Samstag, 2. Februar 2019

Tränen in der Nacht



Kleiner Nachtrag zum Thema „Wiegetritt auf dem Klapprad": Welches war meine schwerste Krise? Da muss ich nicht lange nachdenken. Frühsommer 2015. Es war mal wieder nachts, etwa halb drei Uhr. Am späten Vormittag war ich in Bremerhaven gestartet, nachdem ich am Abend zuvor einen Auftritt in Helgoland absolviert hatte. Nun hielt ich Kurs auf Berlin. Ja, Berlin habe ich schon aus ganz unterschiedlichen Richtungen angesteuert - diesmal halt von Bremerhaven aus. 




Vorhin hatte ich mich noch über ein ulkiges Strassenschild beömmelt, 200 km sind rum, ich bin Richtung Danneberg unterwegs, auf meinem Klapprad. Links blubbert die Elbe. Die Nacht ist trocken und mondlos. Leichte Hügel geht es rauf und runter, mein Körper ist warm, alle Systeme sind intakt. 

Dass Wiegetritt auf dem Birdy gefährlich ist, weiss ich noch nicht, jedenfalls steige ich bergauf im größten Gang aus dem Sattel. Irgendwas eiert. Zunächst kaum merklich. Ich geniesse die Stille, keine Autos in Sicht. Umso auffälliger drängelt sich plötzlich ein ungewöhnliches Geräusch in meine Ohren. Ein feines Schleifen. Die Eier-Amplitude wird größer, das Schleifen lauter. Kein Haus, kein Licht weit und breit. Jetzt bemerke ich, wo das Schleifen herkommt: vom Vorderrad. Nanu! Testhalber bremse ich. Klappt einwandfrei. Seltsam, das Schleifen kann doch eigentlich nur von den Bremsen kommen? Der nächste Hügel. Rauf mit dem Speck! Das Eiern fühlt sich jetzt richtig eierig an. Keine Einbildung, nein, da ist ein Achter im Rad. Naja, kann man haben. Denke ich und unterdrücke meine Panik. Inzwischen schleift es richtig laut, und mein Tempo wird rapide gedrosselt, obwohl ich mit Macht in die Pedale trete. Ich schlucke trocken, steige ab. Vollkommene Stille umfängt mich. Nur mein pochendes Herz beschallt die Dunkelheit. Ich schiebe zwei Meter. Das Vorderrad blockiert, es schlurft über den Boden. Als hätte man Sekundenkleber auf die Achse gegossen. Ich richte meine Stirnlampe auf den Reifen. Der Mantel liegt, nein, er presst sich an die Gabel. Das ganze Rad ist verbogen, wie eine Vinylschallplatte, die zu lange in der Sonne gelegen hat. Und jetzt? Ich betaste die Speichen. Manche sind locker, hängen ohne Spannung apathisch herum. Ich versuche sie mit den Fingern zu drehen. Geht nicht; dafür bräuchte man ein Spezialwerkzeug, das ich nicht dabei habe. Das dollste an diesem Defekt: Das Rad lässt sich nicht einmal schieben. Ich kombiniere unwillig: Wenn man ein Rad nicht schieben kann, dann muss man es...tragen. Ja. Ruhig, Brauner. Panik bringt jetzt gar nichts. Immerhin hat mein Handy noch Strom. Es gibt ja Mobilitätsapps. Mal schauen... 

Also, um kurz vor halb fünf geht ein Bus von einer Haltestelle, die nur vier km weit weg ist. Wohin der fährt, ist ja im Grunde egal. Ich will lediglich in die Zivilisation; weiterfahren geht eh nicht. Also schultere ich mein Birdy und stapfe auf der Landstraße Richtung Dannenberg. Klack Klack klicken meine Radschuhe auf dem Asphalt. Alle paar Minuten wechsele ich die Tragschulter. Nach einer Stunde stehe ich an der Haltestelle am Stadtrand von Dannenberg. Schonmal gut. Der Fahrplan stimmt mit meiner App überein. Läuft! 



Jetzt eine Stunde verstreichen lassen. Ich setze mich ins Wartehäuschen und wickle sämtliche verfügbare Ersatzkleidung um meinen Körper, denn der friert mit leisem Zittern vor sich hin. Die Sitzposition ist leider zu unbequem zum Schlafen, und als mich die Müdigkeit zu übermannen droht, ist es schon viertel nach vier. Wenn ich jetzt einschlafe, verpasse ich noch den Bus! Ich vertrete mir die Beine, und als die ersehnte Abfahrtszeit naht, packe ich alle Sachen wieder sorgfältig in den Rucksack, klappe das Rad zusammen und trage es auf die andere Straßenseite, wo mein Retter halten müsste. Dort ist eine Schule, davor eine Rabatte mit kniehohen Sträuchern. In der Ferne nähert sich der Bus, pünktlich wie die Maurer, hurra. Ich bücke mich, um das Birdy anzuheben, mein Retter naht...ich imaginiere einen Ritter auf weissem Pferd, gleich darf ich aufsitzen...und...der Bus...fährt vorbei! Ich bin perplex, lasse das Birdy fallen, laufe auf die Strasse, blicke dem leeren Transportmittel hinterher. Der fährt mit hoher Geschwindigkeit stadteinwärts. Hat er mich übersehen? War ich hinter der Rabatte abgetaucht? In der Ferne erspähe ich einen Kreisverkehr. Ah, mache ich mir Mut, den nutzt er sicher zum Wenden, und dann kommt er wieder und lädt mich ein. Der Schelm, will mir wohl einen Streich spielen, haha! 

Das Geräusch des Busses wird immer leiser. Und ist nicht mehr zu hören. Ich stehe immer noch auf der Strasse und blicke ihm hinterher. Stumm. Leer. Blass. So verharre ich minutenlang, dann schultere ich mein Klapprad und folge dem Bus. Bald erreiche ich den Kreisverkehr; der Bus ist weiterhin verschwunden. Nein, fauche ich, das kann nicht sein. Welch bodenlose Unverfrorenheit. Wenn ich den Fahrer in die Finger bekomme, dann...ich...ich komme aus Bremerhaven hierher, und jetzt...Tränen rollen meine Wangen hinab. Nein, weinen ist übertrieben, massregele ich mich. Erstmal Kaffee. Dahinten ist eine Tankstelle geöffnet. Kochend vor Wut falle ich mit der Tankstellentür ins Haus und frage die Kassiererin, einen Tick zu laut: „Wissen Sie, wer den Bus fährt? Der Halunke hat mich sitzen lassen! Wo kann ich mich beschweren?" Die junge Frau ist unsicher, was sie antworten soll. Nein, den Fahrer kenne sie nicht. Auch wisse sie nicht, wo ich mich beschweren könne. Beim Busunternehmen halt. Aber sie könne mir einen Kaffee anbieten. Den trinke ich, und dabei recherchiere ich, dass ein Zug von Dannenberg nach Lüneburg fährt, um 12 nach 7. Nun liegt Lüneburg nicht gerade auf dem Weg nach Berlin. Ganz im Gegenteil. Aber das ist völlig egal. Hauptsache weg. Und so trage ich mein Rad zum Bahnhof, der gar nicht soo weit entfernt ist, warte dort noch ein Weilchen, und dann ist der Ärger auch schon fast wieder verraucht. Nicht zuletzt, weil es am Dannenberger Bahnhof so eine enorm einladende Gastronomie gibt (die um diese frühe Uhrzeit leider noch nicht geöffnet hatte): 



Was ich gerne hätte: Ein Erinnerungsfoto meines Gesichts, wie ich auf der Strasse stehe und dem Bus hinterher blicke. 

Was ich inzwischen immer dabei habe: Einen Nippelspanner. So heisst das kleine Werkzeug, mit dem man Speichen wieder in die Felge einschrauben kann. 
Ein Mechaniker hat mir mittlerweile erläutert, wie‘s überhaupt zum Defekt kam: Je kleiner die Räder, desto grösser die Kräfte, die beim Wiegetritt auf die Speichen einwirken. Also auf 20-Zoll-Rädern immer schön im Sattel bleiben. 




Geweint hatte ich beim Radeln schon mal, und zwar 2005 beim 24-Stunden-Mountainbike-Rennen im Münchener Olympiapark. An diesem tollen Wettrennen habe ich viermal teilgenommen: Zweimal als Einzelstarter, einmal im Zweierteam mit Uschi Disl und einmal als Kommentator (das war am anstrengendsten). 

Als Einzelstarter wiederum war ich einmal mit Betreuern dabei, als Mitglied eines Teams, einmal ohne. Ganz alleine, ohne Auswein-Schulter. 

Mitten in der Nacht war damals mein Schuh kaputt gegangen. Ein Cleat, dieser Verbindungshaken, mit dem man mit der Pedale verbunden ist und an dieser ziehen kann, hatte sich gelöst und war futschikato. Heul. Ich löste das Problem dann auf peinliche Weise: Ich schaute mich im Fahrerlager in der Olympiahalle um, und als gerade keiner guckte, montierte ich vom Schuh eines Wettbewerbers ein Ersatzteil ab. Ja, ich hab‘s geklaut. Und bin nicht stolz drauf. Aber immerhin konnte ich weiterfahren und musste nicht mehr weinen. Blöd, wenn man keinen Betreuer mitbringt, an den man das Problem delegieren kann.

Das Bild ganz oben zeigt mich übrigens nicht auf dem Birdy, sondern auf‘m Rennrad. Mein Freund Stefan hat es geschossen, ebenfalls 2005, auf der geinsamen Fahrt von Köln nach Paris. Damals hatten wir keine so enormen Probleme, ausser, dass wir vom Navi ab und zu auf die Autobahn geleitet wurden und uns dann wunderten, wie breit der Radweg plötzlich war. Merke: Zu zweit weint es sich nicht so leicht. Und angekommen sind wir auch:




Freitag, 1. Februar 2019

Venezia Klapp Solo Nonstop




Meine längste Klappradfahrt - und gleichzeitig meine längste Solofahrt überhaupt- führte mich im Juni 2015 von Garmisch-Partenkirchen nach Venedig. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob man alleine durch die Welt gondelt oder gemeinsam mit Freunden. Alleine kann‘s auch schon mal richtig bitter werden, wenn man sich schlapp fühlt und keine Schulter da ist, an der man sich ausweinen kann. Ok, heute gibt‘s Handys, und ich neige dazu, auf meinen Alleinfahrten mitten in der Nacht meine Frau anzurufen, und wenn die nicht rangeht, irgendwelche alten Bekanntschaften, Kollegen oder auch Leute, die ich gar nicht kenne. 
Los nachmittags in Garmisch, Wetter sieht gut aus: einer der heissesten Tage des Jahres, aber keine Gewitterneigung. Es geht über Mittenwald nach Innsbruck. Zirler Berg: Das ist eine steile Passstrasse hinab ins Inntal, für Fahrräder verboten, aber ich bin sie mittlerweile dreimal gefahren. Nachts besonders aufregend, weil man unten die Lichter der Großstadt sieht, vor sich nur den kleinen gelben Kegel der Fahrradfunzel, und ansonsten ist alles schwarz. Diesmal aber rolle ich tagsüber runter, mit ordentlich Karacho, damit ich, wenn die Polizei auftaucht, schon lange über alle Berge bin. Ich bin sonst gar nicht so‘n Verkehrsrowdy, aber wenn man von Garmisch nach Innsbruck will, gibts nur zwei Möglichkeiten: den Fernpass und eben den Zirler Berg. Auf dem Fernpass herrscht noch mehr Verkehr, und die Route ist unverhältnismäßig länger. 
Abendessen in Innsbruck, dann rauf auf die Brenner-Bundesstrasse, deren gleichmäßige, moderate Steigung sehr angenehm zu fahren ist. Immer wieder unterquert man die Autobahn und ihre gewaltigen Brückenbauwerke. Die Laune ist gut, die Nacht ist lau. Als ich an der Passhöhe ankomme, beginnt gerade die Geisterstunde. Viel ist hier um 12 nicht los, obwohl theoretisch  allerhand geboten wird. Es gibt hier oben sogar einen Puff! Mir reicht allerdings ein kleiner Unterstand mit einem Kaffeeautomaten. Blick aufs Navi: Ich habe mich für die kürzeste Route entschieden, deutlich unter 400 km, durch Gegenden, die mir völlig unbekannt sind. Hauptsache schnell da; ich will nämlich in Venedig den Nachtzug mit Schlafwagen erreichen, in dem ich ein Single DeLuxe-Abteil mit eigener Dusche reserviert habe. Fahrradstellplätze gab’s keine mehr - das war überhaupt der Grund, mit’m Birdy die Alpen zu überqueren; das Klapprad kann ich zur Not auch mit ins Bett nehmen. So. Austrinken und runter nach Italien.

Auf der breiten Bundesstraße wird man auch mit einem Westentaschenrad ganz schön schnell, und so sause ich wie ein Kugelblitz durch die Nacht, bis mich hinter Brixen die Polizei anhält und mit bösen Blicken auf den neben der Strasse verlaufenden Radweg schickt. Doof. Schmal und düster ist es hier. Als ich Bozen erreiche, haben dort noch die Tanzlokale auf, und Horden aufgedresster Halbstarker rauchen Fluppen auf der Strasse. Weg da! Ich will an die Adria! Kurze Rast an der Etsch; ich lasse aus Versehen einen Handschuh liegen. Bei diesem Bächlein...in der Nähe von...egal. Jedenfalls da. Ein pinker Latexhandschuh. Wer ihn findet, bitte melden. Danke. Dann gehts links einen steilen Berg hoch. Noch einen, mit garstigem, lauten Tunnel. Keine Schulter zum Anlehnen weit und breit. Ich rufe jemanden an, nachts um halb vier, eine verschlafene Stimme meldet sich, die Strasse wird noch steiler, ich fluche, keuche, brauche beide Hände am Lenker, lege auf. Zefix; ist das steil. Immerhin gehts irgendwann  runter. Und ich lese „Val di Fiemme" Ah, davon habe ich gehört! Da gibt‘s einen berühmten Skimarathon! Jetzt kommt der Knackpunkt meiner Tour: Ich habe mir zwar die kürzeste Route ausgesucht, aber die Kürze wird mit vielen Höhenmetern erkauft - denn auf mich wartet ab hier der Manghenpass. 40 km lang, 16% Steigung. 13 Kehren rauf, 10 runter. Ruhigen Trittes wuchte ich mich himmelwärts. Im Sitzen. Mein Birdy kann vieles, aber Wiegetritt (also: Fahren im Stehen) geht nicht. Da können sich die Speichen lockern, wie ich schonmal leidvoll gelernt habe. 
Es dämmert, und ich schwächele. Steige ab. Mampfe einen Riegel, recke die Glieder. Weiter zu Fuss. Ich schiebe mein Rad zur Passhöhe, und als ich oben ankomme, ist es taghell. Auf zum traditionellen Erinnerungsfoto mit Passhöhen-Schild. 2042 m bin ich hier über Normalnull, Triester Pegel. Hossa, sind da viele Aufkleber am Schild. Vielleicht auch so ein dubioses Ritual: So wir wir Kettenkumpanen das Schild fotografieren, so bekleben es andere. „Sticker Desease" ein Fachbegriff, den mein kürzlich verstorbener Interimsmentor, der Liverpooler Architekturprofessor David Dunster ersann.
Fotokontrolle: Der manische Irrsinn in meinem Gesicht ist gar nicht mal gespielt. Dafür implodiere ich während der Fahrt runter; allzu monoton läuten die Glocken der Kühe, und kein Auto weit und breit, das hupen könnte. Mehrfach falle ich in Sekundenschlaf. Gefährlich mit 60 Sachen auf einem kleinen Fahrrad! Bewährte Taktik: Nasenhaare ausreissen. Dann muss ich nämlich niesen und weinen und bleibe kurz wach. Aber allzu oft sollte man solche Fahrten nicht machen. Irgendwann hat der Schutzengel Ausgang, und dann..
Der Talort heisst Villa. Oder Castelnuovo, irgendwas in der Art. Schwer gähnend rolle ich ein, und es herrscht bereits brütende Hitze, schwitz. Als mich am Marktplatz eine Eisdiele anlacht, lache ich sofort zurück. Spaghettieis zum Frühstück- das lasse ich mir gefallen. Warum trage ich eigentlich diesen Skitourenhelm? Der hat zwar eine gute Beleuchtung, aber keine Lüftungsschlitze. Was soll‘s; irgendwas ist ja immer. Jetzt einfach immer am Ufer der Brenta entlang. Super Radweg, nur leider immer wieder wegen Bauarbeiten gesperrt, und um Umleitungen darf man sich selber kümmern. Glasigen Blicks studiere ich, was mein Navi empfiehlt. 40 km extra? Ich glaube, es hackt! Rauf auf die Strada Statale 47, eng eingezäumt von Leitplanken. Hier sind die Laster nicht so galant wie auf der B5, sie hupen dir ins Hohlkreuz und überholen mit einer Kinderhand Abstand. Testa di minchia! Faccia di merda! Also wieder runter ins nächste Kaff. Erstmal Spaghettieis. Und eine Cola zum Runterspülen, danke!. Vorteil der Eisdielen: Sie sind subarktisch klimatisiert, und mein Schweiss darf kurz antrocknen. Dann weiter, nach Bassano del Grappa. Ende der Alpen, ab jetzt Flachland. Ich werde immer langsamer, schleiche durch Käffer wie Castelfranco Veneto; es riecht nach Hochsommer und Schweinezucht. Immer zwei Stunden fahren, dann Helm ab zum Spaghettieis, dann weiter, so lautet die Parole des Tages. Später erfahre ich, dass es sich tatsächlich um den heißesten Tag des Jahres in Norditalien handelte, also perfekt für solche eine Spaghettieis-Verkostung (insofern ist „Nonstop" natürlich Quatsch mit Erdbeersoße). Ist ja schon doll, dass es Spaghettieis überhaupt in Italien gibt, da es doch 1969 in Mannheim erfunden wurde, und zwar von Dario Fontanella. 
Uff, was für ein langer Nachmittag. Schließlich: Mestre. Jetzt muss man nur noch die Auffahrt zum Damm finden, der Venedig mit dem Festland verbindet. Ich verfranse mich hoffnungslos, fahre mehrfach im Kreis. Fluche. Jammere. Suche Schultern. Wähle Telefonnummern. Esse Eis. Schließlich: Da ist er! Der Damm! Rüber!

Ich geniesse die lange Gerade, schwelge in Genugtuung. Der Kilometerstand, am Ortsschild: 411. Direkt hinterm Schild wartet eine Pizzeria auf mich. Das dichte Treiben auf der Strasse verstopft mein Sensorium; ich habe Mühe, die schweren Klimperklüsen offen zu halten und mir gleichzeitig den weichen Pizzalappen einzuverleiben - bin wohl schon auf Eis geeicht. Herr Ober, zahlen bitte!

Matt schiebe ich mich und mein Rad rüber zum Bahnhof. Jetzt kommt die Belohnung: Erster Klasse Schlafwagen, (neben Klapprad) die beste Reisemethode der Welt. Solange noch einige wenige Schlafwagen durch Europa rollen, gehen mir die Ziele für meine Klappradtouren nicht aus. 



Nachts von Hamburg nach Berlin



Manchmal komme ich auch einfach an. Zum Beispiel mit dem Fahrrad. Ich liebe es, mich mit kleinem Gepäck auf ein Rad zu setzen und von A nach B zu gelangen - auf möglichst gerader Linie. Die Aussicht, einen fernen, lockenden Ort anzusteuern, entzündet in mir ein heroisches Feuer, das alle Schmerzen und Zweifel verbrennt (ausser in Bayerisch-Eisenstein). Für solche Touren kommen alle möglichen Räder in Frage, aber Klappräder haben es mir besonders angetan. Pardon, eigentlich sagt man „Falträder" zu dem Radtypus, den ich meine, aber das Wort „Klapprad" klingt einfach knuffiger. Mein Lieblingsmodell ist das „Birdy" von Riese und Müller. Es ist für alle Strassen dieser Welt tauglich, sehr bequem, und zudem ist die Rückreise in der Bahn mit einem Birdy einfacher: Man braucht kein extra Radticket, und auch die Reservierung entfällt, die in vielen Zügen für Fahrräder Pflicht ist. 

Eine meiner schönsten Klappradtouren war eine Nachtfahrt von Hamburg nach Berlin, und zwar auf der legendären Bundesstrasse 5. 

Juni 2016. Nachmittags gibt‘s Pressegespräche im Hochbunker auf dem Heiliggeistfeld; der Sender HISTORY stellt die Reihe „Geschichtsjäger" vor, an der ich mitwirkte. Dann schultere ich meinen kleinen Rucksack und radele bei leichtem Nieselregen ostwärts durch die Rushhour nach Geesthacht. Ich lasse das Atomkraftwerk links liegen und erklimme das Hochufer Richtung Lauenburg. In Boizenburg an der Elbe kehre ich in die Döner-Pizzeria am Marktplatz ein und futtere mich durch die Dämmerung. 

Bei der Weiterfahrt auf der B5 erfreue ich mich nur spärlichen Autoverkehrs; wahrscheinlich nutzen die heutigen Automobilisten lieber die Autobahn. 1830 wurde die spätere Reichsstrasse 5 fertiggestellt- sie war damals die erste sogenannten Kunststrasse im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin. 



Alle paar Meilen säumen kleine Obelisken die Fahrbahn, auf denen man ablesen kann, wie weit man noch zu fahren hat. In der DDR war dies übrigens die einzige Transitstrecke nach West-Berlin, die man mit dem Fahrrad befahren durfte (Nach meiner Tour lernte ich sogar jemanden kennen, der die B5 in den frühen 80ern abgeradelt ist, noch als Teenager, ein Radsportler aus Westberlin. Soll sehr abenteuerlich gewesen sein, und Pausieren war nur an den dafür vorgesehenen Plätzen gestattet). 



Mitternacht in Ludwigslust. Hier ist Halbzeit, was vorm Schloss mit einem besonders hohen Obelisken angezeigt wird. Ein kurzer Umweg führt mich zu einer geöffneten Tankstelle, an der ich mir einen heissen Kaffee einflöße. Kurzer Plausch mit der komplett ungläubigen jungen Dame an der Kasse. Nach Berlin? Mit dem Klapprad? Dat geht doch gar nicht! Doch, und ob. Sie schüttelt noch immer geschockt den Kopf, als ich davon rolle. Die Strasse gehört jetzt mir - und seltenen, aber dafür überdimensional großen Lastzügen aus Polen und Dänemark, die auf dieser Strecke unterwegs sind, um die Maut einzusparen. Schätze ich mal. Man hört sie schon in großer Entfernung herannahen, der Lärm schwillt an, ich halte mich streng rechts, möchte mir die Ohren zuhalten, muss aber den Lenker festhalten, da mich, sobald der Riesenlaster vorbei gebraust ist, ein Windsog umzureißen droht. Puh. Wenigstens lassen die Brummis ausnahmslos maximalen Sicherheitsabstand. Ein Hoch auf Rücklicht und Reflektoren! 




Bei Rambow (guter Name!) wird’s kurz etwas zäh und ich schalte mein Handyradio ein, aber bald wieder aus, weil ich befürchte, dass die Lastzüge denn doch meine volle Konzentration erfordern. Perleberg, Kyritz. In der dortigen Innenstadt trabt ein Fuchs hinter mir her. An einer roten Ampel kommt er bis auf die berühmte Armlänge an mich heran, eh ich mit pochendem Herzen flüchte. Hat er Tollwut? Wenigstens bin ich jetzt richtig wach. Etwas später, in Wusterhausen/Dosse (es ist schon fast hell) kommt mir die Strasse enorm bekannt vor. Na klar! Hier bin ich doch erst neulich auf’m Tretroller entlanggerollert, als ich nämlich in einer Landgaststätte aus meinem Zeltbuch vorgelesen habe! Lustig; da gibt es in Deutschland tausende Strassen, und dann sowas! 



Mit Sonnenaufgang nimmt der Autoverkehr zu, und ich wechsele auf verwunschene Weglein. Nauen, die Rundfunkstadt. Das ist doch direkt vorm Berliner Ring, oder? Wenn ich jetzt vom Rad fiele, könnte ich schon fast sagen: „Ich hab’s geschafft!" Ich kehre zum Frühstück in einen Kiosk mit Schankraum ein, in dem eine des Deutschen ohnmächtige Vietnamesin von einem Hobbyangler erbarmungslos zugetextet wird. Welche Wobbler und Blinker beim Zander ziehen und welche nicht. Ab und an wirft sie etwas ein, was ich nicht verstehe und ihn nicht weiter beirrt. „Also, beim Barsch verhält es sich so..."

Der Weg durch Falkensee ist nochmal etwas unangenehm wegen des starken Berufsverkehrs. Ausserdem verfahre ich mich ein bisserl, weil die Konzentration langsam nachlässt. Und so ist die Freude groß, als ich um 11 Uhr nach 300 und ein paar zerquetschen km am Ku‘damm mein Hotelzimmer beziehe. Jetzt ausschlafen, morgen bin ich bei Kerners „Quizchampion" im ZDF zu Gast. 

Mittwoch, 30. Januar 2019

Barfuss in Paris



Auch ich habe schon einige Male vor der Ziellinie die Segel gestrichen. Nein, manchmal habe ich‘s noch nicht einmal an die Startlinie geschafft. Zum Beispiel bei meinem Vorhaben, einen Marathon barfuß zu absolvieren. In fast jedem Sommer der letzten Jahre kriegte ich irgendwann einen Rappel, zog die Schuhe aus und rannte los. Nach ein paar Wochen Aua-Aua meinte ich, die Füsse müssten sich doch so langsam an spitze Steinchen gewöhnen. Ich trainierte weitere Wochen, die Saison der Herbstmarathons nahte, ich untersuche bereits die Streckenbeläge bei den Läufen in Köln, Berlin, Oldenburg, und dann, als es ernst wurde, die Fußsohlen wegen allzu vieler Splitter zwickten und griffstarke Pinzetten zum Einsatz kamen, verließ mich der Mumm. Meine längste Barfußstrecke waren 35 km langsamster Trimtrab, vorwiegend auf Asphalt, weit spannender war jedoch ein Barfuß-Besuch in Paris, als ich nämlich im Maison de la Poesie am ersten internationalen Einkaufszettelsammler-Kongress teilnahm. Indem meine Frau und ich in der Hauptstadt der Mode und des guten Geschmacks ohne Schuhwerk erschienen, sorgten wir für allgemeine Verunsicherung. Verstörte Blicke begleiteten uns buchstäblich auf Schritt und Tritt.

 Diese Deutschen, mochten die Etepetete-Pariser denken, haben einfach nicht alle Tassen im Schrank (bzw Socken am Fuss, wie man auf französisch sagt). Nun ja; wartet nur, eines Tages habe ich die notwendige Lederhaut und laufe barfuß 42 km. 
Grandios gescheitert bin ich auch 2006, als ich mit einem uralten Klapprad Deutschland durchfahren wollte. Zweck der Aktion war ein vielteiliger Reisebericht über Land und Leute. Jeden Tag, so plante ich, könnte man 100 km radeln, sich dann in eine Pension einquartieren, den Klapprechner einschalten und lostippen. Aber: Bereits am Ende der ersten Etappe, die mich von Füssen nach Mindelheim führte, verliess mich die Lust. Das klobige Klapprad liess mich bergauf schwitzen, und am Abend wollte ich nicht mehr schreiben, sondern einfach alle viere von mir strecken. Am nächsten Tag übernachtete ich in Ulm, erklomm vorher aber das Ulmer Münster und ging anschließend ins Theater („Antigone") um auch ja ordentlich Material für mein Reisetagebuch zusammenzutragen. Bis ich die vielen Eindrücke schriftlich in Form gebracht hatte, war es bereits früher Morgen. Am nächsten Tag fuhr ich übernächtigt weiter nach Stuttgart, und passend zum Schlechtwettereinbruch am Nachmittag beschloss ich spontan, die Reise zu beenden.
Ähnlich waschlappig präsentierte ich mich einige Jahre später im Hochsommer, als ich alleine am Stück von München nach Prag radeln wollte. Ich bestieg morgens um fünf mein Rennrad und kam gut voran. In der Mittagszeit ergriff mich ein Anflug von Langeweile, genau in dem Moment, als ich den Bahnhof von Bayerisch-Eisenstein passierte, an der Grenze zu Tschechien. Ein Zug näherte sich. Ich hielt an, studierte den Fahrplan, begriff, dass die einfahrende Bahn nach München fahren würde, und eine knappe Minute später sass ich auch schon im Waggon zurück nach Hause. Bis heute weiss ich nicht ganz genau, welcher Hafer mich da stoch. Aber soo gross wird die Lust aufs Weiterfahren wohl nicht gewesen sein, gell? 
Kapitulationen wie diese behalte ich in der Regel lieber für mich, um meinen Status als beinharter Durchhalter nicht zu gefährden. Ich erzähle Ihnen dies nur, weil ich Ihnen vertraue. Bitte behalten Sie’s für sich. Normalerweise habe ich keine Motivationsprobleme, zumal, wenn’s um das tägliche Training geht. Ich treibe schon so lange Ausdauersport, dass ich vergessen habe, warum. Um-den-Pudding-Laufen ist Teil meines Alltags wie Zähneputzen. Watt mutt, dat mutt. Wenn ich zwei Tage hintereinander nicht trainiere, packt mich diffuser Missmut. Mein Blutdruck sinkt gefährlich,und  ich gebe leise Laute des Unmuts von mir, ähnlich wie ein krankes Meerschweinchen. Alles eine Frage der Konditionierung.


Manchmal geht es auch gar nicht ums „Durchhalten" im engeren Sinne. Da gibt‘s zB die Parseier Spitze (im Bild hinter mir). Das ist ein Berg in den Lechtaler Alpen, der nördlichste 3000er der Alpen. Die Parseier Spitze gilt als nicht unheikel in ihrer Besteigung; das Gestein ist brüchig, die Wegführung unklar. In den frühen 2000ern galt es an der Südseite einen Gletscher zu überwinden, dessen Randkluft sich mit dem Abschmelzen des Ferners von Jahr zu Jahr vergrößerte. Nun ja, hörte ich mich mehrfach seufzen - dieser Berg ist nichts für mich. Man kommt halt nicht über den Gletscher zum Gipfelaufbau. Vor zwei Jahren gelang meinem Sohn Cyprian eine Solobesteigung, und er berichtete, der Gletscherrand sei kein Hindernis mehr. Als wir im letzten Sommer gemeinsam hinaufwanderten, war der Gletscher tatsächlich geschmolzen, aber dafür hinterte uns ein starker Fönsturm am Erklettern der Gipfelpyramide. Es reichte lediglich für den benachbarten Gatschkopf. Wenn ich jedoch ganz ehrlich bin, war ich gar nicht so unglücklich über den Sturm, denn so hatte ich auch weiterhin eine Ausrede. In Wirklichkeit hatte ich nämlich einfach Schiss (Bitte auch hiervon nichts weitererzählen, vor allem nicht meinem Sohn. Der lacht sich dann kaputt). 

Dienstag, 29. Januar 2019

„Finisher" ist auch nur so‘n fucking Anglizismus.


Es muss nicht immer das Finisherfoto sein. Zur wirkmächtigen Außendarstellung, auch zur instrospektiven Beweisführung („Schau, was für ein toller Hecht du bist!") taugen auch andere Utensilien. Sehr beliebt etwa ist die Finishermedaille, die jedem Läufer, der es ins Ziel schafft, um den Hals gehängt wird. Von meinen Finishermedaillen würde ich mich nur im Notfall trennen, obwohl ich sehr wohl weiss, dass der Materialwert normalerweise unter fünf Euro liegt, dass es sich um banalen Tinnef handelt, ohne jeden künstlerischen Wert, und dass es sich - natürlich - eh nur um einen besonders niedlichen Ausdruck beschämender Eitelkeit handelt. Trotzdem. Ich habe sie alle aufbewahrt. In einem Schuhkarton im Keller.

Wer weiss; vielleicht sage ich eines Tages ja doch zu irgendjemandem: „Darf ich ihnen meine Finishermedaillensammlung zeigen?" Hm. Eher unwahrscheinlich - zumal ich ja eine überaus präsentable Nasenhaarschneidersammlung besitze.
Auch die Urkunden: Gott, ja. Wohin damit? Im Wohnzimmer aufhängen? Nee, das kriege ich nicht hin. Am Ende denken meine Gäste noch, ich wolle ihnen imponieren (ja, was denn sonst?). Doch auch ohne Gäste wäre mir eine solche Beweihräucherung gar zu plump. Zumal nicht alle auf Urkunden notierten Zeiten und Platzierungen zum Auftrumpfen taugen. Aber im Gegensatz zu irgendwelchen Zeitungsartikeln, die über mein Wirken als Fernsehfachkraft geschrieben wurden, und die ich seit Anfang der 90er durchaus lese, aber kaum sammeln würde, könnte ich eine Urkunde nur mit Mühe im Altpapier entsorgen. Dabei kann so eine Urkunde: Nichts. Anders als Finisher-T-Shirts, die ich daheim als Schlafanzug nutze. 

Oder Aufnäher, mit denen sich zur Not Löcher im Anzug kaschieren lassen. Immerhin. Solche praxistauglichen Erinnerungsstücke lassen sich natürlich auch selber machen. Als ich mal alleine nach Mailand radelte, kaufte ich mir beim dortigen H&M ein paar Schuhe:

Alltagstauglichkeit ermöglicht es dem kultivierten Prahlhans, seine Botschaft unter dem Deckmantel funktionaler Notwendigkeit unter die Leute zu bringen. Ein gutes Beispiel ist diese wasserabweisende Handyhülle: 

Nur blöd, dass ich zu den unverbesserlichen Smartfonisten gehöre, deren Blick potentiell immer am Display klebt - wenn denn die Sicht nicht durch Hüllen versperrt ist. Ich habe das gute Stück schnell einer neuen Verwendung zugeführt. Es dient nun als Futteral für meine Fussnagelknipser. 
Als engagierter Kaffeetrinker habe ich ein ausgeprägtes Faible für bedruckte Tassen. Beim Ostfriesland-Marathon gab‘s damals zB auch eine:
Seit 16 Jahren ist diese Tasse bei mir im Einsatz. Ein gutes Stück Lebensweg, das sie mich da inzwischen begleitet. Und bei jedem Schluck denke ich an einen lauen Sommertag mit Steinfliegenschwärmen im Gegenlicht, drei Runden à 14 Kilometer und ein nettes Laufgespräch mit Udo Möller, damals von Beruf Redenschreiber des Hannoveraner Bürgermeisters. Udo, wenn Du dies liest: Melde Dich mal! Geht‘s Dir gut? 
Für den großen Kaffeedurst ist eine andere Tasse besser geeignet, nämlich diese hier: 

Auf der Rückseite ist ein Bild des Markusplatzes in Venedig zu sehen. Der Humpen erinnert nämlich an eine Rennradtour von Füssen nach Venedig. Ziel war allerdings nicht nur Venedig, sondern vor allem die Zahl „600" - eine Kilometerdosis, die sich ergab, indem zunächst Verona großzügig umkurvt, dann Venedig angepeilt wurde. Etwa 20 ambitionierte Radler waren damals unterwegs, es mag 2006 gewesen sein, und wir nutzen unter professioneller Anleitung des österreichischen Crossradmeisters Peter Presslauer die enormen Möglichkeiten des Windschattenfahrens. Zweierreihe, man verbringt einige Minuten vorne und tritt kräftig in die Pedale, dann lässt man sich links und rechts zurückfallen, um sich hinten wieder der Karawane anzuschließen. Dort fährt man im maximalen Windschatten, und das fühlt sich so an, als müsste man kaum treten. Anschließend pedaliert man sich locker wieder nach vorne durch, ehe man eine halbe Stunde später erneut ein Weilchen Führungsarbeit leisten darf. In Venedig kamen wir auf diese Weise nach 23 Stunden pausenloser Fahrt an - eine Stunde schneller als erwartet. Und wo wir gerade bei 24-Stunden-Unternehmungen sind: Die nächste Tasse ist mit dem Logo von „Ski Heul" bedruckt, einer exquisiten Skilanglaufveranstaltung, die ich höchstselbst gemeinsam mit meinem Sportfreund Hannes Zacherl organisierte. Hierzu bei Gelegenheit mehr. 
Ach, „Finishen" ist auch überbewertet. Meine verehrte Kollegin Anke Engelke wollte vor erlichen Jahren Marathon laufen. Anke ist eine beinharte Perfektionistin und überlässt nichts dem Zufall. So bereitete sie sich gründlichst vor und flog rechtzeitig vor Tag X nach Montreal (ähnlich wie ich damals in Winterthur wollte auch sie anonym unterwegs sein, darum Kanada). Sie akklimatisierte sich planmäßig, lief los, und nach 200 m fragte sie sich: „Was mache ich hier eigentlich?". Und dann beendete sie ihr Rennen. DNF („Did not finish", ein Insider-Terminus, so ähnlich wie ROTFLOL - nur weniger sportlich). Merke: Man kann durchaus in Würde aufgeben! Der grösste Not-Finisher ist gewiss Göran Kropp, schwedische Bergsteigerlegende, der sich per Rad in Stockholm aufmachte, um den Mount Everest zu erklimmen. Als er nach langer Fahrt ankam und zum Basislager aufgestiegen kam, kam es just zur berühmten Katastrophe 1996, in deren Verlauf acht Alpinisten ums Leben kamen. Göran Kropp liess den Gipfel sausen und half stattdessen bei der Suche nach den Vermissten. Anschließend radelte er wieder nach Hause. Leider starb er sechs Jahre später selber bei einem Kletterunglück, erst 36 Jahre alt. Nein; dann lieber finishen! 

Der Angeber



So mancher mag sich fragen: Warum läuft man 100 km? Warum laufen all die Marathonis überhaupt? Vor wem laufen sie weg? Vor sich selber? Hm. Vor sich selber wegzulaufen ist, wenn‘s jetzt um die Physis geht, leicht und schwierig zugleich. Natürlich kann man vor jener Person flüchten, die man eine Sekunde zuvor an einem anderen Ort war, etwa einen Meter weiter hinten. Wir alle verändern uns unaufhörlich, werden immer älter, ganz abgesehen von der Heisenberg’schen Unschärferelation, die, wenn ich die Grundidee nicht ganz missverstanden habe, annimmt, dass ein Atom nie zweimal am selben Ort sein kann. Man muss also gar nicht hetzen, wenn man seinem vormaligen Ich ade sagen will. Man kann auch einfach sitzen bleiben, abwarten und eine Tasse Tee trinken. 

Hochkompliziert ist auch das „Laufend zu sich selber finden". Wie sagte der Schauspiellehrer Hugo Egon Balders zu seinen Eleven? „Hören sie nicht in sich hinein - da ist nichts!" Manch einer läuft und läuft, stößt aber, wenn überhaupt, auf eine Person, die er nie sein wollte. Und dann gilt es Reißaus nehmen - was aber eben nicht funktioniert. 



Kann man sich vor Sorgen, Problemen, Alltagsödnis in den Ausdauersport flüchten? Ja, das geht. So wie man sich auch in Alkohol oder Liebesromane flüchten kann, allerdings löst Alkohol die Probleme nicht nur nicht, sondern man bekommt obendrein eine Fahne. Das Bücherlesen verursacht keine Fahne, kann aber, so wie Alkohol, zu Schwindel und Herzklopfen führen. Das Herz wiederum wird auch vom Laufen trainiert, darüberhinaus jedoch auch große Teile der Skelettmuskulatur (sehr schwere Schmöker können die Haltearme trainieren, das wars dann aber auch). Das angelesene Wissen kann im Alltagsleben hilfreich sein, so wie der strunzgesunde Body des Athleten zB auch beim Möbeltragen hilft, etwa wenn ein Umzug ansteht. Manch Spirituose schmeckt sehr gut - besser als viele Fitnessriegel, und Bücher schmecken holzig. Schwierig zu sagen, was da als Fluchthelfer am wirksamsten ist. 

Jeder Arzt wird konstatieren, dass Ausdauersport die gesündeste Variante ist, aber erstens: Da das Leben im Regelfall mit dem Tod endet, ist Gesundheit zwar ein hohes Gut, aber kein Allheilmittel. Der Sensenmann ist Kenianer hoch zwei, hätte ich fast geschrieben. Zweitens: Natürlich ist moderate Bewegung gesund, aber 100 km eben nicht. Fragen Sie meine Fußnägel. Die Crux an der Sache: Mit einem Ziel trainiert es sich leichter, und das Training selbst ist gesund. Als Neueinsteiger spürt man die positiven Effekte täglichen Trainings nach drei Monaten auf allen Ebenen (so lange sollte man allerdings durchhalten). 

Ist denn auch ein Leben ohne „Flucht" vorstellbar? Vielleicht sogar besser? Anzustreben? Weiss ich nicht. Nach meiner Lebenserfahrung sehnt der Mensch sich aus Prinzip fast immer nach irgendetwas, was gerade nicht verfügbar ist. Schnee. Sonne. Arbeit. Urlaub. Einsamkeit. Zweisamkeit. Das Unterwegs-Sein entspricht der nomadischen Natur des Menschen vielleicht besser, weil er eben unterwegs ist, noch nicht angekommen an einem Ort, von dem er sich ja sowieso schon bald wieder fortwünscht. Immerhin waren unsere Vorfahren täglich mit der Jagd beschäftigt, legten in der afrikanischen Savanne 30 km zurück, womöglich barfuss. Und da war kein „Mann mit dem Hammer" - unser Vorfahr war selber ein Mann mit Hammer. Ja, das „Zurück zur Natur"-Argument ist stark. Andererseits kann man noch so sehr ein Leben praktizieren, das unsere Steinzeitgene berücksichtigt - aus eigener Erfahrung weiss ich, dass man auch beim Laufen den Wunsch verspüren kann, ganz woanders zu sein, nämlich daheim auf der Couch. 

Was ist mit „flow" und „Serotonin"? In einen meditativen Zustand kann man, etwas Übung und Talent vorausgesetzt, hineinlaufen. Dösen in Bewegung. Man denkt an nichts bestimmtes, und zack! ist wieder eine Stunde rum. Die Freuden der Serotonin-Ausschüttung, womöglich gar auf Rauschgift-Niveau („Runner‘s High") sind mir leider nie begegnet. Wahrscheinlich bin ich einfach zu unsensibel. Nein, zu echtem Heroin ist Laufen dann wahrscheinlich doch keine ernstzunehmende Alternative. 



Gerne hört man auch von laufenden DAX-Vorständen und ähnlichen Zeitgenossen den Satz: „Beim Laufen kommen mir die besten Ideen". Nein, mir ist beim Laufen noch nicht viel eingefallen. Ich habe Ideen überhaupt höchstens dann, wenn ich muss. Eine Idee beim Laufen fände ich auch gar nicht so günstig, weil ich sie dann notieren müsste. Also Handy raus, eintippen, und das kann ich nur im Gehen, besser noch im Stehen. 

Ein schönes Argument für Sport, oder, ums mal etwas runterzubrechen, „Bewegung an der frischen Luft" ist die Möglichkeit, mit kleinstem Aufwand größte Abenteuer zu erleben. Wer erstmals 100 km zurücklegt, oder Marathon, oder vielleicht auch nur 5 km, betritt eine persönliche Terra inkognita, wird zu Christoph Columbus in eigener Sache. Einfach raus inden Park oder in die Nachbarstadt. Oder hundert mal um den Block. Kostet nichts und sorgt für tolle Anekdoten, die man später im Kaminzimmer des Altersheims zum Besten geben kann. Und darum geht‘s doch im Leben. 

Schnöde formuliert kann man natürlich sagen, es gehe vielen Läufern um Angeberei. Ich-besessene Narzissten, die ihre Mitmenschen mit den ewig gleichen Fotos belästigen, zB. laufend vor irgendwelchen Bergpanoramen. Ja. 

Sonntag, 27. Januar 2019

„Irgendwann musst du nach Biel!"


...so nannte der Laufbuchautor Werner Sonntag 1978 seine „Notizen eines 100 km- Läufers" - ein (inzwischen vergriffenes) Büchlein, dessen Titel zum Mantra ganzer Läufer-Generationen wurde. 
Mit 14, als Leichtathletik beim DSC Oldenburg, las ich am schwarzen Brett unserer Trainingshalle erstmals eine Ausschreibung für einen 100 km-Lauf. Die Einzelheiten habe ich vergessen, aber ich erinnere mich gut an den Schauer des Erstaunens, der meinen Rücken hinab rollte. 100 km laufen? Das soll gehen? Peter Maurer, unser Trainer, erläuterte ganz sachlich, dass es sich um eine nicht gar so ungewöhnliche Wettkampfstrecke handele, aber die Verblüffung blieb.
Als ich wieder mit dem Laufsport begann, drängelte sich bald auch diese Erinnerung wieder ins Bewusstsein. Man könnte, man müsste...
Werner Sonntags Bücher wurden, da ich über einen längeren Zeitraum hinweg eh nichts anderes als sportwissenschaftliche Fachwerke las, Leib- und Magenlektüre, und so prägte sich auch mir dieser Satz ein: „Irgendwann musst Du nach Biel".
2011 war es dann soweit, und ich reiste mit Familie zum Schweizer Röstigraben. Mein Training hielt ich für ausreichend, der längste „lange Lauf" war knappe 60 km lang gewesen. 
Die „Bieler Lauftage" sind perfekt organisiert. Start ist  um 22 Uhr, man durchläuft lauter laute Dörfer, in denen mit kleinen Straßenfesten die ganze Nacht hindurch den Läufern gehuldigt wird. Als Schlüsselstelle gilt der „Ho-Tschi-Minh-Pfad", der das dritte Drittel einläutet, ein rüder Wirtschaftsweg mit unregelmäßigen Wackersteinen als Garnitur. Wer sich in der Dunkelheit die Haxen brechen will, hat hier gute Chancen. Das Besondere im Jahr 2011: Es regnete bis km 80 ohne Pause, dann ging der ungewöhnlich beständige Schnürlregen in gewöhnliches Schauerwetter über. Das Gute hieran: Überhitzen konnte niemand. Der Nachteil: Frieren ging durchaus, vor allem, als am Morgen die Kräfte schwanden. Dies wiederum kann die Psyche auf eine harte Probe stellen. Die größte Gefahr, so lernte ich jedoch, besteht für die Zehnägel. 
Aber eins nach dem andern. Ich bestaunte die Strassenfeste, querte Maisfelder, Höhenzüge und waldige Fluren, plauderte mit meinen Sportskameraden; die erste Hälfte war ein gar heiteres Geläuf. Den verschlammten Ho-Tschi-Minh-Pfad schaffte ich sturzfrei, aber seufzend. Die erzwungene Änderung des Laufrhythmus paart sich mit der Rutschgefahr auf den Steinen zu einem Stimmungskiller, zumal, wenn der Trainingsumfang vielleicht eben doch nur sehr knapp ausreichend gewesen sein sollte. 
Warum läuft man in solcher Lage überhaupt weiter? Mit einsetzender Dämmerung lief ich vor allem gegen die Kälte an. Ein Mitläufer hatte sich einen großen Müllsack als Kälteschutz übergezogen- ihn beneidete ich von ganzem Herzen. Heimtückisch spuckte mir der graue Morgen ins Gesicht. Ab km 80 streute ich Gehpausen ein. „20 Schritte gehen, dann laufen bis zum nächsten Km-Schild" - so versuchte ich mich zu motivieren. Aber von Schild zu Schild schwand die Disziplin. Bald ging ich genausoviel wie ich lief, und als ich nach 11 Stunden und 45 Minuten im Ziel eintraf, war ich zu schlapp, um mich ehrlich zu freuen. Der Gesichtsausdruck, den ich beim Zieleinlauf trage, verrät eine gesunde schlechte Laune mit einem Schuss blanker Verzweiflung, allerdings auch einem Teelöffel Erleichterung und einer guten Prise Hoffnung. 
Blöd war ein kleiner Orga-Fehler, der dazu führte, dass ich anschließend zum Hotel gehen musste, weitere drei Kilometer im Plitsch-Platsch-Modus. Dorten legte ich mich umgehend in die Badewanne und erschrak: Sechs Fußnägel fehlten. Der permanente Regen hatte Haut&Horn unbarmherzig aufgeweicht, die Auftrittserschütterungen die Nägel abgelöst. Vor langen Läufen besser die Nägel kurz schneiden! Weiss man ja eigentlich. 
Nach dem Vollbad kam ich aus der Wanne nicht mehr heraus. Meine beiden mitgereisten Söhne mussten mit einem artistischen Hebemanöver ihren Vater aus der Horizontale befreien. Anschließend ging es ins Auto. Zum Mittagessen kehrten wir in Lindau ein, wie immer, wenn ich in der Schweiz an Wettkämpfen teilnahm. Lustig diesmal: Ich war unfähig, die zwanzig Meter vom Parkplatz zum Restaurant alleine zurückzulegen, musste beidseitig gestützt werden. Die Erholung dauerte lange, schon weil sie ja erst abgeschlossen war, als ich wieder über alle Fußnägel verfügte - und das dauerte Monate.
Biel war mein härtester Lauf. Aber irgendwann muss da ja bekanntlich jeder hin. 

The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

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