamer Ausflug, bunte Kurzweil. Wie kam es zu dieser Umdeutung? Während der großen Depression, die auf die Krise folgte, geriet der Tourismus des 20. und frühen 21. Jahrhunderts in Vergessenheit. Man blieb daheim; die meisten Flugzeuge wurden gebraucht, um Schutzausrüstungen zu transportieren, der Rest unterstützte den Grenzschutz oder wurde, um der Erderwärmung Herr zu werden, verschrottet. Wenn gereist wurde, dann virtuell, mit VR-Brillen, aus denen VR-Ganzkörpermaschinen, schließlich VR-Räume entstanden, in denen man die Grenzen von Sein und Zeit überwand. Im späten Postcoronikum langweilten sich die Leute zunehmend mit Virtual Reality - sie sehnten sich nach „echten“ Erlebnissen, scheuten sich aber weiter davor, die Grenzen zu überwinden, die unsere Länder und Sicherheitssektoren seit der Krise trennen, aus der tradierten Angst vor Handschlägen und Denunziantentum. Gleichzeitig gelangen der Schrumpfungsforschung spektakuläre Erfolge: Pünktlich zum 50. Jubiläum des Großen Sieges der Welt über das Virus gelang es erstmals, einen Menschen auf die halbe Größe eines Tabakmosaikvirus zu verkleinern. Karl-Heinz Drosten-Hülshoff aus Kerpen unterzog sich freiwillig der riskanten Prozedur und überlebte mehrere Jahre mopsfidel in einem Reagenzglas in Heidelberg. Bereits drei Jahre später wurde die erste kommerzielle Reise in einem zum Tauchboot umgebauten Coronavirus durch einen menschlichen Körper unternommen, und schon in der Grippesaison 2081/82 wurden virale Reisen in die Bronchiolen bekannter Persönlichkeiten zum Dealbreaker der tot geglaubten Tourismusindustrie. Natürlich waren diese Unternehmungen spektakuläre Touren; mit etwas Glück endete eine solche Reise im Niesflug bei 300 km/h, was sich für einen Menschen mit einer Körperlänge im einstelligen Mikrometer-Bereich nochmal rasanter anfühlt als für einen ungeschrumpften Zeitgenossen (UZG) - von denen es heutzutage bekanntlich nur noch sehr wenige gibt, wegen des Platzproblems auf der Erde. 
Na jedenfalls: Wilde Ritte, spannende Begebenheiten wurden bald generell „Corona“ genannt - und das ist bis heute so geblieben.

11.4.
„Früher war alles besser“ - nie war dieser Spruch so gut wie heute. Sagt meine Frau Teresa, die in der neuen Zeit noch immer nicht so recht angekommen ist. Vorm Ruffini in Neuhausen steht eine Schlange, bestehend aus zwei Senioren, zwischen die eine der frühen Dampflokomotiven passen würde, als Virenschutzdistanz. Ich verlangsame in aller Vorsicht bereits einen ganzen Häuserblock von der Kuchentheke entfernt - so wie man sich als Trapper im alten Amerika den Indianern näherte: Waffe ablegen, Joppe öffnen, Hände hoch. Dann mit offnem Lächeln näher kommen. In diesem Geiste schiebe ich den Kinderwagen voran, allerdings nicht freundlich lächelnd, sondern mit geschlossenem Mund, Lippen aufeinander gepresst. Halt auf der anderen Straßenseite. 
Teresa läuft einfach weiter, Baby Mathilda in der Trage. Die Dame hinten hebt den Finger. „Hallo?! Nicht vordrängeln, junge Frau!“ Teresa, etwas unwirsch: „Ich möchte nur gucken, was es gibt!“ Mir schwant böses. Der Herr vorne: „Sie da! Zwei Meter Abstand einhalten!“ Teresa, jetzt mit irritiertem Blick: „Zwei Meter stehe ich doch von ihnen weg, oder nicht? - „Nein, das sind keine zwei Meter!“ - „Ich bitte sie, das sind mindestens zwei Meter!“ Er: „Ich kann ja ein Maßband holen, dann messen wir nach“. Ich amüsiere mich. Natürlich beträgt der Abstand zwei Meter, aber Angst essen Maßband auf, wie schon Fassbinder bemerkte. Aus der Sicht des Seniors sind zwei Meter gefühlte 50 cm. Ausserdem hängt da ja noch die kleine Mathilda in der Trage - quasi doppelte Todesgefahr, macht nach Adam Riese 25 cm. Dies versuche ich nach dem Kuchenkauf meiner Gattin zu vermitteln, dringe aber kaum zu ihr durch. Sie sehnt sich auch weiterhin immer raus, will spazieren, auf Parkbänken ein Buch lesen, während ich mich in der neuen Welt bereits häuslich eingerichtet habe. Ich will gar nicht mehr ins Freie, fühle mich draußen gehemmt und unwohl, will zurück ins Bett. Und als auf der Heimfahrt auf unserem Oldtimer-Tandem das Tretlager kaputt geht, suche ich die Schuld sogleich bei mir. Geschieht mir recht, in Wirklichkeit haben wir nichts an der frischen Luft verloren, schon gar nicht im Sitzen. Söder gibt sich zwar in den letzten Tagen großzügig und behauptet, man dürfe sich auf einer Parkbank niederlassen, aber ich glaube ihm nicht. Das ist doch nur ein hinterlistiger Indianertrick. Häuptling Söding Bull will mich in eine Falle locken, und dann bin ich umzingelt; Schwarzfußindianer vom Stamme der CSU binden mich an den Marterpfahl, und dort werde ich unter Mundgeheul herdenimmunisiert. Nicht mit mir, Freundchen! 
Meiner Schwester erzähle ich am Telefon vom wohl endgültigen Fahrtende unseres 50 Jahre alten Doppeldrahtesels, und sie witzelt: „Tja, es sind die Alten, die Corona nicht überleben“ Bevor wir nun wegen Unernst in einem Shitstorm ertrinken: Knöpft euch mich vor, aber lasst meine Schwester in Ruhe. Sie ist Krankenschwester, kann die mildernden Umstände der Systemrelevanz beanspruchen. 
Jetzt, ohne Tandem, werde ich Phase 2 einleiten: Noch zuhauser, die Arme überm Kopf zum Dach geformt, wie das Promis in diesen Tagen eben machen. Und dann: Nicht bewegen, auch wenn die Arme lahm werden.

12.4.
„Liever düd aß Slaawe“ sagten die alten Friesen, also: lieber tot als unfrei. Kommt mir manchmal in den Sinn, wenn es für eine Selbstverständlichkeit gehalten wird, den Infektionsschutz über die Grundrechte zu stellen. Die Friesen dachten bei ihrem Wahlspruch allerdings nicht an Viren, sondern an einen anderen Plagegeist, nämlich den holländischen Grafen Wilhelm IV., und sie entledigten sich seiner nicht durch Händewaschen, sondern indem sie ihn in der Schlacht bei Warns 1345 über den Jordan beförderten. 
Das ist lange her, gefühlt ähnlich lange wie eine Reportage aus China, die ich im Januar im Fernsehen sah. Ich schaute sie in einem Hotelzimmer in Köln, gemeinsam mit meinem Sohn Leander. Wir hörten von einer neuartigen Erkrankung, sahen leere Straßen, Ordnungskräfte mit Mundschutz. Unschön, dachten wir. Aber auch sehr weit weg. So wie die Buschfeuer in Australien.
Und jetzt ist Ostern. Man traut sich ja heuer kaum, in Schokoladen-Osterhasen zu beißen, nachdem auf dem Wochenmarkt in Wuhan die Viren von obskuren Wildtieren auf Menschen wechselten. Alles verdächtig, verwirrt, vergiftet. 
Die Viren gehen neue Wege, aber wir Menschen auch: Überm Bodensee, so lese ich, fahnden Polizisten vom Zeppelin aus nach Menschen, die sich nahe stehen. Zeppelin, das klingt drolliger als Drohne. Drohnen sind bedrohlich, Zeppeline angenehm altmodisch - man denkt an Knickerbocker, geschwungene Schnurrbärte und Absinth im Abendlicht. Von Polizeiwachtmeister Dimpfelmoser lässt man sich lieber beschatten als von Big Brother. Tschako, Tschako!
Söders Osteransprache kann ich leider nicht folgen, zu sehr bin ich gebannt vom detailreichen Bühnenbild. Strauß-Büste, klar. Links Graf Montgelas? Wahrscheinlich. Ferner: Ein stilisierter Baum - oder ist‘s ein hölzerner Lungenflügel? Ganz rechts: Eine Miniatur im klobigen Rahmen. Nein, wahrscheinlich doch nur eine Lebkuchendose. Söder ist doch Nürnberger, gell? Aus dieser Dose bietet er seinen Gästen sicher Lebkuchen-Printen an. Dicke Folianten in ferrero-braun. Das Bild riecht nach Zigarre, nach „Handelsgold“ rauchendem Landesvater, der sein Volk im Zeppelin über den Bodensee steuert, durch dunkle Wolken, Blitze zucken hinter den Bergen, in Italien, da, wo die Piemont-Kirsche blüht. Vor uns sieht man den Lindauer Leuchtturm. Wenn er seine Zigarre dort sicher landet, wird Söder Bundeskanzler, das steht fest. Und wenn die Landung misslingen sollte, à la Lakehurst 1937, dann bleibt uns nur die Wiederauferstehung. Frohe Ostern allerseits!

13.4.
Wann habe ich das letzte Mal jemandem die Hand geschüttelt? Vor genau einem Monat, am 12. März, bei meinem Gastspiel im Stuttgarter Renitenztheater. Corona war bereits Thema Nummer eins und die Warnungen allgegenwärtig. Backstage traf ich den Intendanten. Wahrscheinlich wollten wir beide nicht den Verdacht aufkommen lassen, zu diesen neumodischen Angsthasen zu gehören, die Jever Fun trinken, orthopädische Einlagen tragen und dreimal jährlich zur professionellen Zahnreinigung antreten. Nein, wie echte Männer wollten wir wirken, lachten guttural und bleckten unsere gelben Zähne. „Wir geben uns weiter die Hand!“ bestimmte ich mit grotesk bemühter Seewolf-Attitüde und packte seine Pranke. Wahrscheinlich dachten wir da beide in Wahrheit „Au weia, hoffentlich geht das gut!“. Kaum war er um die Ecke, wusch ich meine Flunken, und aus seinem Büro drang ebenfalls das Kikeriki eines Wasserhahns. 
Mein Vortrag am darauffolgenden Tag in Auenwald war bereits abgesagt (schade, ausverkauft), so wie alle Auftritte sämtlicher Kollegen. Dass nach den Schlagzeilen der vergangenen Tage im Renitenztheater überhaupt nennenswert Publikum zugegen war, bauchpinselte mich. Eine schlüssige Erklärung lieferte eine ältere Dame: „Mir sin Schwabe, mir hän bezahlt“. Soweit ich weiß, bin ich der letzte Mensch, der sich in Stuttgart auf einer Bühne beklatschen ließ - bis heute. 
Ob ich jemals wieder Hände schütteln werde? Aus derzeitiger Sicht undenkbar. Kalle Schwensen hat den festesten Händedruck, kraftvoll wie eine Olivenpresse, wie Raimund Harmsdorff als Seewolf, der rohe Kartoffeln zerquetschte. Hat? Hatte! Nie wieder werde ich innerlich aua zetern, natürlich ohne mir meinen Schmerz anmerken zu lassen. Hugo Egon Balder hat diese weichen, warmen Hände, die werde ich vermissen - im Gegensatz zu manch nasser, kalter Schwitzehand. Auch „High Five“: Passé, ebenso wie „Toi toi toi“, mit Über-die-Schulter-spucken, wie man‘s im Theater so macht(e). Die Spuckerei ist eh sinnlos, wenn alle Maske tragen. Ich persönlich freue mich auf Mundschutz auf der Bühne, etwa bei Hamlet: „Ef ift waf faul im Ftaate Dänemark“. Man wird immer meinen, man schaue einen „Tatort“ mit Til Schweiger. Gut genuschelt ist halb gewonnen.

14.4.
Die Wolle muss weg! Zu den lange ersehnten Höhepunkten der Corona-Festspiele zählt der Friseurbesuch. Wobei als „Friseur“ de jure nur zwei Personen in Frage kommen, nämlich meine Frau und ich. Als Gentleman überlasse ich ihr nur zu gerne die frisch erworbene Schere, nehme im Garten Platz und entscheide mich für einen klassischen Topfschnitt. Wir nutzen eine eng sitzende Schüssel als Schablone, und ich muss an Michel aus Lönneberga denken, der in einer Episode seinen Kopf in eine Suppenterrine steckte und nicht mehr rausbekam. 
Die Schneidetechnik meiner Gattin Teresa ist unorthodox. Mehr rupft sie, als dass sie die Haare durchtrennt, was Geräusche erzeugt, die man eher in einer Gärtnerei vermuten würde als beim Figaro. Großräumig segeln die Locken zu Boden, und ich beschließe, meine Notfrisur „Lockdown“ zu nennen. 
Mich erstaunt die enorme Geschwindigkeit, mit der Teresa zu Werke geht; ihre Schopfung dauert kaum länger als das Schälen eines Kohlrabis - dabei ist dies immerhin ihre Premiere als Hairstylistin. Sie selbst ist von ihrer Kreation hingerissen - bis der Rasierer zum Einsatz kommt. Auf einen Schlag wird sie blass und kleinlaut und murmelt: „Ach so, das geht direkt bis auf die Haut“. Inzwischen ist Mathilda aufgewacht und will an die Brust, während Theo unbedingt mit der Schere spielen will, und als wir ihm dies verwehren, sammelt er das Schnittgut und stopft es sich in die Backentaschen. 
So endet Teresas Ersteinsatz mit furiosem Endspurt und „undone“, wie die Künstler in Berlin-Mitte zu sagen pflegen. Ich beschließe, mich nicht verunsichern zu lassen - und das klappt gewiss am besten, wenn ich Selfies & Spiegel in den nächsten Wochen konsequent meide. 
Wollt Ihr auch? Was, wenn wir nicht nur alle zusammen unseren Häuslichkeitsrausch geniessen, sondern auch gemeinsam-getrennt die Treppe runter fallen? Ein ganzes Volk mit Löchern im Pelz, asymmetrischen Zotten oder schlechtem Prinz Eisenherz. Wer keinen Partner hat, macht sich’s einfach selber. Und während ich dies tippe, fahre ich mir mit der freien Hand durch die verbliebenen Federn und versuche zu ergründen, wie ich wohl aussehe. Werde es beim heutigen Gang zum Einkauf in den Gesichtern meiner (unmaskierten) Mitmenschen erkennen. 
Die Leopoldina empfiehlt eine Lockerung des Stillstands. Vorschlag: Was, wenn wir Deutschland aufteilen? ZB. zeitlich: Morgens dürfen die Risikogruppen ungefährdet einkaufen, nachmittags der Rest. Oder räumlich: Nordfriesische Inseln werden für die Risikogruppen reserviert, ostfriesische für die andern. Und wer gesundet und immun ist, kriegt einen All-Area-Pass um den Hals gehängt. 
Klingt unangenehm nach Apartheid? Auweia, stimmt. War ja nur so’ne Idee. Ich denke weiter nach. Ziel ist klar: Der Michel muss wieder raus aus der Suppenterrine. Wir müssen zu Potte kommen - wenn möglich.

15.4.
Ein Infektionsgeschehen mit exponentieller Dynamik bedroht Deutschland: Langeweile. Vom Kurzarbeiter bis zum Kellner, vom Küfer bis zum Künstler, alle können sie Opfer dieser Epidemie sein. Gefährdet sind sämtliche Altersklassen.
In der Regel findet die Übertragung durch sogenannte Langweiler statt. Als Übertragungswege sind optische und akustische Signale („Gelaber“), aber auch bisher von der Wissenschaft nur unzureichend entschlüsselte Codes („Ausstrahlung“) denkbar. Die Erreger der Langeweile überleben unerfreulich lange auch auf Bildschirmen, Fensterscheiben und Tapeten, sofern man diese lang genug anstarrt. Das von Fachleuten empfohlene Therapeutikum „Malen nach Zahlen“ sowie das Hausmittel „Lesen“ bieten keinen zuverlässiger Schutz, ebenso können Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielbretter nur temporär die Langeweile aus der Luft filtern. Manch einer meint, sich in Skype-Konferenzen flüchten zu können - ein gefährlicher Irrtum. Homöopathische Mittel wie „Stars unter Palmen“ können sogar kontraproduktiv wirken. 
Hat sich die Langeweile erst einmal im Kopf eingenistet, folgen körperliche Symptome wie Müdigkeit und Abgeschlagenheit, Gähnkrämpfe und schließlich völlige Rammdösigkeit. Auch Fälle innerer Unruhe sind dokumentiert: Der Gelangweilte räumt dann die Wohnung auf, telefoniert mit entfernten Verwandten und hört im letzten Stadium des Befalls wissenschaftliche Podcasts, die ihn unter normalen Umständen niemals interessieren würden, etwa solche zum Thema Virologie. Eine Impfung gibt es nicht. 
Vorerkrankungen wie chronische Interessenlosigkeit und Stubenhockerei können den Krankheitsverlauf erschweren. 
Sterbefälle sind im letzten Stadium nicht ungewöhnlich, der Betroffene „langweilt sich zu Tode“. 
(Gähn) Bin ich womöglich infiziert? Habe ich Teresa bereits angesteckt? Bang blicke ich auf meine vom vielen Waschen trockenen, rissigen Hände (Gähn). Bin ich Hypochonder,  ist meine Müdigkeit normal? Lustlos blättere ich in einem antiquarischen Werk über grammatikalische Besonderheiten der georgischen Sprache. Teresa fragt: „Ist was mit dir?“ Mit matter Stimme antworte ich: „Wieso? (Gähn) Was soll denn sein?“ - „Du wirkst so, als wenn da irgendwas wäre, in deinem Inneren!“ Erschrocken horche ich in mein Inneres. Doch da ist nichts. Draußen kläffen zwei Hunde um die Wette. Auf dem Herd blubbert das Nudelwasser (Gähn). Von der Decke rieselt der Putz. Ja, ich langweile mich. Jetzt nur keine Panik. Wir schaffen das.

16.4.
Lange haben sie getagt, die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin. 
Macht Heidi Klum auch immer so, bei GNTM. Dauert ewig, versichert meine Frau, macht man so, um die Spannung zu erhöhen. 
Während der Wartezeit male ich mir die Skype-Konfi der Großkopferten aus. Ob das da auch so abläuft wie bei unsereiner? 
„Moment, Leute, ich muss noch eben mein Headset holen! Wo zum Teufel habe ich das wieder hingelegt?“ 
„Kretschmann, rück mal näher ans Mikro; wir hören Dich nicht!“ 
„Armin, du hängst schon wieder! Hast du überhaupt WLAN an oder LTE?“
Das Verbot von Großveranstaltungen bis Ende August heißt wahrscheinlich, dass es beim Fussball, wenn überhaupt, nur noch Geisterspiele geben wird. Wir vom Fernsehen haben ja inzwischen gute Erfahrungen mit Applaus vom Band gemacht - sowas könnte ich mir auch für die Bundesliga vorstellen. Torjubel, Fangesänge, „Schiedsrichter Telefon“ - derlei würde ich liebend gerne live dazumischen, noch lieber im Studio selber aufnehmen. James Last nannte sowas „Party Track“: Die Mitglieder seines Orchesters lachten, johlten, applaudierten, und später wurde die Spur der Musik beigemischt. 
Die Bundesliga ist angehalten, an eigenen Sicherheitskonzepten zu arbeiten. Tipp von mir: Momentan wird in den Clubs in Kleingruppen trainiert. Dieses Konzept lässt sich gewiss auch ins Stadion übertragen: Zur Not spielt man halt drei gegen drei. Drei Freunde sollt ihr sein. So entsteht automatisch reichlich Sicherheitsabstand.
Für mich persönlich bedeutet das Verbot, dass die „24h von Allach“ ausfallen. Schade. 2021 werde ich einen neuen Versuch starten, mit Hugo Egon Balder, Roberto Di Gioia und Gästen eine ganze Erdumdrehung lang auf der Bühne zu stehen. 
Viel wichtiger ist, dass die kleinen Buchhändler wieder öffnen dürfen. Für mich die schönste Nachricht der letzten Wochen. 
Und die Schule? Ach, Schule wird weithin überschätzt. Gerade in diesen Tagen. Es gibt doch eh nur ein Thema, nämlich dieser mysteriöse Husten; wie soll man sich da auf Kurvendiskussion und Konjunktiv II konzentrieren? Im deutschen Herbst 1977 war ich zehn Jahre alt und gezwungen, das Fieberthermometer zu manipulieren, um mich zwei Wochen lang von morgens bis abends einem einzigen Thema widmen zu können, nämlich Schleyer, RAF und Mogadischu. Fake-fiebernd sah ich jede einzelne Nachrichtensendung, und einiges blieb bis heute hängen, zB, dass der erste Politiker, der nach geglückter Geiselbefreiung Kanzler Schmidt gratulierte, man glaubt es kaum, Erich Honnecker war. 
Wäre ich heute Schüler und hätte nicht sowieso frei, würde ich wieder wochenlang schwänzen - und zwar solange, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht. 
Teresa und ich haben ein neues Lieblingsspiel. Es heisst: „Wegen des Infektionsschutzgesetzes“ und geht so: Einer stellt eine Warum-Frage, und der andere antwortet mit den Worten: „Wegen des Infektionsschutzgesetzes“. Beispielfragen: „Warum räumst du deine Socken nicht auf?“ 
„Warum feiert man Pfingsten?“ 
„Warum liegt hier Stroh?“

17.4.
Schluss mit lustig; ich will endlich meinen Freund Roberto Di Gioia treffen! Aber wo? Bei ihm daheim geht nicht, weil seine Frau Ärztin ist, Ihr wisst schon, systemrelevant und so. Aber was ist mit den Irrelevanten? Denen bleibt nur der Weg an die Werkbank, in die Fabrik oder eben ins Tonstudio. Wir haben uns bei Jack White eingemietet, mit Toningenieur, Bösendorfer und einem Haufen goldener Schallplatten an der Wand, etwa von KC and the Sunshine Band, Dire Straits und Depeche Mode. Bin pünktlich da, unterm Arm ein Stapel Gedichte über deutsche Fließgewässer. Nichts mit Corona - das Thema ist durch. Erstmal Smalltalk mit den Mitarbeitern. Ja, alle haben Soforthilfe beantragt, Geld hat noch keiner. Mit Steuerstundung kann niemand etwas anfangen: Heißt ja nur, dass man später um so mehr zahlen muss. „Wenn im Herbst immer noch nichts geht, sattle ich um“, sagt einer, „nämlich auf Hopfenpflücker“ - „Hat meine Mama früher auch gemacht“, berichtet Roberto, „da hat man monatelang schwarze Hände“.
Dann nimmt mein Freund am Flügel Platz, ich stehe in einer Sprecherkabine, Toningenieur Jan sitzt im Erdgeschoss - sämtliche Infektionswege sind somit blockiert. Wir nehmen 25 Gedichte mit Klavierbegleitung auf, à la „Lyrik und Jazz“, in einem Rutsch, lassen Mittagessen kommen, plaudern und scherzen, und anschließend nehmen wir alles nochmal auf, um Auswahl zu haben. Schon lustig: Was privat verboten ist, nämlich analoge Geselligkeit mit Freunden (NATÜRLICH mit dem erforderlichen Sicherheitsabstand Ausrufezeichen Ausrufezeichen), ist völlig ok, wenn es der Wertschöpfung dient. Wobei, ganz unter uns: Mit „Lyrik und Jazz“ hat man nur bescheidene Aussichten, die Studiomiete zu erwirtschaften - das dürfte eher mit Hopfenpflücken gelingen. 
Roberto traut sich nicht so recht in die S-Bahn, woraufhin ich ihm meinen gebrauchten Mundschutz anbiete, den mit dem schicken Katzenmuster, genäht von der großartigen Heike Zucker. Aber dann fällt mir auf, dass es womöglich nicht schicklich ist, dem besten Freund seinen vollgerotzten Topflappen unterzujubeln. 
Ich radle heim, und dort wartet bereits Nachschub: Zwei Niqabs aus Ägypten, die nur einen kleinen Schlitz für die Augen übrig lassen. Eine für Teresa, eine für mich. Nichts für ungut, liebe Heike, aber mit Niqab sieht man gottesfürchtig und geheimnisvoll aus, zumal, wenn der Träger ein Mann ist und den Schleier mit einem Tirolerhut kombiniert. Viel besser als der bescheuerte Krankenhaus-Look, der um sich gegriffen hat und mir den Appetit selbst im Feinschmeckerfachgeschäft vergällt. Tausendundeine Nacht. That‘s the way aha aha I like it! 
Nachmittags am Rotkreuzplatz: Ein Dreikäsehoch mit Spielzeugpistole läuft auf mich zu und kräht: „Polizei! Zuhause bleiben! Wegen Corona!“
Lee Konitz stirbt in einem New Yorker Krankenhaus, mit 92 Jahren. „At Storyville“ ist ein Album, das ich im Kinderzimmer gehört habe, etwa so oft, wie es in Niedersachsen Corona-Tote gibt. Wenigstens dieses Album kenne ich in- und auswendig. Damit ist Lee Konitz der erste Corona-Tote, den ich persönlich einigermaßen zu kennen meine.

Sonntag, 16. Februar 2020

Niemand ist konservativer als ich

Gerade erst gestern legte ich mir eine moosgrüne Jagdkotze zu, einen ponchohaften Überwurf, unter dem ich aussehe wie ein verschimmelter Inka. 
Zu Hugo Egon Balders bevorstehendem runden Geburtstag werde ich komplett in Halali erscheinen, mit Kniebundhose und Karokniestrümpfen. Hugo hat es sich so gewünscht, quasi als Geburtstagsgeschenk (normalerweise bevorzuge ich Frack und Zylinder, oder wenigstens Kreissäge). Crazy shit? I wo! 
Jeans und T-Shirts gehen mir nicht zuletzt als Anglizismen auf den Zeiger, zumal das Amerika Trumps und BoJos Königreich derzeit nicht zu meinen Traumdestinationen gehören. 
Lieber spreche ich Französisch, die Sprache jener Diplomaten, die noch anständig mit Messer und Gabel essen konnten. Wenn‘s nach mir ginge, wäre Französisch die Lingua franca der EU - aber ich werde wahrscheinlich auch heute wieder ungefragt bleiben. Das ist nicht schlimm; Trost finde ich bei Lully, Goethe, John Cage, Coltrane und Emily Dickenson (Sie müssen nicht googeln; sind alle tot) und natürlich bei meiner Frau (quitschfidel und puppenlustig). Geheiratet haben wir im Kloster St. Ottilien, und getraut hat uns der Erzabt der Missionsbenediktiner. 
Meine Frau ist Opernsängerin und Wissenschaftlerin (sie hat zum Thema „Funktionale Gesangspädagogik im psychiatrischen Setting“ promoviert), und viele Sonntagvormittage verbringt sie singend auf Kirchenemporen (während ich die Kinder hüte). 
Für meine eigenen Gebete bevorzuge ich leere Gotteshäuser, wobei ich den lieben Gott selten um etwas bitte, mich dafür umso inbrünstiger bedanke - meistens dafür, dass ich unter den Lebenden weilen darf, auf diesem schönen, vielseitigen Planeten. 
Ich koche gerne Hausmannkost, Kohlrouladen, Eintöpfe, vor allem jedoch Grünkohl und Pinkel. Für mich als Oldenburger ist dies elementarer Bestandteil meiner kulturellen Identität. Mit dem Konzept „Deutschland“ kann ich kaum mehr anfangen als mit dem sonstigen Europa, geborgen fühle ich mich vor allem im Schoße des alten Großherzogtums in den Grenzen von 1818. 
Oldenburg ist mein geistiger Dreh- und Angelpunkt, mein New York, Dangast mein Brighton, Wangerooge mein Bermuda. 
Ein Jammer, dass Oldenburg nach dem Krieg in Niedersachsen aufging, aber soo sehr interessiert mich nun auch wieder nicht, was irgendwelche englischen Offiziere einst in ihre Karten kritzelten, solange die Versorgung mit Kohl und Pinkel gesichert ist. 
Dass es mich schon vor 30 Jahren nach Bayern verschlagen hat und ich nach Artikel 6 der bayerischen Verfassung durch meine Eheschließung zum Bayer geworden bin, ich mithin über die doppelte Staatsbürgerschaft verfüge, stimmt mich vergnügt - zumal Amalie, die Gattin des Wittelsbacher Otto I. auf dem griechischen Thron, aus dem Hause Oldenburg stammte und ich mich in ihren Fußstapfen wähne. 
Apropos Fußstapfen. Autos lehne ich ab. Ich bevorzuge Spazierstock, Fahrrad, Eisenbahn und Tretroller. Vor allem die Tretroller der Amischen haben es mir angetan, wie ich überhaupt glaube, dass wir von den Amischen einiges lernen können - nicht, wenn‘s um das Schlagen von Frauen und Kindern geht (ich bin dagegen), sondern wenn‘s um ein gedeihliches Miteinander von Mensch und Natur geht (ich bin dafür). 
An Flugzeugen habe ich wenig Spaß. Das einzige Verkehrsflugzeug, das mich wirklich begeisterte, war die Concorde, und die gibt’s ja nun nicht mehr. Statt Flugzeuge favorisiere ich Luftschiffe, CO2-neutral großflächig mit Solarzellen verkleidet. Bin mal in der „König Pilsener“ mitgefahren; mit 60 Sachen und heruntergekurbelten Fenstern in einer silbrigen Zigarre durch den Sommerwind - das ist mein Geschmack! 
Da fällt mir ein, dass ich mir zu meiner Jägerkluft eine gekrümmte Porzellanpfeife zulegen wollte. Nicht vergessen! Nein, rauchen möchte ich sie nicht, mir gehts ganz burschikos um die Optik. Zudem kann man vielleicht Pinimenthol einfüllen und die Pfeife als Inhalator verwenden. 
Von der Gleichberechtigung der Frau halte ich nichts. Ich persönlich würde es begrüßen, wenn nach Jahrhunderten des Patriachats jetzt erstmal eine Weile Frauen das Sagen hätten (wir Männer sind testosteronbedingt gehandicapt und sollten, ganz im Ernst, alle wichtigen Entscheidungen den Frauen überlasse). In ein paar Jahrhunderten können wir ja bilanzieren und gegebenenfalls erneut tauschen - wenn es unsere Spezies dann überhaupt noch gibt. Vielleicht werden wir ja auch durch KI abgelöst und geraten unter das Joch irgendwelcher vernetzten Meerschaumpfeifen zB. 
Mein persönlicher Rückzugsort für die bevorstehenden Rückzugsgefechte, soviel ist klar, wird die Kunst sein. Ihr Wesen, ihre Methoden zu bewahren, halte ich für die wichtigste Aufgabe des Konservatismus, denn wer wäre bereit, güldene Sternthaler in Orchestergräben regnen zu lassen, aus denen Ligety und Gluck empor glucksen, wenn nicht wir? 
Die Kunst wird immer stärker sein als KI, denn neben Intelligenz (kann, muss aber nicht) ist die Liebe ihre wichtigste Zuthat. Kein Elektronengehirn hätte sich jemals die „Zauberflöte“ ausdenken können, von Sun Ras Solar Myth Arkestra ganz zu schweigen. 
Ebensowenig wie an die KI glaube ich an PC, „Political Correctness“. Sprechvorschriften sind mir ein Gräuel, aber da ich privat in der Regel Sütterlin schreibe, bemerken nur wenige, wenn ich „Student“ oder ähnliche Reizwörter zu Papier bringe. Dass ich die „alte“ Rechtschreibung verwende und je nach Lust und Laune sogar Thal, Thon, Thor, Thal, Thräne, thun und Thür schreibe, nämlich gemäß den Rechtschreibregeln des Jahres 1901, lässt mich in den Augen progressiver Sprachwächter als ein Fall für verschärfte Gesangspädagogik im psychiatrischen Setting erscheinen, mindestens.
Leider können mich meine Sütterlinkenntnisse in den sozialen Netzwerken nicht schützen. Neulich etwa bei Twitter: Es ging um das Verbot von Faschingsverkleidungen in Kitas, welches eine Hochschullehrkraft aus Berlin-Mitte befürwortete, weil ein Indianerkostüm beim Kind rassistische Stereotype implementiere und sich Native Americans zudem auf den Schlips getreten fühlen könnten. Ich kommentierte, dass ich als Kind viel Cowboy-und-Indianer gespielt habe und nach meiner Erfahrung alle Kinder am liebsten Winnetou bzw dessen Stammesmitglieder gespielt hätten. Weiß wollte niemand sein (Ausnahme: Old Shatterhand). . Außerdem, so schrieb ich, ähnele Winnetou dem Heldentypus eines Robin Hood, dessen Rebellion gegen die (rassistische) Tyrannei uns Kindern als positives Rollenvorbild gedient habe. Den Hinweis, dass sich kaum ein Apache durch das Spiel an deutschen Kitas gestört fühlen dürfte, verkniff ich mir. Trotzdem wurde ich von einer Diskussionsteilnehmerin sogleich geblockt. Nun gut, so ist das im Internet. Warum bleibe ich auch nicht bei meinen Postkarten, die ich seit einiger Zeit voller Begeisterung an meine Gattin schicke, am liebsten täglich. 
So konservativ ich privat sein mag - vom politischen Konservatismus halte ich nicht viel. Die meisten seiner Rezepte erscheinen mir untauglich, etwa die Rückkehr zum Nationalismus, zum „Europäischen Konzert der Großmächte“ oder zum völkischen Denken, vom Leugnen der Klimakrise ganz zu schweigen. Wunsch und Wirklichkeit sind allzu oft nur mit der Brechstange in Einklang zu bringen, und wo erstmal die Brechstange zum Einsatz kommt, ist auch der Baseballschläger nicht weit.
Nein, ich pflege meinen Konservatismus lieber privat, das ist gesünder für alle. Und jetzt rein in die Kotze und raus an die frische Luft. Mein Luftschiff legt ab. 



Mittwoch, 4. Dezember 2019

Deutsche Sprichwörter, die sich nicht durchsetzen konnten (3)



„Muss I denn" ist aller Laster Nummernschildmusik


Trau, Schein, schäm


Schlag ein Ei drüber und mach die Wanne weiß


Große None, beste Bohne


Kein Hess‘ sah je Renate Unkraut jäten


Blinde Kuh und Schnaps dazu


Ein Augenaufschlag wie der Second Service von Guy Lacoste


Also, sprach Zarah, Puszta!


Der blaue Planet muss pusten


Im Morast grundloser Ekstase tragen die Leichen ein Lächeln im Gesicht


Sterben ist der schönste Tod


Unterm Dirndl spielt das Panzernashorn Halma


Auch die Nasenhaare werden weiß


Weh dir, Feudel! Bald schon liegst du ausgewrungen im Parkett


Der Lausbub züchtet Rüben hinterm Traualtar


Ketchup ist das Blut der Äcker


Nur kleine Leute arbeiten als Kolibri 


Beim Fingerhakeln hilft kein Daumendruck


Am Urinal trifft sich die Welt


In der Kunst hat die Demokratie nichts verloren


Am Schenkel erkennst Du seinen Senkel


Wer eine Ampel zum Frühstück verzehrt, hat allzeit freie Fahrt


Bildung ist das Gnadenbrot der Reptiloiden




Freitag, 29. November 2019

Deutsche Sprichwörter, die sich nicht durchsetzen konnten (2)



Kein Handy schneidet, Haupthaar, Dir die Spitzen


In den Tropen pupen Popen lieber als im Köln Dom


Mit einer Armlänge Abstand muss die Hebamme hartzen


Aus den Laugen, aus dem Siff


Wer den Taler verzehrt, hat Gold im Mund


Alle Wetter, lallten die Schauerleute, und es roch nach Regenbogenfahne


Für jeden echten Torero sind Blue Jeans ein rotes Tuch


Die Axt im Kopf erspart das Frauenzimmer


Auf dem Richtplatz jammert keiner, dass die Nase läuft


In der Sauna trägt kein Ritter Kettenhemd


Alle Großen stehen auf einer Kiste


Die Zwille des Menschen kann Zwerge verletzen


Drei Knöpfe machen noch keinen Hosenstall


Kein Regenwurm braucht Wadenwickel 


In jeden Topf passt ein Teckel


Wahre Schönheit gibt es nur in Wilhelmshaven 


Auch über Herne leuchten die Sterne


Andere Töchter haben auch schöne Mütter


Früher hat Ford Escort Service angeboten


Mittwoch, 27. November 2019

Deutsche Sprichwörter, die sich nicht durchsetzen konnten (1)



Mit Krümel, Kehrschaufel und Besen kannst auch Du Gedanken lesen


Auf dem Berg trägt die Nixe Gamsbart


Lieber breit im toten Winkel als tot in Reit im Winkel


Wenn die Stadt sich schlafen legt, trinkt die Laterne Lumumba


Ein Sattler füllt keine Mägen


Zeig mir eine Fingerkuppe, und ich führe Dich durchs Gebirge


Für Arbeit fehlt dem Fleißigen die Muße


Ein Schillerlocken stapelnder Postillion macht das Pferd stottern


Brillenträger, Schinkenhäger


Kein noch so müder Bienerich ist im Honig je ersoffen


Unter gepuderten Perücken gibt es keine Schankwirtschaft 


Ist das Spiegelei schwarz, muss der Hungrige weißeln 


Kein Gartenzaun trank je Latte Macchiato


Wer taub sein will, hört nur kreischende Kreide


Ohne Salz schmeckt sogar Würzburg fade


Für den Christbaum ist Weihnachten tödlich, sprach Philosoph Fichte 


Die schwarze Null ist kein Loser aus Afrika


Kahn ruderte mit den Armen und sah seine Bälle davonschwimmen


In jeder Lüge steckt ein Schrei nach Liebe


Es sprach die Hupe: Es gibt nichts gutes, außer man tutet


Ohr weia, stöhnte das Hörorgan, ich muss mein Läppchen abgeben.









Montag, 4. November 2019

Duemila 2000



Vor einigen Jahren sah ich in München ein merkwürdiges Veloziped: ein antikes Klapprad mit zwei Gepäckträgern und übergroßem vorderen Schutzblech, eigentümlich geformter Sattelstütze und trapezförmiger Rahmengeometrie. Der Anblick begeisterte mich spontan, und ich ging dem Gefährt sogar ein paar Schritte hinterher, willenlos wie eine Motte im Lichtkegel. In der darauffolgenden Nacht träumte ich ein fesselndes Abenteuer: Ich verfolgte rennend Rainer Calmund, der in einem Matrosenanzug auf dem gesehenen Klapp-Solitär strampelte; ich stolperte, fiel in einen Swimming-Pool gefüllt mit Frischkäse und erwachte schweißgebadet. 


Unlängst durchstöberte ich ziellos das Internet, machte auch Halt bei „ebay Kleinanzeigen", und gab den Suchbegriff „Klapprad" ein, intuitiv, ins Blaue hinein. Müde scrollte ich mich durch die angezeigten Modelle, und plötzlich, gewissermaßen mit einem lauten „Klapp!", war ich wach. Das war es, das Rad von damals, das Klapprad meiner Träume. „Duemila 2000" las ich. Aha, so heißt das Modell. Ein Name wie Honig. 


Als Angehöriger der Generation 50+ kann ich mich natürlich an die vielen Verwendungen der Zahl „2000" erinnern - immer dann, wenn etwas besonders futuristsch wirken sollte, kühn, fern: Video 2000, BMW 2000 Coupé, Blume 2000, Odyssee im Weltraum (ok, der Film hieß „2001", aber egal). In der Berliner Lützowstrasse gab und gibt es sogar das „Kumpelnest 3000", eine Kultkneipe, deren Name sich, wenn ich‘s richtig interpretiere, über die Milleniums-Manie der 20.Jahrhunderts lustig macht(e). 


Meine Frau, Besitzerin eines Ebay-Kleinanzeigen-Accounts, übernahm die Verhandlungen, und bald war man sich handelseinig. Der Besitzer wohnte in Ladenburg, einem Ort, der mir gänzlich unbekannt war. Der Besitzer bestand darauf, dass sein stählerner Schatz abgeholt werden müsse, und guter Rat war teuer. Wie nach Ladenburg kommen? Die Zeit drängte, wie jeder weiß, der schon mal das Phänomen des „Coup de Foudre" erlebt hat. Fahrradliebe auf den ersten Blick - das Herz klopft wie am Stilfser Joch kurz vor Erreichen der Passhöhe, der Mund ist trocken und im Bauch klappern die berühmten Schmetterlinge mit ihren Flügelmuttern. 


Glücklicherweise befand ich mich auf Tour, „Gute Frage" im Duett mit Berhard Hoëcker, und mein lieber Bühnenpartner und unsere Tourmanagerin Renate erklärten sich bereit, das Objekt meiner Begierde nach unserem letzten Auftritt in Reutlingen auf dem Rückweg nach Köln abzuholen und im Savoy zu deponieren, meinem Basislager für alle Dreharbeiten, die ich in der Domstadt regelmäßig  zu absolvieren habe. 


Die Abholung geriet zur Szene aus einem Agentenkrimi: Da der Besitzer am Tag der Transaktion arbeiten musste, erhielten Renate und Bernhard die Anweisung, ein bestimmtes, am Straßenrand abgestelltes Auto anzusteuern, einen Mercedes A-Klasse, und in dessen Kofferraum, so versicherte mein Handelspartner, würde das zusammengeklappte Zielobjekt warten. Ich war per Live-Video dabei, als Bernhard Hoëcker die Kofferraumklappe öffnete und die karierte Pferdedecke zurückschlug. Ein Schrei der Verzückung entfuhr meiner Kehle, ich sägte mit der Becker-Faust ein imaginäres Oberrohr entzwei, und anschließend deponierten meine Leute einen Umschlag mit abgezähltem Bargeld in einem toten Briefkasten nahebei. 


Einige Tage später reiste ich spät abends in Köln an und schleppte das Klapprad vom Hotel-Gepäckraum höchstpersönlich in mein Zimmer. Satte zwanzig Kilo liessen mich anerkennend schnaufen. 20 Kilo! Das ist noch echter, schwerer Schwedenstahl, nicht dieses magersüchtige Carbon-Kroppzeug, aus dem heute leider immer mehr gedrechselt wird, von der Schuheinlage über Greta Thunbergs Atlantic-Jolle bis eben zum Hi-End-Rennrad. Nein, mit dem Duemila 2000 sieht man beim Tragen einen beleibten Schmied vor sich, der im ölgefleckten Unterhemd mit einem Vorschlaghammer auf rotglühende Rohre einprügelt, nichts für Hungerhaken und Diätmäuse. 


Angekommen in meinem Zimmer hängte ich das „Nicht stören!" -Schild vor die Tür und studierte den stählernen Körper eingehend, strich sanft über die gold-grüne Lackierung und zog die beiden Lenkerbögen aus ihrem Futteral. Das Duemila hat nämlich nicht einen Lenker, sondern zwei Holme nach Art eines Bonanzafahrrades, Easy Rider auf Italienisch, mit genoppten Griffen, welche mir sofort meine Kindheit herbeizauberten. Natürlich, dieses prickelnde Griffgefühl begleitete mich, bis ich zu Beginn meiner Pubertät vom Bonanza- auf Hollandrad umstieg. Die Noppen massieren die Hände, bis heute eine probate Methode, um tauben Flunken vorzubeugen. 


Provisorisch entfaltete ich den Rahmen, dann kümmerte ich mich um dem Sattel. Seltsames Ding. An seiner Spitze mit der Sattelstütze befestigt, die sich eine Handbreit tiefer per Schanier aufklappen lässt. Um die Sattelhöhe zu verstellen, schiebt man also nicht das eine Rohr ins andere, sondern man entfaltet mehr, oder, wenn man klein ist, weniger. Erst bei höchstmöglicher Sattelstellung erklärt sich die Grundidee des Designers, nämlich ein angedeutetes Trapez oder Parallelogramm oder Rhomboid, bei dem allerdings eine, nämlich die obere Linie fehlt. Der Designer erwartete offenbar, dass der geneigte Velozipädist im Geiste die fehlende Linie hinzufügt - und genau so kam & kommt es auch. Deutlich meinte ich zu spüren, wie sich ein starkes Band zwischen diesem Drahtesel-Designer und mir entspann; ich fühlte mich ernst genommen, nicht unterschätzt, sondern gewürdigt, aufgenommen in die verschworene Gemeinschaft jener Kundigen, die unvollständige Trapeze im Geiste zu vervollständigen wissen. 


Mit hochrotem Kopf widmete ich mich nun dem Hauptscharnier, wollte die beiden Rahmenhälften fest miteinander verschrauben. Ohne Erfolg. Ich nestelte energisch am silbernen Arretierhebel herum, aber enttäuscht vermerkte ich, dass alle meine Versuche zu einer höchstens labbrigen Fixierung führten - immer klapperten, wackelten die Rohre, immer blieben einige frustrierende Millimeter Spiel. „Passt, wackelt, hat Luft" mag ja in vielen Lebenslagen stimmen - aber auf dem Fahrrad hat man’s doch lieber grundsolide. Ach was, beschied ich, notfalls werde ich auch ganz ohne Arretierhebel, mit unverbundenen Rohrhälften das Duemila genießen, fahren, verehren. Wäre ja noch schöner, sich von derlei Petitessen ins Bockshorn jagen zu lassen. Morgen früh, so sagte ich meiner italienischen Zimmergenossin, werden wir eine Werkstatt aufsuchen und Deinen offenbar dysfunktionalen Arretierhebel durch eine einfache Mutter austauschen lassen, und obendrein kriegst Du Luft in die platten Reifen. Und mir war, als würde das Klapprad nicken, womit auch die Frage beantwortet war, ob es mich wohl verstehen würde. Und dann entfaltete ich den Ständer, der das schöne Geschöpf sogleich sicher stützte, stellte es ans Fußende meines Hotelbettes und betrachtete es im Schummerlicht noch lange, bis mir die Augen zufielen und ich einschlief, mit seligem Lächeln im Gesicht.


Am Morgen las ich mich während des Frühstücks in die Entstehungsgeschichte des Duemila ein: Cesare Rizzato aus Padua hatte sich von den zwei Hoffnungsträgern seiner Ära inspirieren lassen, der Weltraumfahrt und der Atomenergie. So wie die NASA für die Saturn-Rakete, die Mercury- und die Apollo-Kapseln jeweils ganz neue technische Lösungen suchte und fand, so erklärte auch Rizzato traditionelle Zweirad-Elemente wie das versenkbare Sattelrohr kurzerhand für überholt und ersetzte es durch seinen Klappmechanismus. Der Kernenergie huldigte Rizzato mit seinem Logo: Einem Atom mit zwei Elektronen. Könnte Helium sein, oder Sauerstoff, wenn ich nicht irre (Chemie war mein Problemfach; ich verbrachte den Unterricht im Oldenburger Café Klinge, und dass ich keine null Punkte kassierte und mich somit ums Abitur vmbrachte, verdanke ich nur der beherzten Intervention meines Tutors, der mich zum Krisengespräch mit meinem Chemielehrer nötigte. Der Deal war: Ich gehe in den Unterricht, bekomme einen Punkt, und das Abi ist sicher). 

Rizzato jedenfalls schuf ein Rad, dessen Emblem heute Verstörung oder Schmunzeln verursacht, kommt drauf an, wie man veranlagt ist. Die Lobpreisung des Atomzeitalters, die Verherrlichung der Raumfahrt führte Rizzatos Firma nur bedingt zum Erfolg: Nur wenige Jahre später sattelte Rizzato um auf die Konstruktion unauffälliger Räder, jedenfalls relativ, unter dem Markennamen „Ceriz", und das Duemila war Geschichte. 


Neun Uhr. Nur die Fahrradwerkstatt am Kölner Hauptbahnhof war bereits geöffnet; ich schob mein Duemila hinein und erklärte, dass der Hauptscharnier leider nicht vollständig schließe. Ob man mir mit einer einfachen Mutter helfen könne? Der Mechaniker nickte verständig, und wir gingen daran, das Scharnier zu lösen. Aber der Hebel ließ sich gar nicht entfernen - er schien mit der Mutter per Gummizug verbunden. Des Rätsels Lösung: Das Scharnier ist gleichsam ein integrierter Schraubenschlüssel. Technik, die begeistert. Ich schraubte die innenliegende Mutter mit dem Außenschlüssel fest, pumpte Luft auf die irgendwann nachgerüsteten Reifen (die Originalbereifung stammte von Pirelli, wie der Verkaufsprospekt seinerzeit stolz verkündete), und somit war mein Duemila startklar. Auf geht’s beim Schichtl. 


Huch, ist das klein. Nun bin ich von Natur aus lediglich 1,69 m lang und ein relativer Sitzriese, will sagen: Meine Beine sind besonders kurz, vielleicht vom vielen Lügen im Fernsehen. Eigentlich müsste mir jedes beliebige Kinderrad passen. Ich stieg ab, um die Höhe des Sattels zu kontrollieren. Tatsächlich, das war bereits die maximale Sitzhöhe. Ein zusätzlicher Zentimeter ließ sich ergaunern, indem man die Sattelstütze leicht nach hintern überdehnte - mit der Folge, dass der Sattel schief stand - oben die Spitze, das breite Endstück dahinter leicht abfallend. In der gängigen Fahrradsitztheorie heißt es ja, der Sattel solle waagerecht eingestellt sein. In diesem Spezialfall jedoch schien es sinnvoller, wenigstens in die Nähe einer angedeuteten Beinstreckung zu kommen als in die Nähe vollendeten Sitzkomforts. Ich nestelte noch mehrfach an den Sattelscharnieren herum, dann ergab ich mich meinem Schicksal. Bequem geht anders, aber bekanntlich hat alles im Leben Vor- und Nachteile - so auch die Sitzposition auf einem Duemila. Nein, ich korrigiere: Der Besitz eines Duemila mag Vor- und Nachteile haben, die Sitzposition selber ausschließlich Nachteile. Andererseits sagt mir meine velozipedistische Lebenserfahrung: Besser zu tief als zu hoch sitzen. Durchgestreckte Beine können die Knie reizen, bis hin zum stechendem Schmerz nebst unausweichlichem Fahrtabbruch. Zu tief sitzen sieht albern aus, verschwendet Energie - aber es ist das kleinere Übel. 


Ich schwang mich aufs Rad und rollte vorsichtig hinunter zum Rhein. Ok, soo unbequem ist der Sattel nicht. Ähnelt einem Mofasattel, eine grandiose Sattlerarbeit. Zwei Sorten Leder, gold und grün - passend zum Rest der Lackierung. Und noch bevor ich den Schicksalsfluss der Deutschen erreichte, hatte ich mich mit meiner emporragenden Sitzecke arrangiert. Umsichtig verlangsamte ich vor Bordsteinkanten und anderen Hindernissen. Wer weiß, was der alte Rahmen an Stößen erträgt? Langsam fasste ich Vertrauen, beschleunigte auf 15 km/h, rutschte testhalber auf meinem Mofasattel herum, wagte ein stolzes Grinsen. Ja, wir waren unterwegs, mein Duemila und ich. „Ich werde immer gut auf Dich achtgeben" flüsterte ich ihm zu, und eine Träne rollte meine Wange hinab. Nein, es war nicht Rührung, die mir die Augen anfeuchtete, sondern der herbstliche Fahrtwind. Jedenfalls nicht nur. 




The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

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