Donnerstag, 29. Juni 2017

Skandal! 

Auf Langeoog gibt's Dünensingen! Was da wohl erklingt (Tacitus schrieb ja "Frisia non cantat"). Na wartet, das finde ich heraus...

Erstmal kurze Führung. Ein Junge baute zwischen seinem 11. und 21. Lebensjahr die komplette Insel aus Lego nach, ganz alleine, und das Ergebnis ist heute eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten der Insel. Der Tourismus-Chef zeigt mir auch das Müll-Museum, eine Ausstellung rund um das Thema Plastik im Meer. Wie's denn grundsätzlich um den Tourismus bestellt sei? Ganz hervorragend, antwortet er, durch den Terror anderswo kämen immer mehr Leute an die Nordsee. Heute sei ganzjährig Saison. Das Hauptproblem seien die hässlichen Bauten aus den 60er Jahren, die jetzt alle saniert werden müssen. "Jedenfalls ist Langeoog der berühmteste Strand der Welt" sagt er stolz. Warum? "Na wegen der 1 Mio. Überraschungseier, die unlängst nach der Havarie eines Containers an den Strand gespült wurden". Nix von gehört. "Echt nicht? Ischa'n Ding!"

Nachdem ich durch prasselnden Regen von Norddeich nach Bensersiel geradelt bin, komme ich bereits müde auf dem Eiland an, welches durch sein sedierendes Naturell alles und jeden umgehend einschläfert, hätte ich fast geschrieben, nein, einnicken lässt. Zudem habe ich auf der Fähre per Telefon Vorgespräche für Fernsehauftritte geführt, eine für mich grundsätzlich verzichtbare Tätigkeit. Das ganze Elend des deutschen Fernsehens entspringt dieser Unsitte. Vor der Kamera wird immer nur das Konzentrat dieser Telefonate rekapituliert, was zwangsläufig in die totale Ödnis führt, einschläfernd im schlechten Sinne, während Langeoog wirkt wie ein frisch gemachtes Bett - man will sich sofort reinlegen und genüsslich glucksen. Langeoog ist sozusagen das Deutsche Fernsehen in gut. 

Der Saal, in dem ich nach meinem kapitalen Nachmittagsschlaf auftrete, ist gut gefüllt, die Stimmung prächtig. Als Zugabe überreicht mir eine Kassiererin von der Insel zwei Zettel, gefunden am Arbeitsplatz. Auf dem einen steht:

Steht da tatsächlich "Frau"? Nun ja, wahrscheinlich eher "Grau", aber dennoch ist der Zettel eine Preziose; die Schrift ist angenehm alt, und "Brot Grau" sowie "Creme Zahn" verraten eine interessante Neigung zur Inversion. Eh ich jetzt den Weg Rück antrete, schau ich noch beim Turm Leucht vorbei, um einen Blick Panorama zu erhaschen. 

Der zweite Zettel ist vorderseitig nicht so spannend, aber dafür die Rückseite umso mehr: 


Noch Fragen? 




Mittwoch, 28. Juni 2017

Ehe für Aale


Was kümmert sich der Staat eigentlich um die Heiraterei? Die Ehe steht unter dem Schutz des Grundgesetzes, ja, aber warum? Mir leuchtet sofort ein, dass Kinder ein besonderes Schutzbedürfnis haben und jene steuerlich und sonstwie entlastet werden sollten, die sich entschließen, Verantwortung für Kinder zu übernehmen. Aber die gemeine Double-Income-No-Kids-Liaison? Was ist daran schutzwürdig? Kann man das heilige Sakrament der Ehe nicht einfach den Kirchen überlassen bzw. Heiratswilligen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, einen zivilrechtlichen Mustervertrag anbieten, ähnlich einem Mietvertrag? Bonus-Plus: Ein solcher Vertrag könnte bei Bedarf gekündigt werden, zumal, wenn man einen akzeptablen Nachmieter präsentiert, oder aber er verlängert sich "bis dass der Tod euch scheidet". Schließt also die Standesämter und macht Kitas draus - das ist, weiß Gott, wichtiger.


Mein Notgürtel ist fertig. Bin ziemlich sicher, dass dieses Modell Avantgarde ist; irgendetwas sinnvolles muss mit dem Müll, den wir in die Meere geworfen haben, ja passieren. Einsammeln und zu Kleidung verarbeiten. Vielleicht kann man auch Möbel draus basteln, Perücken, Prothesen, Hängematten, Häuser, Straßen, Städte bauen. Eines Tages werden wir alle in alten Fischernetzen leben, und die Aale sagen Dankeschön. 

Zum Conversationshaus, in dem ich gestern auftrat, steht der Gürtel in denkbar scharfem Kontrast. Voll etepetete, der Schuppen. Auf der Bühne steht ein wuchtiger Konzertflügel, und draußen auf der Terrasse plündern ebenso wuchtige Raubmöwen die Teller der Kurgäste. Was mir überhaupt nicht einleuchtet: Warum man hier mit'm Auto fährt. Der "Unique Selling Point" der Ostfriesischen Inseln ist doch gerade die Autofreiheit; die frohe Botschaft, dass es ein Paradies auf Erden gibt, nämlich hier - ruhig, archaisch und friedlich - wird durchs Brummbrumm doch komplett unglaubwürdig. Zudem ist das Eiland im Auto doch binnen Minuten durchmessen - selbst auf dem Rad habe ich ruckzuck alles gesehen. Seltsam. Der Baltrumer Bürgermeister nebenan denkt in die andere Richtung. Er möchte sogar mit "Zonen ohne Handyempfang" werben. Ihm, da bin ich mir sicher, gehört die Zukunft. 


Nach dem Auftritt wurde ich für mein zusammengeklapptes Birdy gelobt. "Das ist aber ein schicker Rollator!" meinte eine ältere Dame, und eine andere sagte, ich würde sie mit meiner neuen Brille an Alexander Dobrindt erinnern. Hm. Unklar, ob ich mich über diese Komplimente freuen soll. Besser wäre natürlich eine Brille aus Plastikmüll. Oder aus Fischbein.

Heute ist Regenwetter, und vor mir liegt eine Radtour von Norddeich nach Bensersiel, immer am Deich entlang. Diese Zeilen schreibe ich noch im Trockenen, nämlich im "Salon" der Fähre von Norderney zum Festland. Es ist 9:30, und ich hätte nicht übel Lust auf einen Grog. Oder einen Pharisäer. Das passt besser zum Ehe-Thema. Ich frag mal, ob's hier sowas gibt.


Dienstag, 27. Juni 2017

Brief von der Borkum-Fäare

Die Fähre, die Emden mit Borkum verbindet, kommt mir ziemlich groß vor. Fünf Decks voller Autos und Schulkinder, die mit ihren Daddelphones sämtliche Steckdosen besetzt halten. Die Klügeren schreiben per WhatsApp an die Lieben daheim. Zwei Mittelstufler am Nebentisch. Schüler 1: Wie schreibt man Fähre? Vau-E-Er-E? Oder so wie Ehre?"  Schüler 2: "Keine Ahnung. Frag mal besser den Lehrer". Schüler 1 (kräht): "Herr Schulte, wie schreibt man Fähre?" Lehrer: "Eff-Ä-Ha-Er-E" Aber der Lehrer ist zu weit weg, die Akustik schlecht. Schüler wundert sich. "Eff-Ä-A-Er-E? Ist ja komisch. Naja, der Deutschlehrer wird's wissen". Und Schüler tippt. 

Wir passieren passable Großfrachter, wohl für den Autotransport, und ich schmökere unter Deck in der Borkumer Zeitung, die mit der Geschichte einer Brieffreundschaft zwischen einer Borkumerin und Karl May aufmacht. Breaking News! 


Unter den Erwachsenen an Bord viele Ruhrpöttler, manche im bezauberndsten Sinne weltfremd. Als ich mir an einem "WMF-Bistro" Kaffeeautomaten einen Cappuccino besorge, indem ich einen einzigen Knopf drücke, äussert eine alte Dame neben mir ihr Erstaunen: "Wie, das kommt da schon fertig gemischt ausse Maschine?" Ich nicke und wundere mich. Gibt's denn solche Maschinen nicht zwischen Duisburg und Dortmund? Die Dame schüttelt entschlossen mit dem Kopf. "Nee, sowat haben wir nicht". 

Die "Kulturinsel" hat 500 Plätze, die Empore nicht inkludiert. Das Gebäude ist 40 Jahre alt und atmet den Charme der Hitparade. Am Bühneneingang findet sich eine beeindruckende Sammlung der Plakate aller Künstler, die hier aufgetreten sind. Los gehts mit: 


Vor meinem Auftritt checke ich ein. Das Hotel Atlantik besticht durch volle Bücherregale auf den Fluren; Generationen von Urlaubern haben ihre Ferienlektüre dagelassen, von John Steinbeck über Konrad Lorenz, Lore-Romane und die Bibel. Bukowski schlage ich zwanghaft auf, komme aber natürlich nicht zum Lesen, klar. 

Borkum wirkt ziemlich städtisch; nicht umsonst sage ich manchmal aus Versehen "Bochum". Mondän ist hier nichts, idyllisch nur wenig. Am Horizont stehen Ölbohrplattformen. Aber vielleicht ist auch nur meine Brille schmutzig. 

Wohnt hier nicht neuerdings Altkanzler Schröder? Ich male mir aus, wie er seine Seele in einer der Klinkerburgen baumeln lässt, auf die Ölbohrplattform blickt und über Rohstoffgeschäfte nachdenkt. Seine Brille ist gewiss sauberer als meine, vermute ich. Dann male ich mir aus, wie es wäre, selber hier zu wohnen, oder selber Altkanzler zu sein. Auf meiner Visitenkarte steht ja lediglich "Shetlandpony a.D." Nein, Bochum ist toll. Aber hier wohnen? Nicht unbedingt. 

Am Morgen nach dem Auftritt gehe ich barfuß am Strand spazieren, sammle Schnüre von zerrissenen Fischernetzen, um mir daraus einen Notgürtel zu fertigen (Hose ist zu groß). Auf dem Rückweg durch die Dünen entdecke ich dann doch noch ein wunderbares Bauwerk: einen gelblicher Kleinkegel, dessen Baumaterial zwischen zwei Pflastersteinen himmelwärts gebuckelt wurde. Bewohner sind nicht zu sehen. Ist vielleicht eine Ferienwohnung, die gerade leer steht: 


Jetzt auf Fähre zurück nach Emden, von dort per Rad nach Norden-Norddeich und weiter nach Norderney. Und wenn mich meine Dispo nicht trügt, sollte ich gleich hier und jetzt Mittagessen; nachher muss alles ganz schnell gehen. Also Saven und ran an die Theke. Es gibt Krabbenburger! 



Montag, 26. Juni 2017

Ich bin Oldenburger! 

Mit dem Birdy morgens bei meinen Eltern los, am Oldenburgischen Staatsministerium vorbei zur Uni, dann an den Bahngleisen nach Bad Zwischenahn. Von dort weiter nach Apen und Augustfehn. Einkehr bei fidelen Bäckerinnen. Eine kriegt nächste Woche eine neue Hüfte, mit "Spirale", damit sie besser wirbeln kann. Butterkuchen wie früher. Staatsgrenze (Bild). Ich glaube ja nicht an diese "BRD GmbH", genau so wenig wie an dieses sogenannte "Deutsche Reich", das doch auch nur durch Foulspiel möglich wurde, weil nämlich Bayerns Ludwig II. Zahnschmerzen hatte und zudem pleite war - eine blöde Kombi, fürwahr. Nein, ich bin und bleibe Oldenburger. Hinterm Schlagbaum beginnt sogleich exotische Fremde, nämlich die Weite Ostfrieslands. Am Jümmedeich steife Brise von vorn. Leider keine Zeit für die Kurbelfähre - hätte mich auch gerne mal übergekurbelt. In Leer dafür Bummel durch die Altstadt. Die Mennonitenkirche. Menno Simons faszinierte mich schon immer. Radikaltaufe, Bildersturm - auf solche Ideen kommt man hier eher als anderswo; der Schnickschnack passt nicht ins Konzept der totalen Leer(e). Also weg damit! Auch lustig: "Auktionshaus Leer" - das erinnert mich an den Saxophonisten Jack Wright aus Philly. Der konnte etwas Deutsch, und als er KIXX 1984 besuchte, lachte er sich über diesen Stadtnamen mehrfach kaputt. In Leer Umstieg in den Zug nach Emden-Außenhafen. Draußen rotieren die Räder. Kühe in Halbtrauer. Darüber Wolkenschiffe, gefüllt mit atlantischem Dampf. 


Sonntag, 25. Juni 2017

Pack die Badehose ein...

...und den Einkaufszettelvortrag, und dann nüscht wie raus zur Nordsee. Bädertournee - sowas wollte ich immer schon mal machen. Hoëcker hat's vorgemacht, und jetzt bin ich dran, nach zwei Jahren Planung. Endlich lerne ich (fast) alle Ostfriesischen Inseln kennen - als Oldenburger fährt man normalerweise immer nur nach Wangerooge, da dieses Eiland früher zum Großherzogtum gehörte und sich darum alle Schullandheime etc. dort befinden. Morgen gehts auf Borkum los, danach folgt Norderney, Mittwoch Langeoog, weiter weiß ich nicht auswendig. 

Gestern erst noch beim Münchener Filmfest vorbeigeschaut. "Die Freibadclique" von Friedemann Fromm. Über eine eben solche, die Ende 44 an den Westwall geschickt wird. Toll talentierte Teenager im Cast, aber die Story (Romanvorlage von Oliver Stortz) ist nicht leicht zu verfilmen: Nach zwei Drittel Kriegsfilm kommt ein Drittel Schieberkrimi mit Liebeswirren. Auf das Deutsche Drama (mein Onkel Andreas dürfte ähnlich gestorben sein wie das erste Opfer im Film) folgen individuelle Schicksale, und die Kraft lässt nach. 

Warum ausgerechnet dieser Film? Weil er zum Tag passte. Wir besuchten nämlich gestern morgen vor meiner Wankbesteigung die Wallfahrtskirche St. Anton in Partenkirchen, und vorm Eingang hängen kleine Holztäfelchen mit den Namen Gefallener, oft plus Photo. "In Gedenken an meinen lieben Sohn..." steht drüber, Lebensdaten und Sterbeort. Ich schritt die Holztäfelchen ab, der Kloß im Hals wurde groß und größer, und als ich an eine Tafel kam, auf der an gleich vier Brüder erinnert wurde, zwei davon Zwillinge, alle Anfang zwanzig, musste ich weinen. Hatte bisher immer gemeint, dass nach zwei gefallenen Söhnen der Rest von der Front abgezogen worden war. 

Ich heiße mit zweitem Namen Andreas, so wie mein Onkel. Er galt bis 1980 (?) als vermisst, erst dann wurden auf einem Acker in der Eifel seine Knochen nebst Erkennungsmarke gefunden. Mein Opa hoffte bis zu seinem Tod, dass Andreas eines Tages lebend aufkreuzen würde, und ich kann mich noch an die regelmäßigen Infobriefe vom Suchdienst des DRK erinnern. 

Höre ich EU-Verächtern zu, erwacht Andreas Boning in mir, und es ist Andreas, der durch meinen Mund antwortet. 

Samstag, 24. Juni 2017

Lamm und Lügenpresse

Bei dieser Apotheken-Deko fällt mir ein, dass ich mit sieben Jahren im "Urlaub auf dem Bauernhof" war, Ostern 1974, im Teutoburger Wald. Außer der Familie Boning waren noch andere Kinder zugegen, fünf an der Zahl. Mit Clemens, einem pummeligen Hornbrillenträger, freundete ich mich aufs engste an, so eng, dass ich die ganze Heimfahrt über trennungsschmerzgebeutelt weinte.

Erzählen möchte ich jedoch etwas ganz anderes: Am Gründonnerstag gebar ein Schaf des Ferienbauern Sechslinge, was auch unter Schafen eine außergewöhnliche Sache ist - so außergewöhnlich, dass die Lokalzeitung einen Reporter schickte, um wohlwollend über das wollige Glück zu berichten. 

Sechs frisch geborene Lämmer zu fotografieren, ist gar nicht so leicht. Der Reporter, offenbar ein Fuchs, sah uns sechs Kinder, kombinierte schlau und entwickelte folgende Bildidee: Jedes Ferienkind nimmt ein Lamm auf den Arm. Eines der Lämmer war besonders zart und schwach und wurde dem kleinsten der Kinder zugeteilt - also mir. 

Während der Reporter uns positionierte, starb "mein" Lamm. Oh weh; erst war die Aufregung groß, dann machte sich tiefe Trauer breit. 

Trauernde Kinder überm Knick hielt der Reporter jedoch für keine Zierde seiner Osterausgabe, und er mochte auf die Sechslings-Sensation keinesfalls verzichten. Also drückte er mir den Leichnam des zierlichen Tieres in die Arme, forderte mich auf, das Köpfchen unauffällig abzustützen, wischte meine Tränen ab, stellte mich zwischen die anderen Kinder und rief ein lautes "Cheese". Auf dem Bild, das so entstand, sieht das Lamm zwar ziemlich müde aus, nicht aber tot. Und ich lächelte etwas gequält, aber: ich lächelte. 

Neulich, für die Vorbereitung meines Auftritts bei Pilawas "Quiz der Supertiere", fragte mich ein Redakteur nach einem persönlichen Erlebnis mit Tieren, das ich zum Besten geben könnte. Ja, ich hätte da eine Anekdote...

Erzählt habe ich dann aber doch etwas anderes. Harmlos und vor allem kürzer. Vorabendlich-supertierisch eben. Mit dem Lügenlammlamento warte ich bis zum "Quiz der toten Tiere" - irgendwann kommt gewiss auch dies. 

Die Apotheken-Deko befindet sich in Garmisch-Partenkirchen; an Ostern '74 denkend, stiefele ich hinauf auf den panoramastarken Wank, drei sehr langsame Schulklassen mühsam überholend. Oben, an der Wand des Wankhauses, finde ich ein Thermometer mit Delial-Werbung, typisch für eben diese Epoche, die sonnengeilen Siebziger. 

Was wohl aus Clemens geworden ist? 



Freitag, 23. Juni 2017

In eisigen Höhen

Oh holde Kunst - mit diesen Worten beginnt Schuberts "An die Musik", unser erstes Lied im öffentlichen Vortrag, angestimmt abends um neun mit weit geöffnetem Fenster. Teresas Stimme füllt die Straße, kollidiert mit den vorbeirauschenden PKW, und ich kose möglichst behutsam die dazugehörigen Klaviertasten. Zunächst ist der Gehsteig unterm Fenster menschenleer, aber bald nähern sich Passanten, die neugierig stehen bleiben und lauschen. Einer unserer Nachbarn, ein erklärter Klassik-Fan, eilt aus dem Haus und feuert an. Mit ruhigen Atemzügen versuche ich meine Aufregung zu bekämpfen, was aber kaum gelingt. Immer wieder patze ich, und jeder Patzer füttert die Neigung, mit den Fingern zu zittern und danebenzugreifen. So könnte sich Goethe gefühlt haben, als er das Straßburger Münster erklomm, und bei Schuberts "Liebhaber in allen Gestalten", dessen Text ja von Goethe ist, versagen meine Hände völlig; ich scheue wie ein Höhenängstling an der Schlüsselstelle - nichts geht mehr. Anderes Stück, neues Glück. "Die Lotusblume" von Schumann. Das ist schön leicht, ich kann's sicher, bin wieder im Tritt. Auch "Träume" von Richard Wagner gelingt fehlerfrei, "Der Nussbaum" gar nicht schlecht. Auf dem Gehsteig steht nun eine ganze Gruppe; unser Nachbar hat sich einen Klappstuhl geholt und setzt sich drauf. Ein Flaneur fragt nach italienischen Arien. "Il bacio" von Arditi gelingt erst im zweiten Anlauf, der Versuch, Brahms' "Vergebliches Ständchen" konfusionsfrei darzubieten, ist vorerst, äh, vergeblich. Ein überlautes Motorrad prescht vorbei. Schweiß tropft auf die Tastatur. "Bravo!" und "Zugabe" knattert das Motorrad. Langsam erkenne ich unsere musikalische Konzeption: "Die sehr gute Sängerin und der extrem aufgeregte Pianist". Sollte man genau so auf die Plakate drucken, aber wir haben ja nur unseren Lettern-Leuchtkasten, leider ohne Zahlen, sonst könnte man eine Anfangszeit festlegen. Fürs nächste Mal gibt es also noch einiges zu optimieren. Die Opernfreunde bitten um Visitenkarten. Sowas haben wir nicht. Ein 10-€-Schein flattert durchs Fenster, dann noch ein Fünfer. Wow. Kein ganz schlechtes Salär für 30 Minuten Konzert - klar über Mindestlohn. Anschließend bin ich fix und fertig. Mein erster Auftritt als Pianist nach 39 Jahren. Verbeugen, Händeschütteln, Fenster zu. Nein, etwas aufregenderes habe ich kaum je erlebt. Und überlebt. Oh holde Kunst, ich danke dir dafür. 

The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

Beliebte Beiträge