Mai 2018. Neue Sendung, aus einer Schnapsidee entstanden: Norddeutsche Kurbäder, die ich gemeinsam mit Schaubuden-Titan Carlo von Thiedemann besuche. Der NDR hat drei Sendungen in Auftrag gegeben, und der erste Drehort ist Malente. Als ich dies erfuhr, kamen mir sogleich die 16 summits in den Sinn; quasi routinehalber ließ ich meine kommot-App den Weg vom Hotel zum Bungsberg berechnen. Und siehe da: Machbar! Also einen Flug früher angereist, mit leichter Verkomplizierung, da die Lufthansa seit drei Wochen nur noch verpackte Klappräder transportiert, ich aber mal wieder kein Futeral dabeihabe. Also lasse ich mein Faltrad blistern - ein unerwartet spannender Sehgenuss, da die Wickelmaschine an eine Spinne erinnerte, die ihr Opfer einwickelt.
Nach Flug und Transfer in Malente angekommen, schlage ich mir einen Backfisch hinter die Kiemen, ehe ich die Folie vom Rad reiße, dieses entfalte und am wunderhübschen Kellersee entlang durchs frühlingshafte Blö drömele. Nüchel heisst das Örtchen, für das ich nach einer halben Stunde die L178 verlasse, und die Landschaft knittert. Nicht nur kleine Eselsöhrchen, sondern veritabler Faltenwurf. Weite Schwünge, Koppen, Täler, ein Relief wie bei den Teletubbies. Kein Zweifel: Ich nähere mich dem Alpenhauptkamm der Holsteinischen Schweiz. Im kleinen Gang arbeite ich mich hinauf zum Gut Kirchmühl, dann parke ich mein Rad und rüste mich zum Gipfelsturm (heisst: Schuhe zubinden).
Auf eher subalpinem Trail gehe ich steigungsarm zum gut erkennbaren Doppelgipfel: Einerseits ist da eine bewaldete Kuppe, zwischen deren Bäumen mehrere Bauten erahnbar sind, zum anderen eine freie Wiese, auf der ein Granitblock, aufgestellt von der dänischen Landvermessungsbehörde im Jahre 1838, den höchsten Punkt markiert, nämlich 168 Meter über N.N.
Doch gemach. Zunächst betrete ich den höchsten Hain Schleswig-Holsteins, an dessen Zuweg ich eine sonderbare Skulptur passieren. Was ist das? Ein Hünengrab? Grübelgrübel...
So ähnlich. Eine Plakette weist das Gebilde als Kletterfelsen nach Industrienorm EN 1176 aus, erbaut in Cottbus, Projekt-Nummer
2013-09-93. Das Innere der Konstruktion taugt auch als Unterstand, urteile ich fachmännisch, bin erfüllt vom Gefühl, ein Meisterwerk brandenburgischer Freizeitarchitektur kennengelernt zu haben, und denke an Helmut Kohl, der von Deutschland als einem „Freizeitpark" sprach, womit er zum Ausdruck bringen wollte, dass emsiges Arbeiten nicht mehr so recht unser Ding sei.
50 Meter weiter betrete ich das eigentliche Gipfelplateau, auf dem sich Kultbauten aus gleich mehreren Epochen besichtigen lassen: Der Elisabethturm (erbaut vom Oldenburgischen Großherzig 1884 - quasi „unser" Beitrag), dann die Gastwirtschaft „Waldschänke", der Kleinkinderspielplatz, fein säuberlich getrennt vom Kinderspielplatz, die Logistikgebäude der Stiftung, die sich um die Versiegelung, äh, Attraktivisierung des Bungsberges bemüht, dann das Stiftungsgebäude selbst („Wenn‘s um Geld geht: Sparkasse"), ein „moderner" Fernsehturm mit Aussichtsplattform (bei guter Sicht Blick auf die Ostsee), eine „Gletscherrinne", ein „Besiedelungsplatz", und, gleichsam als Open-Air-Foyer dieser Kultstätte: der Parkplatz.
Wer wird hier angebetet? Der Gott der Zerstreuung, dessen Heilige die Mainzelmännchen sind, der Zonk, das Sandmännchen? Sein „Großer Gott wir loben Dich" ist die Tagesschau-Melodie, der SAT-1-Ball eine seiner Ikonen. Ja, Funk und Fernsehen sind hier vertreten, mit einem in seiner Vielfalt weltweit einzigartigen Ensemble unterschiedlicher Sendeanlagen. Sogar der Elisabetturm diente zwischen 1954 und 1960 als UKW-Sendeanlage. Der Bungsberg hat eine Mission, er atmet Sendungsbewusstsein.
Aber der Bungsberg ist eben nicht nur Kultstätte der Television, sondern auch des konkret-körperlichen Vergnügens. Auf dem Bungsberg befindet sich Schleswig-Holsteins einziges und Deutschlands nördlichstes Skigebiet. Wenn die Schneelage es zulässt, bietet der Nordosthang Mehrere Abfahrten, die in allen Varianten nach circa 25 Sekunden enden. 1970 wurde der 500 m lange Schlepplift installiert, eine Investition, die sich ob der konkurrenzlosen Schneesicherheit des Bungsbergs bereits nach wenigen Wintern amortisiert hatte. Hoppla; jetzt habe ich mich kurz von meiner Phantasie davontragen lassen. Pardon. Nein, ohne Witz: Rekordwinter war die Skisaison 2009/10 mit 54 Lifttagen. Immerhin.
In internationalen Skigebiets-Test-Magazinen schneidet der Bungsberg zumeist deutlich hinter Lech, Zürs und Cortina d’Ampezzo ab. Mit einer Bewerbung um die Ausrichtung olympischer Winterspiele konnte man sich bisher nicht gegen die starke Konkurrenz durchsetzen. Obwohl ich‘s toll fände. Dann würde sogar ich wieder Olympia gucken. Die hiesige Sendelogistik erfüllt schon mal allen denkbare Erwartungen, zugebaut ist eh alles, und bei Schneemangel lässt sich auf Ersatzdisziplinen wie Hünengrabklettern ausweichen.
Am Gipfelstein lungern zwei Halbstarke mit Ghettoblaster herum, trinken Schlüpferstürmer und hören Piff Diddy. Als ich mich nähere, drehen sie artig am Volumenknopf, und der Rap ebbt ab. Ich bitte sie, mich auf dem Stein stehend zu fotografieren, eine Bitte, der sie beflissen nachkommen. „GM" bedeutet übrigens: „Gradmessung" - eine veraltete geodätische Methode zur Berechnung der Erdfigur.
Der Abstieg verläuft komplikationslos; ich erreiche wenige Minuten nach meinem Gipfelglück das wohlbehaltene Rad und rolle das Bungsbergmassiv hinab zurück nach Malente. 34 km Radtour hin und zurück. Und dann beginnt der Dreh.