Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Deutschland unsere, meine Heimat ist. Zeit, dieses süßsaure Heimatland einmal neu kennenzulernen. Wie könnte man sich einen besseren Überblick verschaffen als von oben? Zur ISS schaffe ich’s nicht, Drohnen sind zu gewöhnlich für meinereiner, also besteige ich Deutschlands höchste Berge. Oder, genauergesagt, die höchsten Gipfel der 16 deutschen Bundesländer. Sweet little sixteen summits. So beschloss ich‘s neulich in Oldenburg, auf dem Sofa meiner Eltern, studierte allerlei Erhebungen (!) im Internet, und heute war es soweit. Premiere. Hamburg, meine Perle! Gibts denn da überhaupt Berge? Aber ja doch! Und die sind gar nicht soo ohne.
Gestern noch ridikülisierten Hugo, Hella und ich in Köln gemeinsam vor der Fernsehkamera. Pilotendreh für SAT1. Heute morgen enterte ich den Zug nach HH, ersetzte im Zugklo meinen Gehrock durch eine Wanderjoppe, stieg in Harburg aus und legte los. Erstmal Harburg: Das ist ja die angeheiratete Nichte der stolzen Hansestadt, irgendwie grauer, gebückter, mit Mittelscheitel, man kennt, draußen, in der Welt, höchstens die TH, Mohammed Atta und womöglich die Phönix-Werke. Ist natürlich superunfair, dieses bestimmt auch nette Städtchen auf Pneus und Terreur zu reduzieren, aber so ist eben das Leben: Ein mieser Halunke, ganz besonders, wenn’s um den Ruf wehrloser Landstädte geht. Gunter Gabriel hat auch in Harburg gewohnt, fällt mir gerade ein; sein Hausboot lag im Harburger Hafen (und da liegt es noch heute, wenn es nicht gesunken ist). Ich habe mir neulich, beim Schaubuden-Jubiläumsdreh, eine Kaufimmobilie in Wilhelmsburg angeschaut, weil ich Europas größte Flussinsel theoretisch toll finde (in der Praxis kaufte ich nichts) - an Wohnen in Harburg habe ich hingegen noch nie gedacht.
Herrje, jetzt rede ich schon wieder nur von mir, dabei soll’s bei meinen Bundesbergbesteigungen gar nicht um mich gehen, sondern um die Klippen, Kuppen, sanften Hügel, je nach dem. Also. Vom Harburger Bahnhof durch die Unterführung am Phönix-Center vorbei zum alten Friedhof, auf dem u.a. Johann Heinrich Blohm begraben liegt, Wasserbaudirektor und Träger des Guelphen-Ordens, einer der höchsten Orden, die das Königreich Hannover zu vergeben hatte. Auf blauem Reif steht in goldenen Lettern die Devise „NEC ASPERA TERRENT"- Widrigkeiten schrecken nicht. Ohne Blohm, der den Harburger Tidehafen plante, wäre Harburg völlig unbedeutend geblieben, ohne Phoenix, TH, auch ohne Atta, und womöglich hielte der ICE heute in Tostedt oder Buchholz, und nicht in Harburg.
Weiter geht’s zur Bremer Straße, einer auf einem Damm dahinstolzierenden Fernstraße alten Schlags, mit Mietskasernen und Reihenhäusern, schnurgerade Richtung, äh, Bremen. Trübes Wetter, 6 Grad, schwer schlackert der Reiserucksack auf meinem Rücken. An den Schuhen trage ich Lunge-Laufschuhe. Hamburg ist ja so‘ne Laufstadt, mit dem bezaubernden, bedeutenden Marathonlauf, und auch wegen Ulf Lunge, der hier seine eigene Laufschuhmarke kreierte. Schöner Markenname. So wie ein Restaurant „Magen" oder „Friseur Friedrich Flaum". Glück muss man haben, gerade wenn’s um Namen geht.
Bald endet die Grossstadt, und ich überquere auf schmalem Steg die Autobahn. Früher, als ich noch in HH wohnte, bin ich hier des Öfteren mit‘m Auto lang gefahren. Navis gabs damals nicht; man hatte den Falk-Stadtplan auf dem Beifahrersitz und musste, um sich zu orientieren , rechts ranfahren. Die Jüngeren können sich ja kaum vorstellen, wie störrisch so‘n Falkplan sein konnte. Patentgefaltet, haha. War er einmal auseinander gefaltet, kriegte man (also ich) ihn kaum wieder zusammen. Dauerte eine Stunde Minimum. Verlängerte so‘ne Autofahrt von HH nach HB also um eine Stunde. Ja. So war das.
Ein paar waldige Linksrechts-Kombinationen, dann bin ich in Vahrendorf, beim Freilichtmuseum am Kiekeberg. Dieser ist mit 127 m die zweithöchste Erhebung des Harburger Hügellandes (die höchste ist der „Lange Stein", 129 m hoch, und beide nehme ich auf meiner Expedition als Dreingabe mit). Jetzt mag der feine Bayer höhöhö skandieren, von wegen „Berge", aber, liebe Bajuwaren, das Terrain wirkt hügeliger als man denken könnt’. Nachgerade zerklüftet, wie in Karl Mays Land der Skipetaren. Feuchter Laubwald auf sandigem Boden, niedersächsischem Boden wohlgemerkt. Wir haben nämlich Hamburg verlassen, traversieren ein Stück Nachbarland, und erst der Gipfelsturm spielt sich wieder auf Hamburger Gebiet ab. 12 km misst die Wanderung vom Harburger Bahnhof bis zum höchsten Punkt der Hansestadt; wer es mir nachtun will, denke an eine Trinkflasche und Verpflegung, etwa ein hartgekochtes Ei. Letzteres habe ich heute nicht dabei, der Mittag naht nicht nur, er ist fast durchschritten; mein Magen knurrt, der Waldboden ist satt und sumpfig.
Immerwieder lenkt mich mein Navi auf Reitwege. Hier, in den „Schwarzen Bergen" wird viel geritten, eben wie bei Karl May, nur eben auf Niedersachsenrössern. Kurzes Lauschen - nein, da sind keine Indianer, auch keine Cowboys; ich bin alleine hier, in dieser durchnässten Wildnis vor der großen Stadt. Mit „Tor zur Welt" ist ja immer die weite Welt gemeint, also Shanghai, New York, Manila, nicht jedoch Kiekeberg & Co. Am Durchschnittsdienstag um die Mittagszeit ist die Menschendichte jener im Karakorum ähnlich. Niemand stört, und niemand hülfe, wenn ich am Gipfelanstieg umknicken sollte. Darum gebe ich fein acht, als ich - es ist im Verlauf der letzten halben Stunde immer stiller geworden - zum großen Sprung ansetze.
Auf dem unteren Bild sieht man, welches das Hauptproblem bei dieser Bergtour ist: Waldarbeiten, Tauwetter und Regen haben den Weg nicht eben leichter passierbar gemacht. Wenn ich denn dem geneigten Wandervogel einen speziellen Tipp für diese Wanderung geben müsste: Gummistiefel können nicht schaden. Aber: NEC ASPERA TERRENT. Das ist Blohms und meine Devise. Also aufauf, matschimatschi, der Burg ruft wie ein Koberer von der Reeperbahn. „Kommse rauf, könnse runterkucken"
Nach scharfer Rechtskurve erkenne ich bereits den Gipfelaufbau des Hasselbracks, der stolze 116 Meter misst. Ein Prachtkerl, der. Hamburg, deiner Berge Perle.
Das mit dem Stolz meine ich gar nicht ironisch; Größe ist nicht entscheidend, schon gar nicht bei Bergen. Für mich als Oldenburger sind 100 Meter schwindelerregend. Sowas hohes gibt es zwischen Bremen und Amsterdam nirgends. Das erhabene Gipfelgefühl durchdringt mich hier jedenfalls nicht weniger als in den Alpen. Doch nicht nur erhaben sind Moment und Ort, sondern das Wagner-Idyll ist: gebrochen.
Mund und Braue stehen schräg, als ich den graffitisierten Gipfelstein betrachte. Hand vom Zwerg beschmieren Tisch und Berg, wie man so schön sagt. Asi wie die HSV-Fans, deren Feuerwerk ich neulich beim Derby im Bremer Weser-Stadion beiwohnen durfte. Ein besprühtes Gipfelkreuz habe ich in Bayern noch nie gesehen. Aber lassen wir das. Ich will nicht unken, sondern lernen.
Nachdem ich die Hochebene am Gipfel ausgiebig fotografiert habe, laufe ich nordwärts, Richtung S-Bahn, und durchquere noch ein landschaftliches Schmankerl, die Heide am Falkenberg. Vorne das karge Kraut, hinten die Wohnblocks von Neugraben: das ist ganz nach meinem in den 80ern geprägten Geschmack.
Damals trug man schwarz, hörte John Zorn und stand auf jene Ästhetik, welche die Musikzeitung „Spex" mal hellsichtig mit „Wave-Schlampe vor Industriegebiet" umriss. Hier, in der saaleeiszeitlichen Endmoräne, hätte man Anne-Clark-Cover shooten können. Sleeper in Metropolis. Ja.
Fazit: Harburg ist mehr als man meint. Mag Hamburg das Tor zur Welt sein, so befindet sich hier, in den Harburger Bergen, das dazugehörige Tor zum Himmel. Ob man hier wohnen sollte? Könnte? Dürfte? Reizvoller Gedanke!
Nach knappen 19 km Weglänge mit 300 Höhenmetern insgesamt beende ich meine Expedition am S-Bahnhof Neuwiedenthal. Ab ins Hotel; die Sauna ist schon vorgeheizt.
P.S. : Auf Facebook kommentierte Thomas Sommerszeit diesen Text folgendermaßen :
„Harburg, die "angeheiratete Nichte der stolzen Hansestadt" ?- war wohl eher eine Zwangsheirat, mit der der Altherrenclub der Nazibonzen die Schöne aus dem Süden an den gierigen ausufernden Kaufmann an der Alster verschachert hatten. Und wie schlecht es der Schönen in der Folgezeit gegangen ist, wie mies sie seitdem behandelt wurde, wie schlecht ihr die Entmündigung bekam, dass kann man heute nur zu gut erkennen."
...und als ich Thomas Sommerszeit fragte, ob ich seinen Kommentar in meinem Blog zitieren dürfe, antwortete er:
„Na klar! Nebenbei: Harburg muss einst von unglaublicher Schönheit gewesen sein. Eine wirkliche kleine Perle an der Elbe. Selbst die alte Industriearchitektur spricht einen heute noch an - Die rote Backsteinfassade mit Wildem Wein der Phönix beispielsweise. Und das alte Rathaus, klein, fast familiär, dennoch ein winziges Schmuckstück, das neue Rathaus und die alte Handwerkskammer, klassisch, aber nicht protzig. Und dann die atemberaubende Geologie, wie du bei der Wanderung sicher bemerkt hast. Dieser vielgestaltete Übergang vom moorigen Ursprungstal in die Geesthügel der Endmoränen mit ihren ganzen Landschaftstypen! Stille Heidelandschaft auf den westlichen Plateaus, geheimnissvolle Moore in der Flusslandschaft und die alten lichten Eichenwälder auf den Höhen der Haake. Die Inseln mit Wiesenland um Harburg und die fruchtbare Marsch mit einmaliger Obstlandschaft auf schweren Kleieböden. So, ich höre lieber auf, sonst willst doch noch nach Harburg ziehen um die misbrauchte Schönheit zu retten, wachzuküssen. Geht leider nur im Märchen. ;)"