Samstag, 18. Mai 2019

Deutsche Flüsse (35): Main




Teresa sang gestern in der Basilika Vierzehnheiligen bei Bad Staffelstein, und ich war als Babysitter dabei. Irgendwo in dieser Gegend müsste ich mal einen Optikerkongress moderiert haben, vor über einem Jahrzehnt, auf dem mir erstmals das Wort „Best-Ager“ begegnete. Aber davon abgesehen ist mir Oberfranken erfrischend neu. 

Die Basilika ist ein prächtiger Großbau mit leider derzeit eingerüsteter Fassade („Irgendwas ist ja immer“). Rokoko mal anders: Nicht leicht und blumig wie die Wies, sondern wuchtig und beige; alles ist aus dieses ockergelben Steintyp gemeißelt, den Frau von Welt von der Place des Vosges in Paris kennt. Von der anderen Seite des Maintales grüsst das kleiderschrankhafte Kloster Banz, gleicher Stein, heute nicht mehr in der Obhut der Benediktiner, sondern der CSU via Hanns-Seidel-Stiftung. Die Vierzehnheiligen erreichen wir, also der vorm Bauch in der Trage sitzende Theo und ich, über eine schmale, gleichmässig ansteigende Allee, während Teresa zur Probe im Taxi voraus gefahren ist. Fischfilet (es ist Freitag) in der Gaststätte mit Pilgerstübala. Es gibt geschmackvoll etikettiertes Pilgerbier, und ich erwäge, mir ein Sixpack in den heimischen Lehnstuhl mitzunehmen. Ist dann aber doch zu unhandlich. Der Platz neben der Kirche bietet einen Wahnsinnspanorama - wenn man sich mindestens die martialische Fabrik sowie den halbfernen Kirchturm aus den 50ern wegdenkt. Im Gotteshaus stösst der Blick zunächst auf den verwirrenden, die vierzehn Nothelfer darstellenden Spezialaltar in der Raummitte. 


Schon frappierend, welch weitgehende künstlerische Freiheit man als Rokoko-Architekt genoss. Bei den Vierzehnheiligen handelt es sich fast ausnahmslos um Märtyrer des 12.-14. Jahrhunderts, die in misslichen Lebenslagen helfen, etwa Blasius bei Halsschmerzen. Ins Auge springt sogleich ein Best-Ager, dem wohl der Kopf abgesäbelt wurde (Name vergessen). Und jetzt steht er da und hört, den eigenen Döz in beiden Händen, meiner Frau zu, wie sie Schuberts „Ave Maria“ anstimmt. Das habe ich neulich auch mal mit ihr öffentlich aufgeführt, nämlich als Klavierbegleiter beim 110. Geburtstag von Schwester Konrada, der ältesten Ordensschwester der Welt (letzte Woche verstorben). Heute mit Orgel. Ausserdem singt Teresa Händels „He shall feed his flock“ und Mozarts „Laudate Dominum“. Die große Kirche ist brechend voll (600 Zuhörer?), und Theo singt, quietscht, juchzt begeistert mit. Nachdem wir gar zu viele Blicke auf uns ziehen, gehe ich nach draußen und studiere die Auslagen der Devotionaliengeschäfte. Dicke Kerzen, Ammoniten, Gebetbücher. Ich kaufe ein Heft mit „Nothelfer-Liedern“ für meine Gesangsbücher-Sammlung. Dann übe ich mit Theo Krabbeln am Hang. Meine Frau kommt bestens an; gut möglich, dass wir diesen bezircenden Ort in Zukunft noch häufiger besuchen werden. Und so studiere ich denn auch neugierig ein Aufnahmeformular für die Bruderschaft der Vierzehnheiligen, finde die Idee, sich einem solchen Club anzuschließen, denn aber doch allzu schräg - vom zeitlichen Aufwand mal ganz abgesehen. Beten kann man ja auch daheim im Lehnstuhl, zur Not sogar ohne Bier.

Nach Schlussapplaus im gestreckten Galopp zum Interregio heimwärts. 





Donnerstag, 16. Mai 2019

Deutsche Flüsse (34): Saale


Halle 1987. Zu Besuch bei einem hageren, ernsten Tonsetzer alter Schule. Die ganze Familie saß beim Abendbrot, es gab scharfe Radieschen und Leberwurst, und ich äußerte meine Bewunderung der „Marktkirche zur Abendstunde“ von Lyonel Feininger, des wohl berühmtesten aller Halle-Bilder. Dann drehte das Gespräch Richtung Politik; ich berichtete, dass wir uns im Fach Gesellschaftskunde am westdeutschen Gymnasium einem „Systemvergleich BRD-DDR“ gewidmet hätten, mit der Schlussfolgerung, dass die DDR sich durchaus Demokratie nennen dürfe, und zwar auf der Grundlage des Rousseauschen Begriffs der „Identitätsdemokratie“. Beiläufig steckte ich mir ein Radieschen in den Mund. Mein Gastgeber sprang auf, und augenblicklich stieg ihm die Farbe des Gemüses ins Gesicht. In der DDR, so fauchte er mit knisternder Stimme, sei „alles gelogen“: Es gäbe keine Herrschaft des Volkes, sondern nur die Herrschaft einer Partei, und auch die „Res Publica“ sei barer Etikettenschwindel: In einer Republik sei das Staatsvolk die Quelle der Souveränität, und auch hier gelte: Pustekuchen! Die hiesigen Bürger seien Beute der SED! 

Ich beherbergte derweil das unversehrte Radieschen in der Backentasche und schämte mich, dass ich den Lehrstoff nicht gründlicher hinterfragt hatte. 

Die Frau des Komponisten und seine halbwüchsigen Töchter blickten betreten auf die Tischplatte. Dann biss ich ich in das Rübchen. Es knackte unangenehm laut, und anschließend hörte man nur noch das Quietschen der Strassenbahn überm sachten Glucksen der Saale. 

Deutsche Flüsse (33): Oos



Als Coltrane beim Südwestfunk 

„My Favorite Things” einspielte, 

glitten Wildgänse mit Monden

auf den Flügeln zum Merkur. 

Cremefarbene Ponys galoppierten 

durchs Casino, und die Müllabfuhr 

hatte sich einstweilen nicht um 

braunes Packpapier zu kümmern. 

Rosenregen ließen schnurrbärtige 

Kätzchen wimmern. Türklinken und 

Schlittenglocken fielen sanft wie 

Neuschneeflocken auf die Wimpern 

jener Mädchen, die in weißen Kleidern 

an der Oos entlang spazierten, 

in den wollbeschuhten Händen 

Nudelschnitzel und pürierten 

Apfelstrudel. Und im Friedrichsbad, 

an der alten Kupferkessel Sinter,

schmolz zu Coltranes Saxofon 

der silberweiße Winter.


Coltrane in Baden-Baden

Mittwoch, 15. Mai 2019

Deutsche Flüsse (32): Halblech



„Die Wilderer vom Krottenkopf“ - so heißt ein frühes Meisterwerk des großen Tommy Krappweis, an dem ich nicht unmaßgeblich mitwirkte. 

1997 war ich an den Fuß des Auerbergs gezogen, nach Bernbeuren, genau an der Grenze zwischen Oberbayern und Ostallgäu. Der erste Sommer in dieser mir als Norddeutschem eher fremden Landschaft war ein aufregendes Abenteuer: Jeden Tag entdeckte ich neue Idyllen, Malerwinkel, Merkwürdigkeiten. Ein Platz, der mich sofort in jeder Hinsicht überzeugte, befindet sich zwischen den Ortschaften Prem und Halblech, am gleichnamigen Nebenfluss des Lech, just da, wo Soldaten der Bundeswehr das Abseilen von Felswänden, Frieren im Eiswasser und ähnliche Zeitvertreibe erlernen. Eine breite Schotterflur lädt zum Steinmandlbau ein, man kann die flachen Kiesel aber auch auf der Wasseroberfläche tanzen lassen, oder man aalt sich an heißen Tagen in den Gumpen des kalten Gebirgsflusses. Tommy war begeistert von der Wildheit der freien Flur, und das, was an Utensilien im von Kameramann Matthias Edlinger eher spontan gedrehten Filmchen zu sehen ist, spielt vor allem deshalb mit, weil es zufällig zugegen war: Brot, Bier und Wurst - womöglich splatterten wir unseren Proviant. Tracht trägt Tommy sowieso jeden Tag, lebenslang. Ich hingegen, na ja, eher schubweise, damals allerdings mit Begeisterung. Die Gewehre dürfte ich beigesteuert haben; sowas liegt bei mir unterm Bett.

Matthias Edlinger ist mittlerweile unter die Künstler gegangen, hat gerade eine sehenswerte Ausstellung im Münchener Üblacker-Haus: „It’s a cardboard life“ feiert Verpackungskartonagen und lässt einen das Amazonzeitalter neu begrübeln. Tommy Krappweis macht weiter wie eh und je: Seine Firma, die „Bummfilm“, dient ihm als Labor für schräge Ideen, unter denen sich in den vergangenen Jahrzehnten einige zu Hits, ja, zu Evergreens entwickelt haben, etwa „Bernd das Brot“, „Mara und der Feuerbringer“ oder, ganz aktuell, die Hörspielreihe „Ghostsitter“. Unter allen Firmen, die ich in der Zerstreuungsbranche kennengelernt habe, ist die „Bummfilm“ die sonderbarste: Gegründet eigentlich von einer Clique Super-8-filmbegeisterter, latent pyromaner Realschüler, hält sie seit 25 Jahren gegen alle Gesetze der Betriebswirtschaft durch, als echtes Familienunternehmen. Tommys Bruder Nico ist auch dabei, und Vater Werner schwebt nunmehr als guter Geist über uns allen, nachdem er bei seiner Leidenschaft, dem Rennradfahren, einigermaßen betagt tödlich verunglückte. Ja, ich ich bin stolz, ebenfalls Teilhaber der Bummfilm zu sein.

Wie so vieles verdankt die Menschheit auch die Kombination aus Heimatfilm und Kung-Fu-Farce einem Fluss, nämlich dem Halblech. Und jetzt: Vorhang auf!

Film gucken

Dienstag, 14. Mai 2019

Deutsche Flüsse (31): Knatter



Jetzt ist die Zeit, in der die Erpel ernst machen und jede Ente besteigen, die im Wege steht. 

Zwei halten fest, einer springt drauf. Vergewaltigung als Normalfall. Nein hat sie nicht gesagt, Herr Richter, nur ein leises Quak. Und das kann ja alles bedeuten. 

Wie komme ich jetzt auf Kyritz an der Knatter? Da bin ich mal nachts durchgeradelt, auf der B5, und ein Fuchs verfolgte mich. Ja, gerade so, als sei ich Ente und er Erpel. Höchst sonderbar. Ich fuhr links, er mir nach. Ich rechts, er hinterher. Irgendwann bekam ich‘s mit der Angst und sprintete davon. Ich meinte in dieser Nacht auch die Knatter überquert zu haben, aber später erfuhr ich, dass es die Knatter in der sogenannten Wirklichkeit gar nicht gibt.

Kyritz wurde von Ernst H. Hilbich besungen, in seinem berühmten Karnevalsschlager „Heut’ ist Karneval in Kyritz an der Knatter“. In einem Interview verriet Hilbich unlängst, dass es in dem Lied ursprünglich um Knieritz ging, einen fiktiven Ort jwd. Bald wurde aus Knieritz Kyritz, wohl, weil sich’s leichter singen lässt. Und heute, Jahrzehnte später, gibt es weiterhin Postkarten, denen zufolge Kyritz an der Knatter liegt, und nicht am Untersee. Die Dosse ist auch nicht weit, die Jäglitz und das Kyritzer Königsfließ. Aber keine Knatter (höchstens womöglich ein in früheren Zeiten knatternde Wassermühlen antreibendes, heute verrohrtes Rinnsal ohne geografische Relevanz). So. Und nachdem wir uns dies hiermit einmal klargemacht haben, vergessen wir die Sachlage einfach wieder und machen mit der schnöden Realität, was die Erpel derzeit mit den Enten veranstalten. 

Die Knatter? Klar gibt’s die. Ich kann sie sogar limnologisch präzise beschreiben: Im Oberlauf Köcherfliegenlarven, bei Kyritz Plötzen und Schleien, in den Altarmen Entengrütze. Und beim ersten Morgenorange rolle ich über die Brücke, Ernst H. Hilbich hinterher, angeschickert, im Fuchskostüm. 




Montag, 13. Mai 2019

Deutsche Flüsse (30): Etsch



Ich hatte noch eine Rechnung offen: 

Vor zehn Jahren radelte ich mit meinem Sohn Cyprian von unserem Wohnort Bernbeuren zum Campingplatz nach Utting am Ammersee, um dort ein paar nette Tage im Zelt zu verbringen. Die Anreise ging in die Familiengeschichte ein. Ich fuhr auf meinem Rennrad, Cyprian auf seinem Kinder-Mountainbike. Nur letzteres war mit einem Gepäckträger versehen, auf dem die Campingausrüstung transportiert werden konnte. Folge: Der Zehnjährige wuchtete das schwere Gepäck die Hügel hinauf, ich rollte aufreizend anstrengungslos hinterher. Schon nach halber Wegstrecke war Cyprian fix und fertig, und ich schmetterte schmunzelnd Durchhalteparolen. Passanten schüttelten mit dem Kopf ob dieses schiefen Bildes. Was war das? Eine Strafmaßnahme? Kinderarbeit? 

Längere Radtouren hat Cyprian anschließend nie wieder unternommen - bis jetzt. Nach der letzten Vorlesung fuhren wir am Freitagnachmittag von seinem Studienort Landeck am Inn entlang zum Schweizer Zollamt Martina, dann die Norbertshöhe hinauf nach Nauders und weiter zum Reschenpass. Ehrensache, dass diesmal ich das gesamte Gepäck transportierte, unter anderem, grusel, seinen uralten Bayern-München-Rucksack. 

Am Heidersee übernachteten wir, am nächsten Tag rollten wir einträchtig auf dem Uferdamm der Etsch bis nach Salurn, an die Sprachgrenze, am dritten schließlich nach Rovereto und weiter zum Gardasee. Höhepunkt: Spargelpizza in einem verregneten Tennisclub nahe Bozen. Schmeckt nicht so abstrus, wie man vermuten könnte. 

Quit. 

Ja, ist denn die Etsch überhaupt ein „deutscher Fluss“? Nun ja; jedenfalls nicht weniger als der Rio Grande, wenn Karl May seine Helden durch dessen Täler reiten lässt. 




Samstag, 11. Mai 2019

Deutsche Flüsse (29): Pegnitz



Im Traum nahm ich an einem Schwimmwettbewerb teil. Für diesen hatte man die Innenstadt von Nürnberg hüfthoch mit Wasser geflutet. Ich kraulte mit geschlossenen Augen und liess mich von hunderten Schaulustigen anfeuern, kämpfte mich durch ein ausgeprägtes Flachstück, bei dem man eher krabbelte als kraulte, dann ging es über eine lange Freitreppe gegen die Strömung in ein Gebäude, das an das römische Pantheon erinnerte. Neben mir schien es noch einen weiteren Sportsmann im Wasser zu geben; erst auf dem Siegerpodest erfuhr ich, dass es sich um Otto Steiner handelte, den Produzenten von „Shopping Queen“ und „Genial Daneben“. Großes Hallo. „Du auch hier? Na sowas!“ Dann legte mir Papst Benedikt XVI. einen Ölzweig aufs Haupt und liess sich von Otto anwerben. Zu „Genial Daneben - das Quiz“ mochte er nicht, wohl aber zu „Shopping Queen“, was mich heimlich kränkte. 

The biggest Arztroman ever

Willkommen in meinem neuen Tagebuch („Post-Coronik“), das sich womöglich auch in diesem virtuellen Gewölbekeller vornehmlich mit Corona befa...

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