Sportkamerad Bernd Hartkopf hat einen alten Text ausgegraben, den ich für verschollen hielt:
Rom sehen und... (1)
by Wigald Boning on Tuesday, 17 July 2012 at 11:47 ·
Um per Fahrrad von Füssen nach Innsbruck zu gelangen, benutzt man normalerweise den Fernpass. Deutlich schneller erreicht man die Hauptstadt Tirols jedoch, wenn man zunächst nach Garmisch-Partenkirchen radelt, um von dort aus den Zirler Berg zu überqueren. Gegen diese Route spricht, dass sie für einigermaßen vernünftige Zweiradfreunde gänzlich ungeeignet ist: Mit starkem Gefälle stürzt sich die breite Trasse ins Inntal hinab, alle paar Meter stehen Schilder, die auf das strikte Verbot für Fahrräder und die besondere Gefahr auch für Kraftfahrer hinweisen, alle paar hundert Meter sind Nothalterampen für bremsschwächelnde LKWs in den Berghang gefräst. Als wir die Kuppe des Zirler Berges erreichen und die Abfahrt beginnt, ist es bereits fast ganz dunkel. Atemberaubend leuchtet Innsbruck in der Tiefe, atemberaubend ist aber auch die Geschwindigkeit, in der man sogleich innwärts schießt, da selbst bei trockenem Wetter die Rennradbremsen dem Gefälle kaum gewachsen sind. Man kann lediglich mit festem Händedruck versuchen, die Fahrt ein bisserl zu drosseln. Vorteil des Höllentempos: Der Rennradraudi ist schneller unten, so dass die Polizei kaum Zeit findet, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Weiteres Schmankerl: Bei Gegenverkehr mit Fernlicht wird die Abfahrt durch temporäre Erblindung des Zweiradlers gewürzt. S-Bahnsurfen ist dagegen babyeierleicht. Wie heißt die gleichnamige Sendung? "Nicht Nachmachen" - Das gilt auch hier.
Um kurz nach zwölf erreichen wir den Brenner. Auf der Passhöhe steht das Wohnmobil, in dem uns Sigi und Daniel mit heißer Nudelsuppe verköstigen. Im Radio dudelt Tanzmusik. Beste Laune, Hüttengaudi. Die Laune trübt sich zügig ein, als auf der Brennerabfahrt stämmiger Regen einsetzt. Dicke Tropfen zischen durch die schmalen Lampenlichtkegel; jede Kurve wird zur Reifenprüfung. Als wir Brixen erreichen, bin ich durchgeweicht, und meine Füsse frieren.
Bozen. Es dämmert zaghaft, und schwere Backstubenduft-Schwaden liegen über der Stadt. Wir durcheilen diese gähnend auf der Umgehungsstraße. In einem langen, muffigen Tunnel überholen uns, neben vielen fetten LKW, auch Sigi und Daniel. Riegelrast am Ortsausgang.
Trento ist eine Stadt, die mit Leuten wie uns nicht zu rechnen scheint; Ohne böse Absicht finden wir uns plötzlich auf einer Autobahn wieder und müssen uns Buhhupen gefallen lassen. Immerhin sind wir zu fünft und fühlen uns in der Gruppe stark. Wir: Das sind mein bester Sportfreund Hannes, sein Bruder Peter, Nachwuchsradsportler Cornelius und Bernd, Langstreckengeneralist, der von unserer Rom-Idee via fb erfahren hat. Beherzt kurbeln wir zur nächsten Ausfahrt, tragen unsere Räder durch den Morast einer Baustelle, passieren die Innenstadt und entdecken einen exquisit asphaltierten Radweg parallel zur Etsch. Wermutstropfen: Es tröpfelt wieder. Und zwar volle Kanne.
In Rovereto gelingt es uns lange nicht, das Wohnmobil zu finden. Abstimmungsprobleme. Auf das olle Navi mit der Software von annodunnemal ist auch kein Verlass, und auf den Typen, der es bedient (ich) schon gar nicht. Überhaupt wissen wir zur Stunde noch nicht so recht, wie wir denn überhaupt fahren wollen. "Ist doch egal, führen doch eh alle Wege nach Rom" hatten wir im Vorfeld gewitzelt. Ob der Spruch stimmt? Beim Frühstück in der "Bar Rovercenter" schwant uns, dass man sich kaum blauäugiger in dieses Abenteuer schmeißen kann als wir.
Tempo zügig. Windschatten. Peter hat angekündigt, nur eine Hälfte mitfahren zu wollen, und spendiert und dafür einige Sonderschichten Windbruch. Doch selbst an der Spitze unserer Kolonne ist er schneller es für den Rest günstig wäre. Wir wollen ja nicht ums Eck zum Eiscafé, sondern in die ewige Stadt. Hm. Geht denn das mit 30er Schnitt? Als auf dem Weg nach Villafranca di Verona tropischer Starkregen einsetzt, halten wir zum ersten Mal außerplanmäßig. Uff.
Die Poebene. Für mich als Oldenburger nichts angsteinflößendes; Schweinemast und Ebenmaß kenne ich aus der Heimat. Im Gegensatz zu meinem Freund Hannes finde ich derlei Flachpanoramen sogar ganz hübsch. Mittagspizza in...in...in...Namen vergessen. Ein Kaff wie diese Orte im Wildwestfilm, wenn die fünf Schurken einreiten, Mittig wiederum hat das Kaff eine große rote Burg, ferner denkmalhalber ein Weltkriegsgeschütz neben einer Madonnenstatue und daneben eine drömelnde Katze. Heiß heute.
Zickzackzick, dann übern Po, wiederholte Wegfindungsprobleme. Alle sind genervt, und mir ist's peinlich. Dass wir auf dem falschen Weg sind, merke ich ja immer als erster, schlucke dann stumm, überlege, ob ich durch einen unbemerkt bleibenden Zacken den Irrtum ausbügeln kann. Normalerweise geht dies nicht. Hitzehalt an einem Großsupermarkt. Speiseeis und Grobuddeln eisgekühlte Cola werden auf Ex gelöscht.
Mittlerweile ist Spätnachmittag, die Moral angeschlagen, der Gesprächsstoff aufgebraucht. In der Ortschaft San Felice sul Panaro errechnet das Navi einen Weg, der im Nichts endet. Mist, zurück. Der andere Abzweig endet an einer Bahnlinie. Seltsam. Nochmal der errechnete WEg. Kann doch gar nicht sein. Endet im Kies. Arg, falsch. Oder der da? Ist das überhaupt ein Weg? Ausprobieren. Halt, zurück. Erst wird getuschelt, dann gezischelt. Sigi und Daniel warten derweil 30 km weiter auf uns. Hannes macht dem Spuk ein Ende. "Schluß, wir pausieren jetzt hier". Im Ort jedoch keine Kneipe, kein Café. Dafür alles kaputt. Erdbeben. Es folgt der gewiss groteskeste Moment meiner Sportlerlaufbahn. Wir kehren ein in der Bar eines Flüchtlingslagers. Hunderte Menschen wohnen hier in Zelten und warten auf den Wiederaufbau. Die Innenstadt mit ihren historischen Gebäuden ist schwer getroffen, abgesperrt, und wird von Militär vor Plünderern geschützt. Und nu' kommen gereizte, übernächtigte Hansels auf ihren 5000-Euro Rädern und mischen sich unter jene, die unlängst alles verloren haben. Ja. Weiß ich auch nicht. Wird noch ein Weilchen dauern, bis ich die hierfür passende Einschätzung gefunden habe. Vor Ort jedenfalls werden wir still, uns ist etwas übel, Ratlosigkeit allenthalben.
Hannes' Kniekehlensehne ist entzündet, als das Wohnmobil eintrifft, versucht Sigi, das Problem per Tape zu lösen. Am Bahnhof wird eine große Italienkarte in den Schatten gelegt. Peter meint, dass es besser sei, statt mit Navi per Karte den Weg zu suchen. Matte Debatte. Ohne Entschluss geht es irgendwann einfach weiter. Wohin? Nach Rom eben. Wohin denn sonst. Kurzhalt vor Bologna. Hannes Sehne erzwingt sein Aufhören. Peter steigt auch aus. Der Rest klemmt Lichter ans Rad und rollt in die Dämmerung. Eigentlich sieht der Plan vor, Bologna im Westen zu umfahren, um sich dann in einer Ortschaft namens Sasso Marconi aufs Ohr zu legen, aber ich Vollidiot, Totalversager, Komplettnull, mache wieder irgendetwas falsch, oder mein Navi macht etwas falsch und ich merke es nicht rechtzeitig, was weiß denn ich, und plötzlich bemerken wir, dass wir mitten duch Bologna rollen und n Tagesausklang mit einem schönen Dutzend Extra-Km verzieren. An einer roten Ampel macht Cornelius irgendeine kleine Bemerkung, nichts böses, à la "Nimm's nicht persönlich, aber ich glaube, ich stecke morgen mal die Karte mit ein", und mir platzt der Kragen. Binnen Sekunden steht mir der Schaum vorm Mund, ich herrsche ihn an, dass er die Klappe halten soll, sonst könne er morgen mit seiner Karte alleine durch die Gegend fahren, sprinte davon - um allerdings sogleich einzuhalten und kleinlaut um Entschuldigung zu bitten. Interessant. So was ist mir höchst selten passiert. Kann ich mich eigentlich gar nicht dran erinnern. Offenbar ist bei mir eine Grenze erreicht, hinter der sich jene Charaktereigenschaften befinden, die wohlweislich sonst bestens verborgen sind. Spannende Frage: Ist es überhaupt sinnvoll, an diese Grenzen zu gelangen? Will, muss man überhaupt wissen, wie das "wahre Ich" aussieht, wenn es von den Umständen freigelegt wird? Zumal, wenn es hässlich ist, dies "wahre Ich?" Bernd beschwichtigt, der junge Cornelius akzeptiert meine Entschuldigung. Tatsächlich ist unser Umweg mit 500 Extra-Höhenmetern verbunden. 20% Steigung. Fluch, Schwitz, Keuch. Aber auch die Habenseite kriegt Futter: Herrliche Hügel am Rande der Appeninen lassen die berühmte Mühsal der Poebene vergessen, und der letzte lila Abendglanz, der auf den Gipfeln liegt, trägt Frieden in unsere Herzen. 28 h unterwegs, 600 km auf der Uhr. Heia.
Rom sehen und...(2)
by Wigald Boning on Tuesday, 17 July 2012 at 17:52 ·
Tüdelüdelüt. Handywecker. Eine Wiese in den Appeninen, morgens um halb sechs. Also: so spät, dass das irgendwann vollmundig angepeilte Zeitziel "48h" ab sofort Makulatur ist. Beim Blitzfrühstück frage ich Bernd, wo denn
Cornelius stecke. "Steigt aus wegen Knieproblem". Schade. Vorteil des langen Ausschlafens: Bernd und ich sind guter Dinge und bestens ausgeruht. Wir rollen locker Richtung Pistoia, um dort zu frühstücken. Ein Tunnel will durchquert werden, aus dem ein ohrenbetäubender Lärm dringt. Was ist das? Leopardpanzer? Jumbo Jet? Bergdrachen? Meine Nackenhaare sträuben sich, zumal an der lautesten Stelle die Beleuchtung defekt ist. Aha, der Krachmacher ist ein an der Decke hängender Mammutventilator. Wohl kaputt. Für Autofahrer kein Problem, für Tunnelradler ohne Gehörschutz eine echte Mutprobe. Ich denke an Jim Knopf, Lukas den Lokomotivführer und den Scheinriesen, der, wenn man ihn erstmal aus der Nähe betrachtet, all seinen Schrecken verliert.
Wir üverqueren einen Höhenzug, dessen Format dem Schwarzwald in Ost-West-Richtung entspricht; die letzten 14km schießen wir mit Höchstgeschwindigkeit bergab. Neben krampfenden Händen peinigen mich Schulterschmerzen vom vielen Stützstress. Aber die Aussicht in das Arnotal macht glücklich.
Von Pistoia geht es weiter zum Hbf nach Prato, wo wir Sigi & Co treffen, Wasser und Riegel nachladen und wo ich mir recht kleinlaut eine Landkarte kaufe, zur Absicherung. Dann wuchten wir uns Richtung Florenz. Schnellstraßenalarm, tüt-tüt. Uns egal, in der Mittagshitze ist uns Aufregung unmöglich. Lass' sie halt hupen. Von den großartigen Sehenswürdigkeiten der Arnostadt sehen wir keine, dafür aber die verrottende ehemalige forstwirtschaftliche Fakultät der Uni. Warum wir diese passieren, weiß nur unser Navi. Nicht fragen, treten. An der südwärtigen Stadtgrenze wird's steil; ab sofort traversieren wir die Hügel der Toskana. Zikadengezirpe, sonst kein Laut. Luftspiegelungen, Smaragdeidechsen. Auf jeder Kuppe bleibe ich stehen und warte auf Bernd, dem die Höhenmeter mehr zusetzen als mir.
Ich bin das erste Mal in der Toskana und kann spontan konstatieren, dass ich nie eine anmutigere Landschaft gesehen habe. Aber hinter der geschwungenen Grazilität der Formen steckt eine eiserne Lady, die grausame Lady Toskana eben, welche den mutigen Pedaleur erröten lässt. Schwitzend schrauben wir uns höher und höher durch das Val di Pesa, müssen bereits nach zwei Stunden Getränke nachladen und kurbeln zunehmend zeitlupiger. Immer öfter wische ich mir mit meinen schmutzigen Pranken den Schweiß von der Stirn und sehe bald aus wie Lukas der Lokomotivführer. Irgendwann passieren wir irgendeinen Hauptgipfel, erkennbar durch Masten, Kreuze, Aussichtsturm und rollen mit ausgedörrten Schleimhäuten durch den Saunawind hinab nach Siena, unseren nächsten Treffpunkt.
Als wir den Ortskern erreichen und uns zum berühmten Marktplatz durchfragen wollen, stelle ich fest, dass mein Sprechwerkzeug dehydrationsbedingt keine Laute mehr von sich zu geben vermag. Immer mal was neues.
Siena! Ah! Was für ein Marktplatz. Alles roter Ziegel, welch ein Masterplan. Zweimal im Jahr treten hier alle 13 Ortsteile in Pferderennen gegeneinander an; die Viertel bzw. Dreizehntel sind allesamt nach Tierarten benannt. Unter den Städten ihrer Größe ist Siena jene mit der niedrigsten Kriminalitätsrate. Warum dies etwas mit den Pferderennen zu tun hat, steht bei Wikipedia. Unbedingt lesen. Mit unseren invaliden Freunden essen wir Pasta, trinken Cola aus Maßkrügen, tauschen Brille gegen Sonnenbrille, verzichten auf Beleuchtung (wir treffen uns ja sicher vor Sonnenuntergang) und verlassen die auf einem Hügel gelegene Altstadt über eine spannende Rolltreppenanlage. 6 Geschosse, just wie bei Hertie, nur dass nicht Herrenkleidung und Spielwaren mit Lebensmitteln, sondern verschiedene Epochen und Baustile miteinander verbunden werden.
Die SS 2 nach Cassia ist für Fahrräder verboten. Egal, wir probieren's trotzdem. Als aber die Autos mit 120 an uns vorbeiknattern, verlässt uns der Mut und wir geisterfahren zurück zur Auffahrt. Das Navi lenkt uns ersatzhalber über eine weitere Gebirgskette, die "Le Crete". Schlappe 25 km Umweg. Großzügige Buckel, die ich, während ich auf Bernd warte, fotografieren will, allerdings ist die Handylinse mittlerweile so von in den Trikottaschen abgesetzten Riegelresten verschmiert, dass sich nur Bilder mit David-Hamilton-Effekt knipsen lassen, und auch diese nur, nachdem ich das Telefon gründlich abgelutscht habe. Leider ist auch die Schallquelle des Handys verschmierriegelt, so dass Anrufer nur sehr leise gehört werden können. Eins wird uns auf diesem Umweg jedoch klar: Die schönsten Winkel entdeckt man durch Verirrungen. Und weil wir oft verirren, sehen wir viel schönes. Taugt auch gewiss als Metapher, die in vielen Lebensbereichen Verwendung finden kann.
Kurz vor Buoncuore lesen wir auf einem Schild: "Roma 210 km" - eine Lektüre, die uns rührt und glücklich macht. 210 könnten wir zur Not durchfahren. Zur Not.
Aber wir haben keine Not. Fürs erste freuen wir uns, dass wir endlich legal auf die SS 2 gelangen. Wenig Verkehr, bester Asphalt, sanftes Auf und ab. Ins Handy brüllend verabreden wir uns zum Abendessen mit den anderen in der "Delfin Bar", bei km 160. Also noch 30. Und weil es dämmert, und ich mit meiner Sonnenbrille in der Düsternis nichts sehen kann, geben wir Fersengeld.
Übernachtet wird im ausgedorrten Bachbett, ich liege, weil's so heiß ist, nackt zwischen den Disteln, und große Insekten krabbeln über die Salzkrusten, die meinen Körper bedecken. Macht mir gar nichts aus. Mir ist alles egal. Morgen sind wir in Rom
Rom sehen und...(3)
by Wigald Boning on Wednesday, 18 July 2012 at 08:10 ·
Brille verbogen; wohl im Schlaf draufgelegt. Ist jetzt auch egal. Es ist vier Uhr dreissig, das große Ziel liegt noch etwa 160 km entfernt und hat drei Buchstaben. Bernd und ich tragen die Räder aus dem Bachbett zur Strasse, knipsen die Lampen ein und rollen durch die Dunkelheit. Sonntagmorgen, d.h.: wir haben den Premiumasphalt der SS 2 für uns allein. Fast. Ab und zu begegnen wir Autos. Die Fahrer sind um diese Uhrzeit potentiell besoffen, und so prüfen wir jedes herannahende Fahrzeug aufmerksam auf Schlangenlinien.
Als die Fahrt nach zwei Stunden Dämmerung im Ort Acquapendente zäh zu werden droht, öffnet sich der Blick auf einen riesigen Talkessel; unter uns liegt der kreisrunde Lago di Bolsena. Die Welt in Cinemascope.
In der Ortschaft Bolsena überfallen wir eine Bäckerei. Zwei Vollverdreckte laufen Amok, verschlingen Hörnchen auf Hörnchen und lassen Espresso in ihre Herzkammern laufen. Apropos: Die meisten Menschen heutzutage wissen ja gar nicht, wie sich das anfühlt: Dreck. Erst, wer von knibbelfesten Krusten umgeben ist, weiß ein duftendes Seifenstück so recht zu schätzen. Zur Steigerung der Lebensqualität empfehle ich eben dies: Regelmässige Schmutzperioden, um die Sauberkeit wieder zum Erlebnis werden zu lassen. Viel Vergnügen im Modder.
Bald passieren wir ein Schild, darauf steht: "Roma 100 km". Wir nicken uns zu. Ab jetzt kann uns auch ein schwerer Defekt nicht mehr stoppen. Zur Not müsste man das Rad eben schultern. Verhalten vorfreudig entern wir die Stadt Viterbo und grübeln ein letztes Mal über einer heiklen Navigationsfrage: Fahren wir SS 2, ab hier autobahnähnlich ausgebaut, oder vertrauen wir dem Navi, das uns eine kürzere, aber verdächtig kurvige Kleinstrasse empfiehlt? Wir folgen dem Navi, haben uns von ihm ja eh versklaven lassen. Wir lachen hysterisch, als wir zuerst eine Reha-Klinik passieren ("Sollten wir uns hier nicht auf der Stelle einliefern lassen?") und lachen lauter, als wir kurz darauf in engen Serpentimen ein idyllisches Kloster ansteuern, die Abtei San Martino am Monti Cimini. Nahezu traumwandlerisch ist es uns gelungen, unsere Reiseroute mit einem weiteren heftigen Anstieg zu verzieren. Auf der Gipfelhöhe umarmt mich Bernd, und aus dem hysterischen Lachen wird das Geschnatter des Wahnsinns, irgendwo zwischen Apocalypse now und Spongebob Schwammkopf.
Bergab geht es durch einen efeuumrankten Märchenwald. Der Schlafmangel vertieft den Eindruck satten Dunkelgrüns, und mein Herz schmilzt auf der Abfahrt vor Wohlbehagen. Linkerhand liegt der Lago di Vico, ein Vulkansee, der angeblich durch einen Keulenhieb des Herkules entstanden sein soll. Wir stellen die Räder ab und mischen uns unter die Badegäste am schwarzen Kiesstrand, trauen uns aber nicht, ganz ins Wasser einzutauchen, fürchten Sitzprobleme durch nasse Hosenpolster. Mein Hintern ist eh schon wund, aber durch Schorfkrusten gut geschützt. Das soll so bleiben. Überhaupt, mein Körper. Die Füße sind seit Florenz eingeschlafen. Sicher irgendeine Nervenirritation. Trifft sich gut, dass Sohlensensibilität auf dem Rad völlig unnötig ist.
Nach dem Bad regulieren wir am Kiosk unseren Espressopegel und rollen weiter bergab.
Letzter Akt, Nun hilft uns nix mehr, wir müssen auf die ausgebaute SS 2, ob wir wollen, oder nicht. Die Sonne scheint uns für Schnellgerichte zu halten, die gegart werden wollen, Dieselduft wabert die Auffahrt hinab, und wir stoßen mit grimmigem Blick hinein. Zwischen Leitplanke und Schnellverkehr ist zumeist ein Meterchen Platz; nur manchmal gilt es, Metallschrott oder geplatzten Mülltüten auszuweichen, die hier an der römischen Peripherie offenbar gerne durch das Autofenster entsorgt werden. Ich fahre ca. 100 Meter voraus, Bernd hinterher. Menno, wann kommt denn endlich dieses blöde Rom? Eine Stunde rollen wir nun schon über die breite Trasse, die auf Fahrradfahrer wirkt wie ein Krustenbraten auf Veganer. Oder bin ich einfach nur zu waschlappig? Da schießt irgendwann ein gut gegeelter Radsportler auf die Trasse, überholt mich freundlich grüßend und freihändig, schält behende eine Banane und nestelt an seinem Handy herum. Dass er derweil ums Haar von mehreren Autos überfahren wird, scheint der Autostrada-Crack gar nicht wahrzunehmen. Alles Übungssache, das ganze Leben. Und dann geht's noch einmal lange und raketig bergab, der Tacho zeigt 63 km/h, die Autos in Griffweite sind jedoch doppelt so schnell, und schließlich steht auf einem Ausfahrtsschild: "Roma Centro". Ich warte, einen Fuss lässig auf die Leitplanke gestellt, Bernd naht heran, ich zeige aufs Schild, grinse so breit, dass ein Teil der Dreckkruste in meinem Gesicht wegplatzt, und gemeinsam rollen wir in den Vorort Cassia hinein. Roma, città aperta. Triumphatorenparade. Eine letzte Lasagne am Straßenrand. Wo ist denn nun die Stadtgrenze genau? Keine Ahnung, aber das Straßenschilddesign und die Bushaltestellen kommen mir bereits bekannt vor, von früheren Besuchen. Da vermeldet der Tacho 1000 km Fahrtstrecke, bei 8400 Höhenmeter und 66 Stunden Gesamtzeit inklusive Schlaf. Angekommen. Um unsere Tour mit einem brauchbaren Endpunkt auszustatten, rollen wir hinab zum Tiber und machen Fotos. Zwei Räder unter einem Romulus-und-Remus-Relief. Passt doch. Und dann geht's weiter zum Hotel, wo unsere Freunde uns applaudierend empfangen. Abends Party am Campo del Fiori. Soweit mein Bericht in aller Kürze.
Liebe Enkel, wenn es Euch dereinst gibt und Ihr dies lest: Nie hat Euer Opa eine tollkühnere Fahrradtour unternommen. Tut es ihm nach. Fahrt nach Rom. Das Gefühl bei der Ankunft ist nicht käuflich. Man muss es sich erarbeiten. Nebenbei lernt man schöne Landschaften kennen, und am "wahren Ich" rollt man auch vorbei. Regelmäßige Verirrungen steigern den Genuss, und am Ende führen tatsächlich alle Wege nach Rom. Die beschriebene Route kann ich vorbehaltlos empfehlen (abgesehen vom Zirler Berg, für den gilt: Nicht nachmachen)! Viel Spass!