Dienstag, 2. Juli 2019

Von der Bühne zur Buhne



Reeperbahn - Rømø. Mein Rad steht bereits auf der Bühne, abfahrtbereit, den ganzen Auftritt lang. Zum Schlussapplaus schultere ich’s und gehe die Treppe hinab ins Foyer. Dort gibt’s eine Runde Autogramme, und los. Das Schmidttheater hat mir noch eine große Buddel Cola spendiert, aus der Garderobe habe ich ich zwei Wurstbrötchen entwendet, ich bin also bestens proviantiert, als ich um 21:30 die Reeperbahn Richtung Norden verlasse. Sommerliches Treiben in den Straßencafés. Sonntagabend, wenig Verkehr. Ich strampele Richtung Pinneberg, baue Auftritts-Adrenalin ab und Vorfreude auf die bevorstehende Nacht auf.

Durch Eimsbüttel und Stellingen zur Stadtgrenze. Erste Pinkelpause. Eidelstedt, Rellingen. Pinneberg sieht bei den Rathauspassagen im Abendlicht fast so aus wie London oder Paris. Also jedenfalls am Stadtrand von Paris. Wo sich Ghettokid und Hase gute Nacht sagen. Nordische Dämmerung: Zeitlupenverdunkelung. Immer schmaler wird der Lichtstreifen am Horizont, aber ganz weg will er nicht. Passenderweise fahre ich durch einen Ort namens „Helle Himmel". Wieder Pinkelpause. Habe schon in der Auftrittspause Cola gesoffen, das entwässert. Oder die Blase drückt wegen Aufregung. Ich bin zwar schon manche Nächte durchgeradelt, aber nicht nach einem Auftritt. Befruchtet sich sowas? Oder raubt der Vortrag zuviel Kraft? 




Große Wettern, Itzehoe. Da ist Teresa mal aufgetreten, mit „Boccaccio" von Franz v Suppé, und Thomas Müller und ich haben damals zugeschaut. Thomas ist Fotograf, einer der besten, hat gerade Wolfgang Tillmans fotografiert, einen anderen guten, und heute Abend saß er im Publikum. Teresa ist derweil auf Sylt und erwartet mich. So, genug Namedropping. 

Einzelne Kröten sitzen im Kegel meiner Funzel. Nur nicht drüberrollen! Ich liebe alle Amphibien, von Kermit über die mallorquinische Geburtshelferkröte bis zum schwarzen Alpensalamander, meinem Lieblingslurch. Dabei habe ich schon ziemlich viele von ihnen auf dem Gewissen: Als Kind versuchte ich regelmässig, aus Froschlaich adulte Tiere zu ziehen, was jedoch höchst selten gelang. Schämenswert. 

Im Rucksack drückt meine Ferienlektüre: Hemmingway, 49 Depeschen. Bescheuert, sowas mitzuschleppen. Am Wegesrand ablegen? Quasi ablaichen? Für die Kröten? Nein, geht auch nicht.

Schmale Straßen, leicht gewellt. Sommerhitze weicht feuchter Kühle. Erstes Großziel: Der Nord-Ostseekanal. Mein Navi wollte mich per Fähre übersetzen lassen; habe den Lapsus rechtzeitig bemerkt. Um diese Zeit kann man lange „Hal öwer!" rufen. 

Mon Dieu, ist das einsam hier. Schleswig-Holstein ist eine verwunschene Gegend. Mehr Kröten als Menschen. Ob ich mal eine Kröte küssen sollte? Und dann stehen vor mir die Filiüsse von Barschel und Simonis. 




Da ist die Brücke, hoch überm Kanal! Ich wuchte mich empor. Kein Auto, kein Geräusch, nichts. In der Ferne nähert sich ein Frachter, auf der anderen Seite weiterhin ein feiner Lichthall.

Ich pinkele von der Brückenmitte hinab in die Tiefe. Ist ja niemand da, der sich dran stören könnte. Meine Stirnlampe schwächelt. Im letzten Atemhauch der Batterie ordne ich meinen Rucksack, nehme einen Schluck aus der Colapulle, esse ein Wurstbrot und knipse, was das Nachtlicht hergibt. Halbzeit. 

Weiter geht’s Richtung Heide. Das Tempo lahmt zusehends, meine Augen fallen zu. Hier ein Reh, da ein Hase. Reicht leider nicht, um mich gründlich wach zu machen. Gegen drei wird’s nachgerade unangenehm. Ich schließe ein ums andere mal die Augen und genieße die Idee, auf der Stelle einzuschlafen. Eine Sekunde später reiße ich alarmiert die Augen auf. Ist einfach kein guter Platz zum Schlafen, so’n Fahrradsattel. Warum bin ich überhaupt um diese Uhrzeit unterwegs? Das Schmidttheater hatte mir ja bereits ein Hotelzimmer reserviert. Tja. Abenteuerlust - das wird’s sein. Mit Übermüdungsgarantie. Hinter Heide rolle ich durch ein Moor, richtiger Sumpf. Es riecht faul, und die Lichtbordüre am Horizont wird langsam wieder breiter. Anhalten, fotografieren. 



Naja, das Bild ist nicht soo stark, aber ich bin schon im Scheu-Stadium, in dem jede Meid-Gelegenheit gerne wahrgenommen wird. Runter vom Rad, kurz den Popo lüften. Zum zweiten Mal schmiere ich mir eine Handvoll Vaseline aufs Sitzpolster. Bleibt unbequem. Tagesform eher mäßig - könnte mit dem Auftritt zu tun haben, der eben auch ein paar Körner beansprucht. In der Ferne sehe ich eine weitere Brücke. Fast ist’s hell, als ich die Schlei überquere. 

Unter der Brücke grasen Kühe. Gut, da kann man gleich für noch eine Fotopause anhalten:


Die Brücke, so lese ich, wurde 1916 fertig gestellt, mitten im Krieg, und dahinter liegt das sagenhaft pittoreske Friedrichstadt. Eine Holländersiedlung, mit Grachten, Amsterdamer Häuschen und allem Pipapo. Wat’s allns gifft! Nie von gehört. Ich könnte ja schon hier in den Zug steigen...ach was, lieber erstmal in die Bäckerei. Die hat nämlich schon auf, um knappe fünf. Moin! Moinsen! Kaffee und Schnecke bitte! Ein Handwerker schneit rein, dessen Tochter ein Pferd hat und ein Pony. Die Bäckerin war wandern im Harz. 

Husum, die graue Stadt am Meer. Schimmelreiter. Müsste man glatt mal wieder lesen. Aber einstweilen schleppe ich ja Hemmingway zum gefühlten Nordpol. Echt grau hier, jedenfalls am heutigen Morgen, kurz nach Wettersturz. 20 Grad kälter als gestern abend. Ich zittere mich durch die Storm-Stadt. Jetzt rollt langsam der Verkehr. Ist das eine Bundesstraße hier? Garstige Töfftöffs. Mist, verfahren. Im Zickzack durch die Windräder. Hui, drehen die sich schnell. Steife Brise hier. Links sehe ich in der Halbferne den Deich. Zug oder Damm nach Rømø? Nein, ichbin für Zug. 40 km weniger Wegstrecke, und vor allem bin ich deutlich schneller bei Teresa und Theo. 

Blöder Gegenwind. Alle fünf Kilometer rechts, dann wieder links. Eine horizontale Treppe durch salzige Wiesen. Ich überquere die Lecker Au. Weia, was haben die für eigentümliche Flussnamen hier? Ob das Wasser schmeckt? Womöglich Süßwasser. Ja, das sind sie, die typischen 7-Uhr-Witze. Immerhin fallen mir die Augen nicht mehr zu, seit dem Kaffee in Friedrichstadt. 

Noch ein paar Mal rechts-links, dann bin ich in Niebüll, stehe am Gleis 3. Proppenvoll mit Zimmermädchen & Zimmermännern, die sich auf der goldenen Insel die Nase versilbern möchten. Zug fährt pünktlich um 8.03, also jetzt. Juhu! Schon mal bei Strava sichern: 187 km in 9:32 Stunden. Durchschnitt unter 20. Motto: Versuch‘s mal mit Gemütlichkeit. 

Hindenburgdamm ahoi. Eine halbe Stunde später debarkiere ich in Westerland und nehme die letzten 17 Kilometer nach List in Angriff, wo sich ja auch der Fähranleger für die Passage nach Rømø befindet. Also alle Ziele so gut wie erreicht. Fabulös, der Radweg durch die Dünen. „Von der Bühne zur Düne" wäre eigentlich der bessere Titel für diesen Text, aber jetzt ist zu spät. Ich fahr doch nicht zurück auf los, jetzt, nach über 200 km.



Noch ein Foto mit jener Wanderdüne, auf der ich 1988 das Video zu „Weine nicht!" drehte, mit dem großen Walter Welke, geboren Thielsch, der leider schon tot ist. Immerhin habe ich zwei Wochen vor seinem Ableben einen tollen Nachmittag mit ihm verbracht, bei der Abschiedsfeier von Horst Königstein im NDR. Danke. Sylt hat uns sozusagen zusammengeführt. Walter, wenn Du dies liest: Ich habe viel von Dir gelernt! Du warst mir eine besondere Inspiration! 


„Weine nicht!"


In List treffe ich meine Lieben, am Spielplatz neben der Tonnenhalle. Erstmal ein Fischbrötchen.



Anschließend nicke ich ein, nachmittags erneut. Auf dem Fussboden. Abends zu müde für irgendwas: Ich schaue bewegungslos „Bauer sucht Frau international". Fun fact am Ende: Dass ich mir zwei Tage hintereinander nicht die Zähne geputzt habe - daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Wahrscheinlich unsere Romtour. Jedenfalls irgendwas mit Fahrrad. 

Nach Rømø setze ich in den nächsten Tagen über - der Vollständigkeit halber. 

Freitag, 28. Juni 2019

Hüttenglück


Weiterhin bin ich auf der Suche nach einem Tagesanbruchsritual in Form einer täglich murmelnden Wanderung. Es stehen bereits: Links an den Freisinger Nachbarn vorbei bergauf, am Steinmandl halbhalblinks, um die Schulter herum, dann auf bestem (aber nicht markiertem) Weg mit Blickrichtung auf den Rifflerkogel. Bei markanter Baumgruppe scharf rechts, steil bergauf, wieder links, zwischen Kuppe und See (verlockend bei über 30 Grad; noch schwimmen allenthalben Eiswürfel). An der Kühsteinalm steil bergauf zum Schartenjoch. Auf dem Kamm entlang zur Speikspitze (wo man, wie Börnie vorschlägt, einen Flachmann verstecken könnte), zurück zum Schartenjoch und runter zur Brunnalm. Ja. Hier bin ich noch auf einer Suche nach einer Abkürzung, die auf alten Karten gepunktet eingezeichnet ist, aber bei meinen Erkundungen schreckte ich vor allem viel Wild auf. Der Rückweg auf dem Kammweg nordwärts (auch er in alten Karten angegeben) endete im steilen Bergwald. 

Der Star ist der Kamm: Totaler Überblick, es locken Mannskopf und Kapaunsalm, blühende Alpenazaleen und Gendtners Alpenmohn, wenn mein Blumenbestimmungsbuch nicht lügt. Ferner stehen dort mehrere fein aufgeschichtete Steinhaufen, ähnlich wie die Nuraghen in Sizilien - so stelle ich mir sie jedenfalls vor. 







Frühstück um halb neun. Jetzt im Sommer ist das Leben hier der pralle Luxus: Die Speisekammer ist voll, die Kuhglocken bimmeln, auf der anderen Seite des Zillertals reflektieren die Dächer der Seilbahnbergstationen die Morgensonne. In der größten von ihnen begegnete ich eines Winters Sasha. „Was machst du denn hier?". 

Am Spätvormittag kommt unser netter Verpächter mit seinem Onkel und dessen Frau. Wir kredenzen unseren kärglichen Pflaumenkuchenrest und reden über Gott und die Welt. Franz hat Obstler mitgebracht, ein feines Tröpfchen. „Die Kühe sind auch nicht mehr das, was sie mal waren!" winkt der Onkel ab. Alle verwöhnt und verzärtelt. Eintopf wird aufgetischt, Fliegenschutz vor die Tür geschraubt, die herabhängende Markise mit einem schmucken Stützpfeiler versehen. 

Dann fügt Angela zu den Themen Gott und Welt die Politik hinzu. Flüchtlingskrise. Ist sie wahnsinnig? Gaanz dünnes Eis! Afrika. Alle retten geht nicht. Kollateralschäden für Europa. Kurz? Ein Guter. Uff, Thema durch. Mit Franz verabrede ich mich zum Wandern im August. 




Unsere Rosenheimer Vorgänger waren mal drei Wochen hier, die Nachbarn oben schaffen nur eine, wie sie freimütig bekennen. Man kann eben nicht „mal eben in den Supermarkt". Und Amazon fällt auch flach. Meine Liste mit Dingen, die im August vonnöten sind, sein könnten, wird immer länger. Vor allem sollte die Bibliothek weiter ausgebaut werden. 

Überraschung des Tages: Milch direkt von der Kuh schmeckt gar nicht soo anders als handelsübliche Vollmilch. Ich hatte mit einem deutlichen Unterschied gerechnet, wäre aber nicht einmal sicher, ob ich im direkten Vergleich zuordnen könnte. Kann natürlich sein, dass meine Papillen schon altersbedingt abgestumpft sind. Klar. 

Am Abend staunen wir über den Abendhimmel. Das Band der Milchstraße, hurra; ich traue meinen Augen kaum. Ja, eine richtige Kamera muss auch her. Mit Stativ. Einstweilen ein Abendblick nach Westen: 









Dienstag, 25. Juni 2019

Auf der Alm...



Wir haben gestern geheizt. Meine Frau fand es abends etwas kühl, und zudem mag sie das Knistern und Knacken des Holzes. Heute nun, als in der Mittagszeit alle Welt satte 40 Grad beschwitzte, heizten wir erneut ein, nämlich zum Backen eines Pflaumenkuchens à la 1850. 






Zunächst zog der Ofen nicht, womöglich war es auch dem Rauch zu heiß in der prallen Sonne, er weigerte sich, auch nur in Schornsteinnähe zu ziehen, doch schließlich gelang der Kuchen doch. Den ganzen Nachmittag pendelte ich hochkonzentriert zwischen Schür- und Knethaken und schwitzte dabei wie ein Dampflokheizer in der Bagdadbahn. 

Am sehr frühen Morgen (5 Uhr irgendwas) war ich um „unseren“ Berg herumgelaufen, ohne störende Altschneefelder (das war vor einer Woche noch völlig anders, als ich adrenalindurchsotten über tiefgefrorene Hänge balancierte). 

Melde: Speikspitze problemlos erklommen, arkadisches Terrain.




Die Kühe sind zZt nachts auf der Alm, tagsüber stehen sie im Stall, mit an der Decke festgebundenen Schwänzen. Hansel melkt am Nachmittag; unseren Kuchen verschmäht er. 

Angela kommt vom Tegernsee herbeigeradelt, kettet ihr Rad an eine der Pistenraupen am Parkplatz, stiefelt dann zu uns herauf und isst mit uns Eintopf und Pflaumenkuchen.





Hängematte montiert. 12 mal den Kopf an der tiefhängenden Markise gestoßen. Handstaubsauger als effiziente und tierfreundlichste Bremsenbeseitigungsmethode entdeckt.  

Theo spielt mit einem unserer Wasserbottiche oder räumt Holzkisten aus. Gerade bei letzterer Tätigkeit gelangt er in ernsthaften flow. Geht auch mit Mamas Koffer. 

Gerade sind Teresa und Angela draußen und bewundern die Ziegen, die soben zu den Kühen auf die Alm stoßen. Theo schläft. Ich auch gleich. Morgen wieder früh raus, auf die Speikspitze und evtl anschließend auf den namenlosen Gipfel nebenan. Du liebe Güte, ist das schön hier! 


Dienstag, 18. Juni 2019

Deutsche Flüsse (46): Donau



Die Donau kann man nicht ernst nehmen:

Sie faulenzt dahin, lässt sich treiben.

Bei einem Gegenstand bleiben? Nein.

Dafür fehlt ihr der sittliche Ernst. Schämen


sollte sie sich, aber gründlich!

Alle arbeiten: die Wärter der Schleusen,

die Donaufischer mit ihren Reusen;

die Fährleute queren sie stündlich,


hagere Bauern mit klapprigen Mähren

pflügen und eggen am Ufer das Feld. 

Was lebten wir in einer fleißigen Welt, 

wenn diese stinkfaulen Flüsse nicht wären.





Samstag, 15. Juni 2019

Auf Bremens höchsten Berg



Die höchste (natürliche) Erhebung des Landes Bremen (von „Berg" mag man hier nicht wirklich sprechen), befindet sich im Friedehorstpark im Ortsteil Lesum, also in Bremen-Nord: 32,5 Meter über Normalnull, und damit abgeschlagen auf dem letzten Platz unter den Sixteen Summits der deutschen Bundesländer. 
In den einschlägigen Foren wird er als Geheimtipp gehandelt, denn er ist der einzige Höhepunkt, auf den nicht mit Gipfelkreuz, Stein, Hütte, Plakette oder sonst wie hingewiesen wird. Hanseatische Bescheidenheit? Oder der klammen Kasse des Senats geschuldet? Nichts wie hin zum Ortstermin. 



Mag der (bezeichnenderweise namenlose) Berg der kleinste sein, so wird dafür meine Anfahrt die längste: Morgens um 5:15 besteigen mein Faltrad und ich die Hafenfähre „Reeperbahn" an den St. Pauli Landungsbrücken und lassen uns über die Elbe nach Finkenwerder schippern. Am frühen Vorabend war ich mit dem Kollegen Hirschhausen in Pilawas Quizduell zu Gast (gewonnen!), und ich durfte mit Alsterblick übernachten - darum ist Hamburg Ausgangspunkt der heutigen Expedition. 

Von Finkenwerder aus radele ich nach Buxtehude und auf eher ereignisarmen Radwegen weiter nach Zeven. Dort kehre ich im Ratscafé zum Kaffeetscherl ein, mit Blick auf den Takko-Markt. 




Es gibt gewiss viel schönere Wege von Hamburg nach Bremen, allen voran den offiziellen Radfernweg, aber zum einen möchte ich mittags bei Muttern in Oldenburg sein, und für eine echte Bummelei fehlt mir die Zeit, zum anderen handelt es sich bei dieser Strecke um eine Traditionstour. Regelmäßig, am liebsten einmal pro Jahr, befahre ich diese Route, einmal sogar zT mit meinem verehrten Sportfreund Uwe Weist, und als Konservativer ändere ich nur im Notfall die Fixpunkte meines Sportkalenders. 

Hinter Zeven passiere ich die namensstarken Ortschaften Hipstedt und Ostereistedt. Hinter Tarmstedt rechts durchs Teufelsmoor, dann quer durch Worpswede, das berühmte Künstlerdorf. 

Dass man eine betont öde Gegend bewohnt, um sich bildnerisch in ihrer Trostlosigkeit zu spiegeln - das macht ja heutzutage niemand mehr. Die Instagrammer gieren alle nach Berlin, Dubai und Co. 



Paula Moderson-Becker hätte womöglich auch Instafame gesammelt, aber, nun ja, mit ganz anderen GIFs. Die Blattstrünke in heutigen Selfis gehen ja zumeist eher in diese Richtung: 🌿



Jetzt wird die Landschaft pittoresk. Weite Horizonte, viel Entengrütze in den Kanälen. An Ritterhude vorbei in die Freie Hansestadt. Der Friedehorstpark ist per Komoot schnell zu finden, nach 115 km Anfahrt. Rein in den kleinen Park und staunen. Tatsächlich, da ist nichts, was man für eine Bodenerhebung halten könnte. Eine Baumgruppe etwa da, wo Spezialseiten den Gipfel verorten, davor ein Brennesselnest. 



Ja, das könnte es sein. Die pieksige Brennessel als wehrhafter Wächter des Tors zum Himmel. Könnte. Kaum zu fassen, dass man derlei nicht anständig markiert. Bremen, so behauptet jedenfalls mein Papa gern, habe eine der größten Sektionen des DAV. Also, liebe Bremer Alpinisten, erklärt Euch, mir, warum man den Peak mühsam suchen muss. Interessiert mich wirklich! Da baut man in Bremen gernegroße Groschengräber wie den Space-Park, und die echten Attraktionen, vom lieben Gott für umme in den (Earth-)Park geworfen, versteckt Ihr Bremer geradezu. Oder gibt es hier gar keinen „höchsten Punkt"? Alles gelogen? Nein, meine Quellen sind seriös (Internet).
Um auch ja nichts zu verpassen, radle ich kreuz und quer über alle Wege. Stattliche Bäume wachsen hier. Klar, wir sind ja auch jenseits der Baumgrenze - von oben gesehen. 



Mit gemischten Gefühlen („I did it"-Gipfelglück, verquirlt mit dem Gleichmut des Desillusionierten) verlasse ich den Friedehorstpark wieder und rolle rüber nach Vegesack zur Weserfähre. Ehe wir ablegen, darf ein Seeschiff Richtung stadtbremische Häfen passieren - eine Besonderheit heutzutage. Die meisten haben schon in Bremerhaven keine Puste mehr oder steuern gleich den Jade-Port, Hamburg oder Rotterdam an. Auf der Oldenburger Seite pette ich am Deich entlang, komme zu einem Strandkorb, der mit einem Pappschild versehen ist, auf dem „Pause" steht. Würde gerne, will aber ins Elternhaus, das ich, nach Linkskurve in Berne und Endspurt durch hochsommerliche Mittagshitze, um kurz vor zwei erreiche. 153 km und ein, äh, Berg. Tolle Tour!  

Donnerstag, 13. Juni 2019

Seltene Erden (5): Kondensat



Die beiden großen Beiträge der nordamerikanischen Indianer zur Weltkultur sind: Kraulschwimmen und Rauchen. Mit dem Erkalten der Glimmstengel bleibt fürderhin nur noch das Kraulen übrig. Schade. 


Meine persönliche Raucherkarriere begann am 14. Januar 1983, sechs Tage vor meinem 16. Geburtstag. Mit der Band KIXX absolvierte ich mein erstes Konzert, und zwar im Jugendzentrum Papenburg. Für die Zugabe erklomm ich eine Getränkekiste und blökte auf dem Altsaxophon eine punkige Fassung der deutschen Nationalhymne. Nach dem Gig ließ ich mir erklären, wie man mit Filterpapier und Halfzware Shag eine Zigarette bastelte. Das frisch erworbene Wissen belohnte ich umgehend mit meiner ersten Selbstgedrehten - Heerscharen glühender Kämpfer an der Hustenfront sollten folgen. Für unser erstes Konzert kassierten wir übrigens eine Gage von DM 400,-. Auf dem Heimweg im babyblauen Opel Kadett unseres Schlagzeugers ging der Wagen kaputt. Ein zufällig vorbeikommender Bauer erklärte sich nicht nur bereit, uns abzuschleppen, sondern auch, das Auto zu reparieren, und die Reparatur kostete genau DM 400,-. Wie gewonnen, so zerronnen, wie Donald Duck zu sagen pflegte - eine Lektion fürs Leben.


Ich rauchte also gerundet vom 16. bis zum 44. Lebensjahr und müsste in diesen Jahren mindestens 100.000 Zigaretten vertilgt haben. Jetzt, da ich dies notiere, ärgere ich mich etwas, dass ich nicht von Anfang an mitgezählt habe - ein Fest zu Ehren meiner 100.000sten Zigarette wäre nicht unulkig gewesen, mit Freitabak für alle Festgäste, dem Sensenmann als Stargast und einer Tombola. Hauptpreis: Eine Reise auf die Plantagen in Reval, Trostpreis: Eine Dauerkarte im Hallenbad (weil: Kraulschwimmen und Rauchen schließen sich aus. Schlaue Leute, die Indianer). 


In Friedenszeiten ist das entschlossene Dauerrauchen eine der besten Gelegenheiten, anderen, aber vor allem sich selbst, die eigene Heroentauglichkeit zu beweisen: Der Raucher raucht, komme, was wolle, solange das Zwerchfell ein Inhalieren ermöglicht (der Beitrag der Lunge ist nebensächlich). Ich kenne einige baff machende Heldengeschichten, etwa jene meines Freundes J., der sich nach einem schweren Herzinfarkt selber ins Krankenhaus kutschierte, auf dem Weg jedoch erstmal einen Zigarettenautomaten ansteuerte, um ein paar Päckchen Marlboro zu erwerben. O-Ton J.: „Woher sollte ich denn wissen, wie lange ich im Krankenhaus bleiben würde?! Da geht man doch lieber auf Nummer sicher."


Meine eigene Raucherkarriere endete unspektakulär mit einer Erkältung. Nach einer verschleimt-fiebrigen Woche ließ ich’s einfach bleiben, und zu meinem größten Erstaunen ereilte mich seither praktisch nie das Verlangen, wieder anzufangen. Durchschnittlich einmal im Jahr träume ich, dass ich in irgendeiner zugigen Ecke stehe und frierend an der Kippe sauge. Da spukt also noch irgendwas im Hinterkopf, aber im Wachzustand denke ich nie dran. 


Den Siegeszug der E-Zigarette kapiere ich nicht. Sie riecht nach Pups und hat - nicht unpassend - die Aura eines verschossenen Arschgeweihs.


Kondensat, dies gebe ich gerne zu, ist unter den elaborierten Teeren eine Spezialität. So wie Onassis die Bar seiner Yacht angeblich mit Hockern möbliert hatte, die mit der Vorhaut von Bartenwalen bespannt waren, so werden die Superreichen der nahen Zukunft ihre Privatstraßen mit Fahrbahnbelägen aus einst inhalierten Asphalten ausstatten. Jahrgangsteere. Sortenreiner Virginia. Oder exhumierte Rauchrückstände von Prominenten, etwa Georges Perec, Ben Webster oder Helmut Schmidt. 


Und als Fahrbahnbegrenzungspfähle empfehle ich überdimensionale Zigaretten. Sehen ja eh ganz ähnlich aus. 

Mittwoch, 12. Juni 2019

Seltene Erden (4): Slime



Im hohen einstelligen Alter öffnete ich eine apfelshampoogrüne, miniaturisierte Mülltonne. In ihrem Innern steckte eine gleichfarbige, klebrige, halbflüssige Substanz, deren Einsatzmöglichkeiten ebenso diffus wie divers waren: Man konnte die Weichknete von der Schwerkraft in die Länge ziehen lassen, die Haare der Schwester besudeln und - nein, an weitere Funktionen erinnere ich mich nicht. „Slime“, so hieß die geheimnisvolle Substanz, wurde in Fernsehwerbespots beworben, an deren Ende jemand auf einen großen Gong haute, während eine martialische Stimme „von Matell“ deklamierte. 

Aus derselben Spieleschmiede stammte auch das „Spiel des Lebens“, mit dem ich hunderte Stunden auf einem Bastteppich im Zimmer meines Nachbarn hockte und dem ich alle wesentlichen Vorbereitungen auf meinen weiteren Weg verdanke. Auf dem Bastteppich erfuhr ich, dass Hochzeiten mit Geschenken verbunden sind, Lottospielen lohnt und, vor allem, so’n „Leben“ enorm lang sein kann. Es zieht sich mitunter wie Slime, um auf diese merkwürdige Substanz zurückzukommen, die unter anderem aus Borsäure (Bild) besteht und während des Spiels damals weit mehr Bor absonderte, als in der EU heute erlaubt ist. 

Ich, der ich zur ersten verslimten Generation gehöre, müsste eigentlich schwere Gesundheitsschäden davon getragen haben, womöglich sogar tot sein. Dass ich noch lebe, verdanke ich wahrscheinlich der ausgleichenden, das Dasein dehnenden Kraft des „Spiel des Lebens“. 

Die Lebensdauer des Homo ludens kann man womöglich als Summe seiner spielerischen Aktivitäten begreifen, minus und plus, und ganz zum Schluss drückt Gott auf den größten Knopf seiner Registrierkasse, das Resultat erscheint, und wir hören, komprimiert wie aus einem verschneiten Nordmende-Portable mit drei schwarz-weißen Programmen, den finalen Gong. 

The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

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