Mittwoch, 21. Juni 2017

Kau, schau, wem

Wie lange ich schon Nägel kaue? Wahrscheinlich, seitdem ich nicht mehr am Daumen nuckele, und dies endete abrupt in einer Unterrichtsstunde der ersten Klasse. Frau Uster adressierte mich, den verträumten Hänfling, mit einem empörten "Wigald! Du lutscht doch nicht etwa am Daumen?" Ich zog erschrocken den Finger aus dem Mund, errötete stumm und nuckelte nie wieder. 

Die ersten Hornknabbereien, an die ich mich erinnern kann, hängen mit meinem 10. Geburtstag zusammen. Die Party daheim in Zickzackhausen verlief womöglich nicht, wie ich sie mir vorgestellt hatte; ich bekämpfte meinen Gastgeberfrust mit enerviertem Kauen, und später haute ich mit der mundmanikürten Pranke auf den Tisch und bat lauthals um Ruhe. Warum? Wahrscheinlich hatte ich mich unbeachtet gefühlt, es war ein Hau nach Liebe, und Facebook gab es ja damals noch nicht - Aufmerksamkeit musste man sich reell erarbeiten, zB durch Blut, Schweiß oder Tränen. 

Seither kaute ich immer, auch in wenig nervositätsgeprägten Daseinsepochen, einfach so, als Oralstimulanz, als Zeitvertreib, als Chipsletten-Substitut. 

Einmal war ich in Hamburg zu einem Casting eingeladen, für einen Werbespot, der ein österreichisches Tomatenketchup der Marke "Felix" schmackhaft machen sollte. Ich dürfte etwa 22 gewesen sein, nahm siegessicher am Tisch mit der zu bewerbenden Flasche Platz, griff vor laufender Kamera nach der Ketchupquetsche und hörte sogleich die Stimme des Reklame-Regisseurs: "Nägelkauer nehmen wir nicht. Der nächste bitte!" Nun könnte man meinen, dass man nach einem derartigen Vorfall die Nagelpflegemethoden hinterfragt, bei mir jedoch verursachte der Tag lediglich Trotz, ausserdem einen gewissen Unwillen, sich fürderhin auf Castings zu präsentieren: Nie wieder war ich bei einer solchen Veranstaltung, und "Felix" habe ich mir auch später niemals auf die Pommes gequetscht, klar. Allerdings gelang es mir im Erwachsenenzeitalter immer besser, die Nägel dergestalt zu bezähneln, dass das Ergebnis nicht ungepflegt aussah - von gelegentlichen Ausrutschern abgesehen, etwa dann, wenn mir das seitlich angrenzende Nagelbett versehentlich zwischen die Beißer geriet und aufgerissen wurde wie eine Chipstüte. 

Circa fünfmal habe ich Versuche unternommen, meine Sucht loszuwerden, immer unter Zuhilfenahme des klassischen "Stop and Grow"-Nagellacks, der per Bitterstoff dem Hornhungrigen klarmacht, was von seinem Appetit zu halten ist. Der Erfolg tritt zuverlässig ein, allerdings liegt die Rückfallquote in meinem Fall bei glatten 100%. Doch so wie Sisyphus immer wieder sein Stein den Berg hinabrollte, so beschäftige ich mich lebenslang mit meinen Nägeln, und zwar mündlich, mal resigniert, mal fiebrig-flamboyant. Sisyphus wird von Camus als glücklicher Mensch beschrieben, und so sitze auch ich lächelnd am Küchentisch; es ist kurz nach vier am längsten Tag des Jahres, und ich habe mir den bitteren Lack auf die Klauen gepinselt. Noch ein Kaffee, dann gehe ich laufen. Die Vögel piepsen schon. 

Montag, 19. Juni 2017

Wandertag mit Stroh, Kohl und Linda de Mol. 

In Leguanos. Und fühle mich damit im Hochgebirge wie die Oulipo-Autoren, die sich immer ein Handycap ausdachten, um die Schreiberei nicht allzu leicht werden zu lassen. Georges Perec etwa, der Anton Foyl erfand, den dicken Roman ohne ein einziges E, und, fast noch besser: in der deutschen Übersetzung gibt's auch keins. Also Wecker um 5, los in Lenggries um 7:20, rauf zum Brauneck, und dann rüber zum Latschenkopf. Von da über den "schweren" Weg (Via Alpina) zur Benediktenwand. Reißerisch-boulevardesker Rundumblick. Geht schon, mit den Dünnschuhen, aber deutlich langsamer als mit Mainstream-Mauken. Ach ja, aufm Kopp trage ich die neue Kreissäge. Schweres Stroh, zumal, wenn es sich mit Schweiß vollsaugt. 

Beim Abstieg zur Tutzinger Hütte gehen mir immer wieder die vielen Kohl-Nachrufe durch den Kopf, und der Spruch "de mortuis nil nisi bene". Warum eigentlich soll man über Tote nur gutes sagen? Ein Facebooker schreibt: "Über Hitler redet man ja auch schlecht". Ein anderer lobt die Jahre unter Brandt und Schmidt als "bunt", findet an Kohl jedoch alles bleiern und oam. Naja; den deutschen Herbst habe ich erlebt, von Mescalero bis Mogadischu; zwischen Brandts und Schmidts Ären gab's doch gewisse Unterschiede. Aber ist eine Weltsicht erstmal in Beton gegossen, gibt's nicht mehr viel zu diskutieren. Wo bin ich? Ach ja, Tutzinger Hütte. Im Wald gerate ich in einen Almauftrieb. Panische, genervte Kühe. Barfuß-Läufer halt, und der Wegschutt ist grob. Nach 25 km erreiche ich Benediktbeuren und ziehe die Schluppen aus. Aua, ist der Asphalt heiß. Ich tunke die Haxen in einen Bach und zähle bis 💯. Ob 🍐Emoticons mochte? Kannte? Hatte Kohl einen Strohhut? Stroh und Kohl ähnelt sich phonetisch, wie mir soheben auffällt, und ich erwäge, bis nach Ohlstadt weiterzuwandern, wegen der Kohnsequenz, oh Wanderlust, begleite mich! Jedoch fallen mir kaum Reime ein, nur L. de Mol - Das war's dann wohl. Jetzt 🚂.


Sonntag, 18. Juni 2017

SUP statt SUV

Klingt wie einer dieser sogenannten Sponti-Sprüche, die früher von sogenannten Freaks an Klotüren geeddingt wurden und in Taschenbüchern gesammelt den Eichborn-Verlag groß und stark gemacht haben (später erfuhr ich, dass die allermeisten dieser Sprüche von Jacky Dreksler erfunden wurden, dem hochverehrten Produzenten von "RTL-Samstag Nacht"). Worauf ich eigentlich hinaus will? Gestern war ich am wunderschönen Wörthsee und bestieg erstmals ein, tja, wie sagt man eigentlich? Ein SUP ist ja nur die Abkürzung des Infinitivs der Tätigkeit, also des Stehauf-Paddelns, während das diesem zugrundeliegende Brett eben lediglich Brett heißt, oder anglizistisch "Board"; man ist "on board", und wenn man dort bleibt, ist alles SUPi, was mir im ersten Anlauf gelang: Ich ging kein einziges Mal von Board, bin ein echtes Stehaufmännchen. Was heißt "SUV"? Special Utility Vehikel, stimmt's? Ein niedersächsischer Spitzenpolitiker wollte mir mal ein solches andrehen, für umme. "Mit'm Touareq kann man sogar Treppen befahren!" Ich antwortete perplex, dass ich nur selten auf Treppen unterwegs sei, auf der A96 gäbe es gar keine, und später erfuhr ich, dass es unter niedersächsischen Regierungsmitgliedern durchaus üblich sei, Kraftfahrzeuge zu verteilen - das läge in der Macht eines jeden VW-Aufsichtsrates, der man als Staatsmann von der Leine eben sei. Wer weiß, ob ich nicht schwach geworden wäre, hätte der Potentat mir ein Board angeboten? Nach dem gestrigen Test kann ich sagen: Während ich SUVs nebst Fahrer von Herzen belächele, finde ich SUPis gar nicht so schlecht. Könnte mir glatt vorstellen, damit eines Tages den Bodensee zu durchqueren. Oder die Leine, längs. Oder den Pazifik. Und sollte ich eines Tages VW-Aufsichtsrat werden, werde ich mich für eine Produktionsumstellung einsetzen: Drahtesel statt Diesel, Muckis statt Motoren, SUP statt SUV. Geschenkt. 

Samstag, 17. Juni 2017

Der Auftrag lautet: Das Vertrauen darf nicht enttäuscht werden.

Kohl. Als er Kanzler wurde, war ich fünfzehn, hätte mich selber eher "links" genannt und stimmte sogleich ein in den Chor derer, die sich für schlauer hielten und Kohl für einen biederen Einfaltspinsel. Es war die Zeit des NATO-Doppelbeschlusses, die Schülerschaft der Cäcilienschule ging geschlossen zur Demo, mit Ok der Schulleitung, und die wenigsten durchdachten wenigstens einmal ernsthaft die Argumente der Gegenseite. Genscher galt folglich als Verräter, die "geistig-moralische Wende" als Irrweg, Verheugen als Held. 

In den weiteren 80ern kümmerte ich mich immer weniger um Politik, bis zur großen DDR-Tournee 1987. Dort waren wir Westler gezwungen, über die Grundlagen nachzudenken. Was ist eine Demokratie, welche Folgen hat die Diktatur? Auf welcher Seite stehst Du? Umringt von Stasi rund um die Uhr wurde ich zum überzeugten Anhänger der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung", und alles, was passierte, nachdem Ungarn im Sommer 89 den Grenzzaun öffnete, erfüllte mich mit prickelndem Glücksgefühl. Kohl schuf in dieser Phase sein Meisterstück, indem er die deutsche mit der europäischen Einheit kombinierte. Besser als Bismarck, viel besser. Kohl ist wahrscheinlich der größte deutsche Politiker überhaupt, und es fühlt sich nicht einmal seltsam an, dies so zu sagen. 

Was Europa angeht, wird er mich auch weiterhin inspirieren. Er gehörte zu jenen, die Schlagbäume zersägten, oder die er mit seinem Gewicht zerbrach, einfach durch Draufsetzen, buchstäblich, als Jugendlicher, und zwar ohne Zustimmung der Schulleitung. Er hat für seine Überzeugung mehr in die Waagschale gelegt als ich bislang. Aber ich kann ja aufholen; es ist noch Zeit. 

Ich persönlich habe durch Kohl aber auch gelernt, wie falsch es sein kann, einen Menschen nach seinem ersten Eindruck zu beurteilen, nach seiner vermeintlich provinziellen Redeweise. 

Vorletztes Jahr bin ich in Landau aufgetreten, in der Pfalz, und ich habe mir im Lokal einen Pfälzer Saumagen bestellt. Nichts spektakuläres, schmeckt wie Bratwurst. Ein "ehrliches", unprätentiöses Essen. Ich stellte mir vor, wie Mitterand das Mahl gemundet haben mag. Dessen Zustimmung zur deutschen Einheit gab es nicht umsonst. Sie kostete quasi einen Euro. Sein Vertrauen musste erkämpft werden, und Kohl hat's geschafft. 

Der Auftrag an uns lautet: Das Vertrauen darf nicht wieder enttäuscht werden, weder bei Franzosen, noch bei anderen Europäern, nicht bei den Russen, und auch nicht bei den Amerikanern.

Danke. 

Freitag, 16. Juni 2017

Gute Nacht - die Show vorm Einschlafen

wurde erfolgreich magnetisiert und aufgezeichnet. Drei sehr unterschiedliche Folgen, und in allen lernte ich entscheidendes über das Schlafen. Jorge Gonzales, der gestern bei mir im Showbett lag, verwendet ein Buch als Einschlafhilfe, aus Kuba, jahrzehntealt. Er hat das Buch schon oft gelesen, kennt jede Zeile, und entschlummert bei der Lektüre zuverlässig und umgehend. Übrigens ist er diplomierter Nuklearökologe, knapp so alt wie ich, und zum Studium reiste er von Kuba in die Tschechoslowakei. Also Sowjetzeiten, Tschernobyl, damals, im kalten Krieg. Wir Veteranen. 

Auf dem Bild trage ich ein sogenanntes Gadget für unterwegs: Ein aufblasbares Reisekissen. Glaube ich. Man kann damit den Kopf auf einer Tischplatte ablegen - eine Schlafposition, die ich noch nie eingenommen habe.

Hier sieht man mich auf dem Weg zur Arbeit durch die Gänge des Thaliatheaters in Hamburg. Unten auf der Hauptbühne laufen "Die Weber" von Hauptmann. Waren die nicht manchmal ähnlich gekleidet wie ich? Trugen nicht bis vor kurzem überhaupt alle deutschen Michel Zipfelmütze? Wenigstens, wenn sie keine Pickelhauben trugen?


Nach 10 Tagen Reiserei und Lampenfieber freue ich mich auf ein paar Tage Rumlungern dahoam. Arbeit ist nichts für mich. Eigentlich habe ich für Arbeit auch gar keine Zeit. 

Mittwoch, 14. Juni 2017

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Im Hotelkellerpool ist das Wasser warm wie Kamillentee, dabei deutlich stärker chloriert. Die Temperatur drückt aufs Tempo; um Schwitzattacken und Kreislaufzusammenbrüche zu vermeiden, bewege ich mich in Zeitlupe von Beckenwand zu Beckenwand. Auf Rollwenden verzichte ich, sie erscheinen mir zu anstrengend, zumal der Pool nur 20 Meter misst und ich eh einen Großteil meines "Trainings" mit Abstoßen & Gleiten beschäftigt bin. Abstoßen & Gleiten: Guter Titel für eine Fachzeitschrift; erinnert an "Abschleppen und Bergen", deren Chefredakteur ich einst in Kanada kennenlernte (arbeitet heute bei "Die Gummibereifung").

Schlappert zähle ich die Bahnen, wechsele lustlos zwischen Brust und Kraul. Mit jeder Bahn, so stelle ich mir vor, dringe ich tiefer in die Erdkruste ein. Jules-Verne-Weh. 

Vorteil dieses Gewässers: Wenig los. Neben mir ist nur ein Mädchen unterwegs, prä-Backfisch, also quasi Fisch, ungegart. Wird sich aber schnell ändern in der Brühe. Als wir uns dem Erdkern nähern, droht sie zum Kochfisch zu werden und steigt aus. 

100 Bahnen sind 2 km, ich komme auf 106, dann wird mir die Magma-Masse zu heiss; ich bekomme kalte Füße und werfe das Handtuch, wie man im Boxsport zu sagen pflegt. D'accord, im Schwimmsport wirft man's nicht, man holt es sich und rubbelt. 

Den Rest des Tages werde ich von Hitzewallungen ereilt. Ungünstig, zumal ich im "Nachtasyl" im Thalia-Theater schaffe, und zwar "Gute Nacht - die Show vorm Einschlafen " für den NDR. Und über Mangel an Wärme kann man sich auch an diesem Drehort nicht beklagen. 🥝 macht auch mit und Wolfgang Trepper, sowie Prof. Till Roenneberger, Koryphäe der Chronobiologie und Erfinder des Begriffs "Sozialer Jetlag". Schöne Sendung. 


The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

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