Montag, 15. Mai 2017

Heimatglück und Pannenpech 

Fünf Uhr fünfundvierzig - in der Deutschen Geschichte eine belastete Aufbruchszeit, aber die Hafenfähre 62 schert sich nicht um politisch korrekte Fahrpläne. Nach Finkenwerder will ich, so wie ein Dutzend brüllend müder Hafenarbeiter. 28 Minuten bei Kaffee und Salamibrot, vorbei an zwei Aida-Kreuzfahrtschiffen, dann gehe ich von Bord und lasse die "Komood"-App einen Weg ausrechnen. Was? Durch die Bremer Innenstadt will mich das Navi schicken? Auf rote Ampeln habe ich keine Lust, und außerdem gibt gerade diese Radtour die hübsche Gelegenheit, nicht nur ein-, sondern gleich zweimal Fähre zu fahren! Also herrsche ich die App an, mich gefälligst in Bremen-Nord die Weser überqueren zu lassen. Macht vier km mehr. Sehr wohl. 

Erstes Highlight: Airbus. Das Fabrikgelände ist immer sehenswert, zumal wenn gerade ein Testpilot Kavalierstarts mit einem "Etihad"- Jet ausprobiert. DAS klingt angeberisch - da kann der gemeine Lamborghini-Fahrer einpacken. Nur nicht ablenken lassen; schön auf die Straße schauen, die parallel zur Startbahn verläuft; der Verkehr ist dicht; artig halte ich mich an die Radwege an diesem dieselblauen Montagmorgen. 

In Harsefeld gibt's Ärger. Der Hinterreifen ist platt, so wie schon am letzten Mittwoch. Der Fernpass-Schotterweg scheint den "Marathon Racer"-Reifen nicht bekommen zu haben. Wieder hat sich ein scharfer Steinsplitter durch den Mantel zum Schlauch gezwängt. Pieks, Pfff. Ich opfere die planmäßige Kaffeepause und tausche den Schlauch aus. Da bauen die Leute Atomkraftwerke und können noch nicht mal pannensichere Fahrräder herstellen! Anfänger, alle miteinander! Könnte glatt ausfällig werden! (Saß gestern neben Kalle Schwensen im Polittalk, der bei wirklich jedem Thema ruckzuck auf der Palme ist - das steckt an). Ist zufällig eine Bushaltestelle in der Nähe? Nein? Also weiter petten. Jetzt nur nicht miesepetrig werden...

Zeven-Tarmstedt-Lilienthal. Der Hinterreifen hält, uff, sogar, als mich das Navi erstmals weg von den dicht beknatterten Straßen auf einen verwunschenen Nebenweg führt, mit garstig groben Gesteinsbrocken als "Belag". Tempo reduzieren geht nicht; ich habe Mama und Papa versprochen, dass ich bis zum Mittagessen in Oldenburg bin, mehr als eine Absteigepause ist nicht drin, und die habe ich bereits mit Monteursarbeiten vergeudet. 


Immerhin wird die Landschaft ab Ritterhude gänzlich märchenhaft. Der Himmel blö, das Grün wird satter, der Magen knurrt, es geht zu Vatter. Und zwar durchs Teufelsmoor, an der Hamme entlang. Kurz vor 12 Uhr erreiche ich den Fähranleger in Vegesack. Hal över! Dem Fährmann erkläre ich, frühsommerlich euphorisiert, dass ich diese Strecke einmal im Jahr führe, das sei so eine Art Individualtradition. An das erste Mal erinnere ich mich besonders gerne - da begleitete mich bis Stade mein Dresdner Sportfreund Uwe Weist, und zwar auf einem schweren roten Leihrad der Hamburger Verkehrsbetriebe. 

Vom schwankenden Kahn knipse ich das Schulschiff "Deutschland" und rufe daheim an. "Essen kann so langsam auf den Herd". An Weser- und Huntedeich entlang nähere ich mich dem elterlichen Trog und denke dabei über zwei neue Fachbegriffe nach, die ich in der Sonntagszeitung aufgeschnappt habe: Die "Anywheres", heimatlose Protagonisten der Globalisierung, aka "Elite", und die "Somewheres", die im Grunde nichts haben außer ihre Wurzeln. Einerseits bin ich eher ersteres, aber je älter ich werde, desto auffer geht mein Herz, wenn ich Oldenburg anradele, Somewhere, me!

Das Huntesperrwerk ist neu, kuck an! Sonst alles beim alten: Marsch, Köterende (schöner Dorfname), Schafe, Dalmatiner-Kühe. Zauberhafte Dingsda-Blüten. Verdammt, wie heißt das Zeug, Zierpflanze aus'm Himalaja. Braucht saure Böden. Bromelien nicht, Quatsch...ich komm nicht drauf...gebt mir endlich was zu essen...Azaleen auch nicht...Drahtesel-Demenz. Frohlocken an der Autobahnbrücke, Oldenburgs mächtigstem Bauwerk. Da ist auch schon Ikea! Hurra, gleich bin ich da!


...von wegen. Reifen platt, diesmal vorn. Allerdings genau am Ortsschild - ein buchstäbliches Zeichen. Nach 146 km Gegenwind, 22er Schnitt, verzichte ich auf eine weitere Reparatur und bitte meinen Papa, flugs herbeizueilen und mich ins Auto zu laden. Großes Hallo, Spargel im Garten. Meine Eltern juxen, von wegen, Autofahren hat auch Vorteile, gell? Ich sach nur Lam-bor-dschini! (Vom Airbus mal ganz abgesehen). Noch in dieser Woche werde ich pannensichere Schläuche besorgen. 

P.S.: Rhododendron. 

8 Kommentare:

  1. Hallo Wigald, dankeschön für den blumigen Bericht! Er wirft mich gleich mal 50 Wochen zurück. Da war ich nämlich auch in der Gegend radelnd unterwegs. Allerdings in die andere Richtung: Oldenburg, Hamburg via Bremerhaven, habe länger für diese Etappe gebraucht, dafür ohne Pannen. Aber ein paar Triggerwörter wie Hunte-Sperrwerk und Rhododendron reichen, um mir ein fettes Erinnerungsgrinsen ins Gesicht zu drücken.
    Schönen Gruß aus München, Alexandra

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  2. Donnerwetter! Tolle Leistung!
    Grüße aus HB-Borgfeld

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  3. Hallo Wigald! Köterende – Mensch, da warst du ja auf meiner geliebten Rennradstrecke unterwegs. Die Umfänge, die du auf dem Klapprad(!) zurücklegst, sind wirklich mehr als beeindruckend. Viele Grüße aus Kreyenbrück!

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  4. Hut ab und Daumen auf du alter Diesel.
    Findet man dich auch bei Strava?
    Grüße aus DN.

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  5. Du bist jetzt ernsthaft mit dem Birdy, 18" 145 km mit 22er Schnitt gefahren!? Respekt (auch wenn es von Riese und Müller ist)

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