Donnerstag, 16. Mai 2019

Deutsche Flüsse (34): Saale


Halle 1987. Zu Besuch bei einem hageren, ernsten Tonsetzer alter Schule. Die ganze Familie saß beim Abendbrot, es gab scharfe Radieschen und Leberwurst, und ich äußerte meine Bewunderung der „Marktkirche zur Abendstunde“ von Lyonel Feininger, des wohl berühmtesten aller Halle-Bilder. Dann drehte das Gespräch Richtung Politik; ich berichtete, dass wir uns im Fach Gesellschaftskunde am westdeutschen Gymnasium einem „Systemvergleich BRD-DDR“ gewidmet hätten, mit der Schlussfolgerung, dass die DDR sich durchaus Demokratie nennen dürfe, und zwar auf der Grundlage des Rousseauschen Begriffs der „Identitätsdemokratie“. Beiläufig steckte ich mir ein Radieschen in den Mund. Mein Gastgeber sprang auf, und augenblicklich stieg ihm die Farbe des Gemüses ins Gesicht. In der DDR, so fauchte er mit knisternder Stimme, sei „alles gelogen“: Es gäbe keine Herrschaft des Volkes, sondern nur die Herrschaft einer Partei, und auch die „Res Publica“ sei barer Etikettenschwindel: In einer Republik sei das Staatsvolk die Quelle der Souveränität, und auch hier gelte: Pustekuchen! Die hiesigen Bürger seien Beute der SED! 

Ich beherbergte derweil das unversehrte Radieschen in der Backentasche und schämte mich, dass ich den Lehrstoff nicht gründlicher hinterfragt hatte. 

Die Frau des Komponisten und seine halbwüchsigen Töchter blickten betreten auf die Tischplatte. Dann biss ich ich in das Rübchen. Es knackte unangenehm laut, und anschließend hörte man nur noch das Quietschen der Strassenbahn überm sachten Glucksen der Saale. 

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