Montag, 15. April 2019

Deutsche Flüsse (9): Weser



„Vryheit do ik ju openbar“ - so steht es auf dem Schild des Bremer Roland. Das erste Mal: Da wo die Weser einen großen Bogen macht. Ich 17. Vom Nachbarhaus schallte Tina Turner herüber, mit „Private Dancer“. Zwei Häuser weiter befand sich die Diskothek „Römer“, und aus den Boxen quoll „Dee-Lite“. Auf der Box links kauerte allabendlich ein dürrer Nerd mit dicker Brille namens Zeno, der eines Tages mit einem grandiosen Konzert verblüffte. Sein Geheim-Hit: „Brötchen“. An der nächsten Ecke wohnte der Freiherr; er hatte so eine Art kommunistisches Volksabitur, rauchte „Senior Service“ und spielte ein brachiales Baritonsaxophon. Freejazz, natürlich. Außerdem malte er, zumeist U-Boote im Nordatlantik. Mitten im Fluss lag die Weserburg, in der meine knapp halb-avantgardistische Jazzband probte: „Arts Praxis“. Der bescheuertste Bandname, der mir je untergekommen ist. Gut möglich, dass ich ihn mir höchstselber ausgedacht habe, peinlichpeinlich. Am Schlagzeug saß Jens, so ein filigraner Beckenpulsierer à la Tony Williams mit R5 und enorm hübscher Freundin, der abends gern den Uni-See durchschwamm. Am Kontrabass: Reinhard, stark behaarter Knuddel, ruhig und irden. Charlie Haden meets Kelly Family - wobei letztere damals noch eine Kleinfamilie war und völlig unbekannt. Lars spielte Trompete, und Vlatko Saxofon - der virtuoseste, begabteste, deepste Sheets-of-Sounds-Produzent, den Ostfriesland je hervorgebracht hat. Wobei, wenn man so drüber nachdenkt, fällt auf, dass John Coltrane einige ostfriesische Züge hatte: den heiligen Ernst eines Menno Simons zB. Die eigene Sprache. Den weiten Horizont. Das Ausufernde, Nie-enden-wollende. „Arts Praxis“ spielte nur selten Konzerte, einmal auch in Walle, in irgendso’nem alternativen Café, wo die Fischerhemdenträger Pfeife rauchten und müde über Lenin diskutierten. Die Jüngeren gingen lieber in ein kleines New-Wave-Café in der Waller Herrstraße; da habe ich mal mit KIXX gespielt, „Noise Rock“, „Free Funk“, „Fake Jazz“, wie die Schlagwörter damals lauteten. Ich trug einen hellblau getönten, halbdurchsichtigen Regenmantel überm nackten Oberkörper und schrie wie am berühmten Spieß. Im Publikum stand Claudia in Leopardenbody und roten Pumps und verschwand nach dem Konzert mit Schlagzeuger Jim Meneses hinter der Kaimauer des Überseehafens. Mein eigentliches Stammlokal war das „Café Grün“ im Fedelhören, wo ich später meine einzige Ausstellung als Maler machen durfte. Alle Flyer eigenhändig per Buntstift koloriert. Hespos gefiel’s. Das Café Grün jedenfalls war damals der coolste Ort diesseits des Atlantiks, und zwar spätestens seitdem die „Tassen“ dort aufgetreten waren, bestehend aus Arto Lindsay, John Zorn, Gerd und Torsten, der hauptberuflich die „Mittagspause“ bei Radio Bremen gestaltete, mit Sun Ra, Sam „The Man“ Taylor, Art Blakey und all den anderen Fixsternen meiner Jugend. Außerdem stand er hinterm Tresen des Café Grün, ebenso wie Max Schmalz, der freundliche, melancholische Meisterdichter. Da gab‘s auch eine Zeitschrift namens „Stint“, wie der Weser-Fisch, für die ich einen burschikosen Beitrag schrub, über die Entstehung des Hohentorshafens durch Jehova, Bergsteigen und den Weltuntergang, alles verquirlt auf zwei Seiten. Ubiquitäres Delirieren, krause Krümel auf Weltniveau., „Bremen - New York“ stand auch auf unseren KIXX-Plakaten (obwohl Jim ja eigentlich aus Philadelphia kam), und illustriert waren sie mit Dampfern der Hapag-Lloyd aus den 20ern. Oder mit fiesen Szenen aus’m Schlachthof, passend zu unserem musikalischen Konzept. „Meat and Torture“ hatte unsere erste Musicassette geheissen, vertrieben vom Weserlabel. Einmal spielten wir mit KIXX irgendwo im Weserbergland, auf einem Festival. Vor uns „Komeda Artist“, dann wir. Ich hatte eine Kehlkopfentzündung, und aus meinem Hals entwich partout kein einziger Ton. Ich stand auf der Bühne und schrie mit knallrotem Kopf, aber nichts war zu hören. Zunächst. Irgendwann verzauberte fiependes Geflöte die Porta Westfalica, ähnlich einem Rosettenmeerschwein, und zuerst erkannte ich gar nicht, dass mein Schlund die Ursache war. Dann zelebrierte ich die Spezialtechnik mit grosser Hingabe, und dem bekifften Publikum gefiel’s. Meat and Torture halt. Anschließend wurden wir in einer nahen Bauernkate verpflegt; eine uralte gichtige Gebrüder-Grimm-Greisin kredenzte uns grobe Brote mit Blutwurst, die ich aufgekratzt genoss, wortlos und glücklich, mit Blick auf die Weser. 

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