Mittwoch, 20. Februar 2019

Auf Schleswig-Holsteins höchsten Berg

Mai 2018. Neue Sendung, aus einer Schnapsidee entstanden: Norddeutsche Kurbäder, die ich gemeinsam mit Schaubuden-Titan Carlo von Thiedemann besuche. Der NDR hat drei Sendungen in Auftrag gegeben, und der erste Drehort ist Malente. Als ich dies erfuhr, kamen mir sogleich die 16 summits in den Sinn; quasi routinehalber ließ ich meine kommot-App den Weg vom Hotel zum Bungsberg berechnen. Und siehe da: Machbar! Also einen Flug früher angereist, mit leichter Verkomplizierung, da die Lufthansa seit drei Wochen nur noch verpackte Klappräder transportiert, ich aber mal wieder kein Futeral dabeihabe. Also lasse ich mein Faltrad blistern - ein unerwartet spannender Sehgenuss, da die Wickelmaschine an eine Spinne erinnerte, die ihr Opfer einwickelt. 


Nach Flug und Transfer in Malente angekommen, schlage ich mir einen Backfisch hinter die Kiemen, ehe ich die Folie vom Rad reiße, dieses entfalte und am wunderhübschen Kellersee entlang durchs frühlingshafte Blö drömele. Nüchel heisst das Örtchen, für das ich nach einer halben Stunde die L178 verlasse, und die Landschaft knittert. Nicht nur kleine Eselsöhrchen, sondern veritabler Faltenwurf. Weite Schwünge, Koppen, Täler, ein Relief wie bei den Teletubbies. Kein Zweifel: Ich nähere mich dem Alpenhauptkamm der Holsteinischen Schweiz. Im kleinen Gang arbeite ich mich hinauf zum Gut Kirchmühl, dann parke ich mein Rad und rüste mich zum Gipfelsturm (heisst: Schuhe zubinden). 


Auf eher subalpinem Trail gehe ich steigungsarm zum gut erkennbaren Doppelgipfel: Einerseits ist da eine bewaldete Kuppe, zwischen deren Bäumen mehrere Bauten erahnbar sind, zum anderen eine freie Wiese, auf der ein Granitblock, aufgestellt von der dänischen Landvermessungsbehörde im Jahre 1838, den höchsten Punkt markiert, nämlich 168 Meter über N.N.

Doch gemach. Zunächst betrete ich den höchsten Hain Schleswig-Holsteins, an dessen Zuweg ich eine sonderbare Skulptur passieren. Was ist das? Ein Hünengrab? Grübelgrübel...


So ähnlich. Eine Plakette weist das Gebilde als Kletterfelsen nach Industrienorm EN 1176 aus, erbaut in Cottbus, Projekt-Nummer 2013-09-93. Das Innere der Konstruktion taugt auch als Unterstand, urteile ich fachmännisch, bin erfüllt vom Gefühl, ein Meisterwerk brandenburgischer Freizeitarchitektur kennengelernt zu haben, und denke an Helmut Kohl, der von Deutschland als einem „Freizeitpark" sprach, womit er zum Ausdruck bringen wollte, dass emsiges Arbeiten nicht mehr so recht unser Ding sei.

50 Meter weiter betrete ich das eigentliche Gipfelplateau, auf dem sich Kultbauten aus gleich mehreren Epochen besichtigen lassen: Der Elisabethturm (erbaut vom Oldenburgischen Großherzig 1884 - quasi „unser" Beitrag), dann die Gastwirtschaft „Waldschänke", der Kleinkinderspielplatz, fein säuberlich getrennt vom Kinderspielplatz, die Logistikgebäude der Stiftung, die sich um die Versiegelung, äh, Attraktivisierung des Bungsberges bemüht, dann das Stiftungsgebäude selbst („Wenn‘s um Geld geht: Sparkasse"), ein „moderner" Fernsehturm mit Aussichtsplattform (bei guter Sicht Blick auf die Ostsee), eine „Gletscherrinne", ein „Besiedelungsplatz", und, gleichsam als Open-Air-Foyer dieser Kultstätte: der Parkplatz. 

Wer wird hier angebetet? Der Gott der Zerstreuung, dessen Heilige die Mainzelmännchen sind, der Zonk, das Sandmännchen? Sein „Großer Gott wir loben Dich" ist die Tagesschau-Melodie, der SAT-1-Ball eine seiner Ikonen. Ja, Funk und Fernsehen sind hier vertreten, mit einem in seiner Vielfalt weltweit einzigartigen Ensemble unterschiedlicher Sendeanlagen. Sogar der Elisabetturm diente zwischen 1954 und 1960 als UKW-Sendeanlage. Der Bungsberg hat eine Mission, er atmet Sendungsbewusstsein.

Aber der Bungsberg ist eben nicht nur Kultstätte der Television, sondern auch des konkret-körperlichen Vergnügens. Auf dem Bungsberg befindet sich Schleswig-Holsteins einziges und Deutschlands nördlichstes Skigebiet. Wenn die Schneelage es zulässt, bietet der Nordosthang Mehrere Abfahrten, die in allen Varianten nach circa 25 Sekunden enden. 1970 wurde der 500 m lange Schlepplift installiert, eine Investition, die sich ob der konkurrenzlosen Schneesicherheit des Bungsbergs bereits nach wenigen Wintern amortisiert hatte. Hoppla; jetzt habe ich mich kurz von meiner Phantasie davontragen lassen. Pardon. Nein, ohne Witz: Rekordwinter war die Skisaison 2009/10 mit 54 Lifttagen. Immerhin. 


In internationalen Skigebiets-Test-Magazinen schneidet der Bungsberg zumeist deutlich hinter Lech, Zürs und Cortina d’Ampezzo ab. Mit einer Bewerbung um die Ausrichtung olympischer Winterspiele konnte man sich bisher nicht gegen die starke Konkurrenz durchsetzen. Obwohl ich‘s toll fände. Dann würde sogar ich wieder Olympia gucken. Die hiesige Sendelogistik erfüllt schon mal allen denkbare Erwartungen, zugebaut ist eh alles, und bei Schneemangel lässt sich auf Ersatzdisziplinen wie Hünengrabklettern ausweichen.


Am Gipfelstein lungern zwei Halbstarke mit Ghettoblaster herum, trinken Schlüpferstürmer und hören Piff Diddy. Als ich mich nähere, drehen sie artig am Volumenknopf, und der Rap ebbt ab. Ich bitte sie, mich auf dem Stein stehend zu fotografieren, eine Bitte, der sie beflissen nachkommen. „GM" bedeutet übrigens: „Gradmessung" - eine veraltete geodätische Methode zur Berechnung der Erdfigur. 


Der Abstieg verläuft komplikationslos; ich erreiche wenige Minuten nach meinem Gipfelglück das wohlbehaltene Rad und rolle das Bungsbergmassiv hinab zurück nach Malente. 34 km Radtour hin und zurück. Und dann beginnt der Dreh. 



Dienstag, 19. Februar 2019

Was macht eigentlich Problembär Bruno?


...fragten sich Sohn Leander und ich, klemmten uns Klein-Theodor untern Arm und spazierten zum Museum Mensch und Natur im Nymphenburger Schloß. Zunächst folgen wir unserer Nase in die Abteilung Erdgeschichte. Theo bearbeitet jene Glasvitrine, in der Galileo Galilei als historisch gewandete Big-Jim-Figur für das Konzept der Erde, die angeblich um die Sonne kreist, mit Fäusten. Ja, der unverbogene junge Geist steht den Konzepten der Wissenschaft mit größerer Skepsis gegenüber als wir alten Hasen, die etwa auf die Evolutionstheorie schauen wie die Kanichen auf die Schlange, um im Nagetier-Bild zu bleiben. Womöglich haben sich Giordano Bruno, Kopernikus, Galilei, Einstein allesamt geirrt, und der liebe Gott schuf den ganzen Kram in sechs Tagen, eher er sich am siebten ausruhte, und zwar auf einer riesigen bunten Hängematte, deren rudimentärer Rest heute noch der Regenbogen ist. Na klar; man kann sich fragen, warum Gott die Hängematte falsch herum aufgehängt hat, nämlich mit der durchhängenden Seite nach oben. Kann man, ja. Aber ist das Mattenaufhängen gegen die Schwerkraft nicht gerade ein deutliches Zeichen, ein Statement gegen die Gesetze der Physik, welches Gottes Faulenzerei erst zum Ausweis seiner Göttlichkeit, mithin bibeltauglich werden lässt?
Weiter. Zwischen 1950 und 1960 wurden, so erfahren wir im nächsten Raum, beachtliche 10 % des weltweiten Fluoridbedarfs in einem bayerischen Dorf gefördert, ehe der Fluoridbergbau unrentabel wurde. Schon wieder vergessen, wie das Dorf hiess. Und was man mit Fluorid eigentlich anstellt, ausser dass man sich die Zähne damit putzt. Ich weiss auch nicht, warum ich mir ausgerechnet „10 %" gemerkt habe. Der gut fluorierte Zahn der Zeit nagt an meiner Gedächtnisleistung; meine Hardware ist mittlerweile ziemlich soft. Und damit sind wir auch schon in der nächsten Halle, in der es um die Entwicklung des Lebens geht. 




Ein Schädelknochen fasziniert Leander dort besonders, der flache, kleine, breite Brägenkasten des Australopithecus boisei, des „Nussknackermenschen". Was er nicht an Grips besaß, hatte er im Kiefer: Ungeheure Bißfertigkeit, geeignet für den Verzehr „härtester Pflanzenteile". Im Klartext: Der Kerl verzehrte Xylophone, Saunen und Gelsenkirchener Barock. Ohne Extra-Flourid. Theo robbt derweil „Ä-bff" deklamierend über den Parkettboden. Wäre er ein Nussknackermensch: Gnade dem Parkett! 
Nächster Raum, für mich persönlich der Höhepunkt: Bruno. Nicht Giordano, sondern JJ1 - der Problembär. Da steht er, in seinem stattlichen Glassarg, ausgestopft, beim Plündern eines Bienenstocks am Rande von Kochel am See. Die zeitliche Parallelität seiner Alpentournee und der Fußball-WM 2006 hatte ich vergessen, ebenso wie den an einer Rekapitulations-Tafel erwähnten Einsatz finnischer Bärenjäger mit Hunden und Röhrenfallen (komplett erfolglos). Auf einem Foto sind die Spuren seines Einbruchs in eine Berghütte bei Fügen zu sehen: Die Holzbretter sind wüst zersplittert. Ob das wirklich Bruno war (und nicht doch eher ein Nussknackermensch)? 
Leander und mir kommt Bruno eher zierlich vor. Elegant und eigensinnig wie Karl Lagerfeld. Und, wie er, ein Europäer, die sich über Grenzen hinwegsetzte. Neuland erkundete. Monochrom gekleidet war. 
Damals hielten ausnahmslos alle meine Freunde die Idee, diesen ersten wilden Bären auf Deutschem Boden nach seiner Erschießung auszustopfen und auszustellen für, nun ja, schräg. Und jetzt, da ich vor ihm stehe, empfinde ich diese Geschmacklosigkeit als nicht sonderlich peinigend; im Facebook-Trump-Zeitalter ist des Petzens Präparation pure Petitesse. Beim Betrachten stellt sich mir vielmehr die Frage, ob nicht auch Menschen nach dem Tod ausgestopft werden sollten - bei ihrer Lieblingstätigkeit, so wie Bruno beim Bienenstockplündern. Und dann ab ins Museum, oder zu den Lieben nach Hause, ins Wohnzimmer. Ist das Verbuddeln der Verblichenen nicht eine Riesen-Verschwendung? Würden eine ausgestopfe Oma beim Stricken, ein Karl Lagerfeld beim Choupette kraulen unsere Trauer nicht aufs tröstlichste lindern? Und wenn das analoge Ausstopfen für den Durchschnitts-Hinterbliebenen zu teuer ist, kann man dies zukünftig auch günstig im Internet anbieten: Digital Preparation - der Tote lebt als 3D-Animation weiter, KI-gestützt. Kommt, wetten? 
Und gerade, als ich diesen Gedanken denke, fängt Theodor bitterlich zu weinen an. 
Wir ziehen unseren Hut vor den toten Meistern: Petz, Giordano, Bruno, Ganz und Karl Lagerfeld sowieso, der gewiss nunmehr in einer schwarz-weißen Regenbogen-Hängematte Platz genommen hat, um auszuruhen. 



Montag, 18. Februar 2019

Wie ich neulich eine Ehe zerstörte



Ich habe Probleme mit der Impulskontrolle. 
Eines der jüngeren Beispiele: Ich jogge durch Köln, schiebe unseren Kinderwagen vor mir her, und meine Frau begleitet mich auf einem Hotel-Leihrad.
Es ist Sonntag, die Sonne lacht, am Rheinufer herrscht reges Treiben. Vor der Rodenkirchener Brücke ist baustellenhalber ein Gehweg gesperrt; um auf die Brücke zu gelangen, muss zunächst eine kleine Treppe vom Ufer hinauf zum Bürgersteig an der Fahrstrasse erklommen werden. Ganz Gentleman, entbinde ich meine Gattin von allen Hebetätigkeiten und wuchte zunächst das schwere Hotelbike hinauf. Meine Frau nimmt es oben in Empfang, dreiviertel in Gedanken, weil sie ihr Handy zwischen Schulter und Wange geklemmt hat. Frohgemut hole ich nun den Kinderwagen nebst schlafender Fracht hinterher. Rechts auf die Hüfte gestemmt, ein billiges Liedchen gepfiffen, portiere ich den Filius und sein Gehäuse hinauf.
Als ich oben ankomme, hat meine telefonierende Frau ihr Gefährt um einen Meter versetzt; die vordere Hälfte des Bugrades ragt nunmehr eine Elle in den Radweg hinein. 
Da nähert sich von links ein älteres Ehepaar auf Trekkingrädern im Partnerlook. Er Typ pensionierter Katasteramtsvorsteherassistent, sie Typ pensionierter Katasteramtsvorsteherassistentenfrau. Just als sie den unsauber geparkten Drahtesel erreichen, steht auch meine Gattin mit einem Viertelfuß auf dem Radweg. Das Katasteramtspärchen saust vorbei, und im Wegfahren zischt die Seniorin: „Dusselige Kuh!" 
Was hat sie gesagt? Wen hat sie gemeint? Kurz muss ich meine Gedanken ordnen. Ja, sie hat „dusselige Kuh" gesagt, laut und deutlich. Und sie muss tatsächlich meine Frau gemeint haben - sonst ist ja niemand in der Nähe. Ehe ich bis drei zählen kann, schreite ich zur Tat: Der Kinderwagen verbleibt an Ort und Stelle, meine Frau telefoniert derweil ungerührt weiter. Nach Art eines indianischen Palomino-Reiters springe ich auf das von ihr nachlässig gehaltene Rad, reiße es in Richtung des davon rollenden Seniorenpaares und versetze die Pedale mit maximaler Kraft in Bewegung. Von null auf 35 beschleunige ich in sechs Sekunden, verkürze den Abstand auf die beiden nichtsahnenden Alten, geize nicht mit Muskelschmalz, mein Puls hämmert, mein Kopf wird rot, aber nicht nur, weil ich sprinte wie vor mir zuletzt Lance Armstrong, sondern auch, weil in mir ein Tier erwacht ist, ein zähnefletschender Höllenhund, ein hungriger Tyrannosaurus Rex, der sich aller Ketten entledigt hat und auf den entscheidenden Moment wartet, der über Leben und Tod entscheidet. Beißen, ich will beißen, höre ich dieses Tier in mir röcheln. 
Und da habe ich auch schon zur Katasterfrau aufgeschlossen, fahre linksseitig an die Kinnlinie heran, der Abstand beträgt kaum zwanzig Zentimeter, und dann fauche ich feucht und fiese: „Habe ich eben richtig gehört? Sie haben zu meiner Frau „dusselige Kuh" gesagt? Meine Stimme überschlägt sich, die Kataster-Oma erschrickt, ihr Mann, der ein paar Meter voraus fährt, blickt sich irritiert um. 
Für einen kurzen Moment ist alles in der Schwebe: Die von mir Drangsalierte sucht schlagartig erbleicht nach einer passenden Antwort; ihr Ehegatte ist alarmiert, muss jetzt aber wieder den Kopf nach vorne wenden, um nicht gegen den nächsten Baum zu fahren. Ich radle weiter auf gleicher Höhe mit der Frau, adrenalingesotten, jederzeit bereit, die alte Dame mit einem Prankenhieb vom Rad zu strecken - und die Sonne lacht dazu. 
„Na? Na?" setze ich crescendierend nach; die Seniorin öffnet den Mund, ist unschlüssig, schließt ihn wieder; ich balle meine Faust, dann setzt sie neu an und antwortet mit mühsam unterdrückter Panik: „Nein, zu meinem Mann! Ich hab das zu meinem Mann gesagt!" Ihr Gatte reißt seinen Kopf nach rückwärts, blickt seine Frau entgeistert an, und gleichzeitig weicht alle Spannung von mir; das wilde Tier schläft auf der Stelle wieder ein, und mit milder Genugtuung flöte ich: „Ah! Dann ist ja gut!" Und mit einem „Schönen Sonntag noch!" drossele ich mein Tempo, wende und rolle entspannt zurück zum Ausgangspunkt. 
Meine Gattin beendet soeben ihr Telefonat. „War was?" erkundigt sie sich, was ich sogleich verneine. Und in der Entfernung sehe ich das alte Ehepaar am Wegesrand stehen, großgestisch im hitzigen Disput. Schade, dass man nicht hört, was sie sich zu sagen haben. 
Und dann setzen wir unseren Sonntagsausflug fort. Lächelnd. 

Die Strichmännchen vom Central Park
















Vor etwa einem Jahrzehnt schoss ich diese Bilder, die seither ungenutzt auf einer Festplatte herumlungerten. Unlängst kramte ich sie hervor, da ich in letzter Zeit vermehrt ans Radeln in New York denken musste. Grund: In meinem Sportsfreundeskreis wird viel Zeit mit ZWIFT verbracht. Den Nichtsportlern sei erklärt: Es handelt sich um eine elektronengehirnige Anwendung, bei welcher der Athlet daheim auf einem Fahrrad sitzt, in einen Monitor schaut und aufgrund der in diesem sichtbaren Farbenspiele meint, er pedaliere sich durch die weite Welt. Eine beliebte Route für diese Wohnzimmerathleten führt durch den New Yorker Central Park. Ich selber habe ZWIFT noch nie ausprobiert (kein WLAN, kein Platz, keine Lust), kann mir aber vorstellen, dass die Grafik gerade in der grünen Lunge des Big Apples einige wichtige Details nicht darstellt - zu denen ich die elegant alternden Radlerporträts auf dem Asphalt zählen möchte. 

Sonntag, 17. Februar 2019

Diesel-Krise? Nicht mit uns!

Zu meinen liebsten Verkehrsmitteln gehört der Tretroller. Er vereint alle Vorzüge des Fahrrades mit der Nonchalance des Flaneurs; laut Straßenverkehrsordnung handelt es sich bei einem Tretroller um ein Kinderspielzeug, dessen Einsatz auf Bürgersteigen ausdrücklich zulässig ist. Jede Kleidung ist willkommen, das Tempo angenehm bescheiden - und doch im Großstadtmix auf vielen Strecken dem Auto ebenbürtig. Im Stau stand ich mit einem Tretroller noch nie. 
Psychologisch basiert der Reiz des Rollerns sicher auch auf den allerersten Kindheitserinnerungen; man war noch zu klein fürs Rad mit Stützrädern, erlebte darum stehend seinen ersten Geschwindigkeitsrausch und eroberte die Sackgassen des Wohnviertels. Wer auf einem Roller steht, verjüngt sich gleichsam, wird selber wieder zum Dreikäsehoch. 
Stichwort Stehen: Wer lieber rumsteht als rumsitzt, ist auf dem Tretroller besser aufgehoben als auf einem Fahrrad. Und wie titelte der „Stern" vor einigen Jahren? „Sitzen ist das neue Rauchen" - da haben wir‘s. Tretroller rules.
Selbstfahrende Autos faszinieren mich persönlich ähnlich wenig wie Elektromobilität - mein Herz gehört einer anderen Interpretation des Wortes „Fortschritt", nämlich der buchstäblichen. 
Ich persönlich habe Roller verschiedener Fabrikate im Einsatz, wobei Tschechien eine besonders prominente Rolle unter den Herstellernationen spielt: „Mibo" und „Kostka" heißen zwei Firmen, die ausgefeilte Roller herstellen, mit denen ich beste Erfahrungen auch auf Langstrecken gesammelt habe (Langstrecke heisst bei mir: über 100 km, etwa meine Standardroute von Osnabrück zu meinen Eltern nach Oldenburg). Der bemerkenswerteste Hersteller ist sicher dieser hier: 
Amischroller
...und soeben fällt mir auf, dass ich mit meinem Strohhut durchaus zu den Amisch passen würde. Jetzt fehlt mir nur noch ein Ohm-Krüger-Bart, um mich erfolgreich mit den Amischen verwechseln lassen zu können. Ich habe mal welche kennen gelernt, vor einem Jahrzehnt auf der „Queen Mary". Zwei Paare, die auf dem Schiff den Atlantik überquerten. Hintergrund: Sie stellten Kachelöfen her, die auch in Europa vertrieben werden. Quasi eine Dienstreise. Miteinander parlierten sie in einem spannenden Mix aus Englisch und einem Dialekt, der dem Pfälzischen ähnlich klang. „Jetzt gehn mir uff de Stubb" hieß es, wenn sie im Speisesaal zuende gefrühstückt hatten.

Draußen zwitschern euphorisch die Kleiber, Bachstelzen, Wiedehopfe. Blaues Band. Lenzluft. Raus mit uns, Frühlingsträume träumen. 



Freitag, 15. Februar 2019

Weißer Rausch

Frühstück beendet. Zeit für einen Spaziergang, den Hang hinter der Hütte hinauf. Bebop, Boys und weißes Pulver. Wir haben zwei Paar Tourenski und ein Paar Schneeschuhe. Wer kriegt was? Da ich mir aus rasanten Abfahrten nichts mache, nehme ich letztere. Sohn Leander schreitet forsch voran, dann komme ich. Leanders Bruder Cyprian kämpft mit monumentalen Blasen. Jaja, Skitourenschuhe. Die passen prinzipiell nie. Fast.
Oben lockt die Sonne. Gleißend und ohne den zartesten Dunst. Ihr goldener Schuss lässt den Schnee warm wirken. Gierig strebe ich in Richtung Licht, à la Motte in Gore-Tex-Hosen, sauge die Luxens in mich hinein wie Dennis Hopper sein Poppers in „Blue Velvet". 
Das Panorama oben ist schlichtweg bonfortionös. Fester Firn am Kamm. Windstärke 0,0. Fernsicht bis Tahiti.
Leander begrüßt mich im Schnee badend. Luxuriöser als Dagobert Duck im Geldspeicher. Ich überlasse ihn seinem Bad und laufe den Kamm entlang. Ganz hinten schläft die Speickspitze, vor ihr träumt die Antoniaspitze. Ja, die Berge schlafen. Man hört sie atmen, guttural und gleichmäßig. Bauchschläfer allesamt: Man wandert auf den Bergrücken.

Nachdem ich mich am Reigen der Riesen satt gesehen habe, kehre ich zurück zu Leander, der sich noch immer im körnigen Crack aalt. Nein, satt gesehen habe ich mich nicht, nur der Cold Turkey ist mit knapper Not abgewendet. Goldener Schuss, Crack, Turkey - du liebe Güte, ich rede wie Christiane F. 
Voll auf Droge. Leben in Zeitlupe. Alle Knoten platzen, die Wahrheit der Welt knirscht unter Deinen blasigen Füßen, in kristalliner Form. Der mächtige Dealer im Himmel hat uns das Powder geschenkt - zum Anfixen. Später müssen wir blechen, und der Dealer reibt sich die kalten Flunken.
Jetzt kommt Cyprian auf den Kamm.

Ganz cool, mit Spiegelbrille. Auch er im Rausch. Will nicht mehr weg. Lässt sich nieder und schweigt. Giert und grinst. Glücklich, wer sich an der Bergsonne berauschen kann. Luzides Träumen. Leander fährt als erster ab, fräst monumentale S-Bögen in den Talar des Hanges. S wie Sorro. Ich hoppele hinterher. Werde immer schneller. Juchze. Sprinte schließlich. 
Womit wir später blechen müssen? Muskelkater und Müdigkeit. Kein Problem. Wir sind reich. 



Zwillinge im Zillertal

Zauberschnee („Generation Z"). Und in der gleißenden Mittagssonne 4 Grad plus - Viel zu dick sind die Anoraks, in denen Cyprian und Leander mich zur Hütte begleiten. Schnell ist alles durchgeschwitzt. Cyprian macht bald auf Putin und stiefelt mit nacktem Oberkörper bergauf. Ich habe derweil ganz andere Probleme, weil der mit Lebensmitteln randvolle Riesenrucksack auf meinem Rücken kamelhaft hin und her wackelt, und gleichzeitig der warme Schnee an den Fellen meiner Tourenski kleben bleibt. Er stollt, wie man so sagt. Vier Kilo Extrafracht. Cyprian gehts genau so. Wir werden immer langsamer. Schneckenhaft nahezu. Auf dem letzten Kilometer wirken wir wie Everest-Bezwinger: Fünf Schritte, Fluchpause. Stossgebet, weiter. An der Hütte auf 1800 Metern angekommen, erstmal aufs Dach, den Schornstein ausgraben. Dann wird der sonstige Schnee geräumt. Theoretisch. Praktisch lassen wir‘s einfach bleiben, weil die Wehen uns überfordern. Also die Schneewehen. Immerhin kriegen wir die Tür auf. Alle Systeme intakt. Lebende Stubenfliegen sagen Griaß Enk. Wie haben die hier überlebt? 
Ich kredenze Schupfnudeln mit Kraut, Dörrobst, Chorizo und Spekulatiuscreme, und dann sind wir eigentlich bis zum Abend im Wesentlichen mit Essen, Klönschnack und dem Hüten der beiden Holzöfen beschäftigt. Abschweifen sollte man nie länger als eine Viertelstunde, sonst drohen die Feuer auszugehen. 
Der Wert der Wärme wird einem hier klar. Und was für eine Revolution es gewesen sein muss, als Holz durch Kohle ersetzt wurde: Der Heizer, zumeist war dies ja eine Frau, gewann viel Zeit und persönliche Freiheit, weil sie nicht mehr gar so strikt an den Ofen gebunden war. Und plötzlich hatte sie nicht mehr permanent Holzsplitter in den Händen stecken.
Etwas sonderbar: Da geht man „raus in die Natur", um dann dorten nach Möglichkeit drin zu bleiben, bei 25 Grad Raumtemperatur. Damit sich die Heizarbeit auch lohnt. 

So. Es ist 7:28. Lehre der Nacht: Meine Zwillinge schnarchen nicht. Alles ist mucksmäuschenstill, zusätzlich verstillert durch die Schneefracht auf dem Dach. Jetzt muss ich mich um die Öfen kümmern. Raus aus den Federn, rein ins Werdertrikot. Gleich geht die Sonne auf. 



The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

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