Freitag, 23. Juni 2017

In eisigen Höhen

Oh holde Kunst - mit diesen Worten beginnt Schuberts "An die Musik", unser erstes Lied im öffentlichen Vortrag, angestimmt abends um neun mit weit geöffnetem Fenster. Teresas Stimme füllt die Straße, kollidiert mit den vorbeirauschenden PKW, und ich kose möglichst behutsam die dazugehörigen Klaviertasten. Zunächst ist der Gehsteig unterm Fenster menschenleer, aber bald nähern sich Passanten, die neugierig stehen bleiben und lauschen. Einer unserer Nachbarn, ein erklärter Klassik-Fan, eilt aus dem Haus und feuert an. Mit ruhigen Atemzügen versuche ich meine Aufregung zu bekämpfen, was aber kaum gelingt. Immer wieder patze ich, und jeder Patzer füttert die Neigung, mit den Fingern zu zittern und danebenzugreifen. So könnte sich Goethe gefühlt haben, als er das Straßburger Münster erklomm, und bei Schuberts "Liebhaber in allen Gestalten", dessen Text ja von Goethe ist, versagen meine Hände völlig; ich scheue wie ein Höhenängstling an der Schlüsselstelle - nichts geht mehr. Anderes Stück, neues Glück. "Die Lotusblume" von Schumann. Das ist schön leicht, ich kann's sicher, bin wieder im Tritt. Auch "Träume" von Richard Wagner gelingt fehlerfrei, "Der Nussbaum" gar nicht schlecht. Auf dem Gehsteig steht nun eine ganze Gruppe; unser Nachbar hat sich einen Klappstuhl geholt und setzt sich drauf. Ein Flaneur fragt nach italienischen Arien. "Il bacio" von Arditi gelingt erst im zweiten Anlauf, der Versuch, Brahms' "Vergebliches Ständchen" konfusionsfrei darzubieten, ist vorerst, äh, vergeblich. Ein überlautes Motorrad prescht vorbei. Schweiß tropft auf die Tastatur. "Bravo!" und "Zugabe" knattert das Motorrad. Langsam erkenne ich unsere musikalische Konzeption: "Die sehr gute Sängerin und der extrem aufgeregte Pianist". Sollte man genau so auf die Plakate drucken, aber wir haben ja nur unseren Lettern-Leuchtkasten, leider ohne Zahlen, sonst könnte man eine Anfangszeit festlegen. Fürs nächste Mal gibt es also noch einiges zu optimieren. Die Opernfreunde bitten um Visitenkarten. Sowas haben wir nicht. Ein 10-€-Schein flattert durchs Fenster, dann noch ein Fünfer. Wow. Kein ganz schlechtes Salär für 30 Minuten Konzert - klar über Mindestlohn. Anschließend bin ich fix und fertig. Mein erster Auftritt als Pianist nach 39 Jahren. Verbeugen, Händeschütteln, Fenster zu. Nein, etwas aufregenderes habe ich kaum je erlebt. Und überlebt. Oh holde Kunst, ich danke dir dafür. 

2 Kommentare:

  1. Oh was für eine schöne Idee!
    Ich hoffe sie verbreitet sich in Windeseile, dann hätte ich entspanntere Abende, als wenn ich mir auf meiner Terrasse mindestens 7 verschiedene Fernsehprogramme der Nachbarn anhören "darf"! :D

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