Ich komme in jedem Fall an! Dies deklamiere ich innerlich nachts um halb drei, nachdem ich plötzlich ohne Anlauf hellwach bin. Ich komme an, weil ich ja notfalls die Holzschuhe ausziehen und tragen kann. Tragestrecken gibt es ja auch bei Radrennen, also mitnichten eine Schummelei. Mit diesem Gedanken steht mein Entschluss fest: Ich werde jetzt aufstehen und das Ding durchziehen. „Das Ding" ist der von mir langerträumte, viel begrübelte Holzschuhmarathon.
Meine formidablen blauen Klompen sind jene Schuhe, die ich am längsten in Gebrauch habe, und ihr Erwerb liegt zu lange zurück, als dass ich mich dran erinnern könnte. Vielleicht zu RTL-Samstag-Nacht-Zeiten, vielleicht etwas später, als ich ins Allgäu zog und die Gartenarbeit robuste Treter erforderte.
Meine Holzschuhe passen mir prima - jedenfalls im Alltag. Für den sportlichen Einsatz sind sie nur unter gewissen Bedingungen geeignet: Der erste Testlauf, frischfrommfröhlichfrei im gewohnten Trainingstempo von etwas über 6 min pro Kilometer absolviert, endete schon nach einer halben Stunde in einem buchstäblichen Blutbad, dem eine wochenlange Regeneration folgte. Die weiteren Tests absolvierte ich mit stark verlangsamtem Tempo, quasi im Schongang, experimentierte mit verschiedenen Socken/Einlage-Kombinationen und kam der Sache so näher.
Allerdings: Nach 10 km begann es bei jedem Testlauf irgendwo zu drücken, mal unterseits, mal am Spann, mal aussen oder an den Zehen. Man konnte lediglich Einfluss darauf nehmen, wo der Fuss zuerst schmerzte, und auf Erfahrungen jenseits der 12 km- Marke verzichtete ich in Gänze - vielleicht, weil mich allzu geschundene Füsse demotiviert hätten. Überhaupt beließ ich es bei wenigen Vorbereitungsläufen. Gewisse Vorhaben lassen sich eben nicht vorbereiten, zumal man Holzschuhe - im Gegensatz zum gemeinen Joggingschuh - kaum „einlaufen" kann.
Also raus aus den Federn, einen Kaffee und das Hand, äh, Fusswerkszeug präpariert: In die Treter platziere ich sehr dünne Ledersohlen, unterseits mit Kork beschichtet, und als Socken wähle ich sehr enge Tourenskistrümpfe. Als „Innenschuh" soll ein Wollsockenpaar dienen, das die Spezialstrickerin Heike Zucker angefertigt hat, unterseits mit einem dünnen Latexanstrich rutschfest gemacht. Eine volle Packung Blasenpflaster packe ich in die Jacke, zwei Trinkflaschen ins Radtrikot. Strohhut. Soll ja warm werden. Drei Riegel, ein Apfel.
Start um 3.30. Auf nach Düsseldorf! Los gehts am Hotel Savoy in Köln, beim Hauptbahnhof. Drehe gerade „Genial Daneben - Das Quiz, und sonntags ist frei. Ich pette nordwärts, passiere junge Feierbiester im Eigelstein-Viertel. Zoo. Amsterdamer Strasse. Ich klappere mich nach Norden. Früher klapperten die Klompen schlimmer, da hätte ich die ganze Nachbarschaft geweckt. Dann ließ ich beim Schuhmacher Sohlen unterkleben, sündhaft teuer, aber wirksam. Gehe ich zu schnell, zu langsam? Ist es evtl. schlau, nicht gar so langsam zu schreiten, um die Füsse dem Wahnsinn nicht allzu lange auszusetzen? Nein, wahrscheinlich kann ich gar nicht langsam genug gehen. Offene Wunden und Stressfrakturen könnten einen Abbruch erzwingen, und beides lässt sich nur vermeiden, wenn ich meine Füsse mit Samthandschuhen anfasse, um das denkbar unpassendste Bild zu bemühen.
Niehler Hafen, blaue Stunde. Ich genieße den gut sortierten Morgenhimmel und sage mir etwas oberlehrerhaft, dass es auch heute nicht nur um den Sport gehe, sondern auch um die Schönheit der Schöpfung. Gut Holz!
Fordwerke. Merkenich. Die Bäckerei hat noch zu, und so esse ich einen Riegel, trinke Wasser und horche in meine Haxen hinein. Ja, da ist bereits etwas, nach kaum 10 km. Mittig unterm linken Ballen. Rechts auch, oben am Spann, aber das ist „normal", wie ich von meinen Vorbereitungsläufen weiss. Testhalber schlüpfe ich aus den Schuhen und gehe ein paar Meter sockfuss. Oho, das verschafft Abwechslung und fühlt sich angenehm gesund an. Werde ich drauf zurückkommen, später, wenn dem Fuss danach ist. Unter der Leverkusener Autobahnbrücke hindurch laufe ich auf der alten Römerstrasse. Mein Ziel: Möglichst genau vorm Düsseldorfer Hauptbahnhof 42.195 km auf der Uhr haben, den Marathon vollenden, rein in den nächsten Zug und zurück nach Köln.
14 km sind rum, also ein Drittel. Terra incognita, so weit hab ich’s noch nie gebracht. Oder besser: Lignum Incognitum - unbekanntes Holz.
Es ist hell, der Weizen reif. Zeit für ein Porträtfoto meiner Klompen. Wer weiß, ob ich das Bein nachher noch zum Posieren hochschwingen will.
Die Apollo-Mission wagte sich auf den Mond, meine Lignum-Mission führt mich ins Eingemachte. Grundlagenforschung, genau wie bei der NASA, nur, dass meine beiden Raumschiffe bedeutend billiger sind. Von „giant leap for mankind" kann natürlich in meinem Falle keine Rede sein, und meine steps noch kleiner als die Neil Armstrongs. Kann damit zu tun haben, dass meine Klompen nicht maßgeschneidert sind wie die seinigen.
Aua. Vor allem links scheint sich ein ernsthaftes Problem anzubahnen. Was entsteht da? Eine riesige Blase, vom Zehengrund bis in die Mitte des Fußballens? Die immer deutlicheren Kontakte der breitesten Fußpartie mit dem Holz sind vergleichsweise unwichtig. Seltsam vor allem, dass sich die Blase, oder was immer da entsteht, nur am linken Fuss spürbar ist. Bin ich denn dermaßen asymmetrisch? Bang steige ich aus den Galoschen und laufe noch ein paar Meter sockfuß. Dormagen liegt vor, das Bayerwerk neben mir; ich humpele an die Halbmarathonmarke. Etwas blass registriere ich, dass mir das Sockfußlaufen keineswegs hilft, weil ja das Auftreten ohne Schuh umso weher tut. Nun ja; keiner hat gesagt, dass dies eine Wellness-Wanderung werden würde. Schuhe wieder an und weiter.
Auf dem Rheindamm kurz vor Zons, nach 24 km, mache ich erneut Halt, entkleide mühsam den linken Fuß und will Blasenpflaster aufkleben. Aber wo? Ich kann keinen Schaden erkennen. Überhaupt sieht der Fuss unerwartet gut aus. Kaum Rötungen. Ich klebe ein Pflaster aufs Geratewohl in die Ballenmitte und humpele weiter. Alles wir vorher. Es zieht zu. Was, wenn es regnet und das Wasser in die Schuhe fliesst? Haut und Nägel könnten aufweichen und Schaden nehmen. Bitte nicht.
Um 9 Uhr geht die erste Fähre von Zons nach Urdenbach übern Rhein. Kurzes Warten. Ich bitte einen netten Radsportler aus Köln, mich zu fotografieren. Wo ich denn hinlaufe. „Nach Düsseldorf". „In die verbotene Stadt" schmunzelt er und deutet auf das Kreuzfahrtschiff, das nebenan festgemacht hat und dessen Passagiere gerade in Busse steigen. „Hier sind die Liegekosten viel kleiner als in Köln, darum legen die in Zons an". Interessant: Solange er doziert, tut der Fuß nicht weh. Wohl ein Ablenkungseffekt. Erzähl weiter!
Am rechten Rheinufer stapfe ich über sandige Trails zur Gaststätte „Rheinterrasse". Da war ich schon mal, vor drei Jahren, auch auf Wanderschaft. Die Chefin bringt mir das Gästebuch und erklärt meine Schuhe für zu klein. Sie jedenfalls trage größere, immer zum Erntedankfest, zwei Tage lang. Sie stecke immer eine Damenbinde zwischen Spann und Oberholz. Aber nach zwei Tagen seien ihre Füße trotzdem kaputt. Ob meine auch schon schmerzten? „Doch, doch..." Apfelkuchen, Cappuccino, Fotosession. Darf ich auch ein Foto? Und weiter geht’s.
Von wegen „Weiter geht‘s!" Wie der Glöckner von Notre Dame wuchte ich mich in die Bonner Strasse, um bald auf den Radweg abzubiegen, der mich laut Beschilderung in 8,6 km zum Hbf führen soll. Verdammt, die Schuhe scheinen immer enger zu werden. Von innen drückt alles gegen die Wände, die allerdings nicht nachgeben. In Punkto Flexibilität gibts fürwahr besseres bei Görtz & Co. Die Stelle unterm Ballen erinnert mittlerweile an einen Pfirsich, auf den man getreten und der darob zermatscht ist. Allerdings befindet sich dieser Pfirsich innen, unter der Haut, und alles sträubt sich gegen Grundberührungen. Zumal sich diese Fuss-Frucht beim Auftritt heiß anfühlt. Kochobst. Die Folge kennt man vom hochsommerlichen Sandstrand: Man versucht unwillkürlich, auf den Fußkanten zu gehen, was die Klompen jedoch nicht mitmachen. Es wird gegangen, wie SIE wollen, nicht wie ich. Schon recht, alles freiwillig. Ich grinse konvulsiv und gebe Zischlaute von mir wie eine rheumageplagte Ringelnatter.
Heute mein typischer Gesichtsausdruck. Die Notre-Dame-Natter beisst die Zähne zusammen und ballt die Fäuste, vor allem links. Entspann dich, Wigald! Lockerlassen und den Schmerz weggrinsen! Klappt nicht. Wie weit ist es denn noch? Knappe fünf. Ich schaue jetzt oft aufs Handy, zähle die Kilometer herunter. Bei km 37 kommt beim Marathon ja gerne mal der Mann mit dem Hammer. Hier ist’s ein Holzhammer. Auf die Füße, Bastonade.
Mein Vater am Telefon: „Au weia! Als Kind trug ich immer Holzschuhe; da waren die Mauken manchmal in grauenhaftem Zustand". Wem sagst du das.
Auf dem Kreisverkehr zu Beginn der Himmelgeister Straße steht ein roter Fuss auf einem Betonsockel, eine Skulptur des Düsseldorfer Künstlers Till Hausmann. Verdeutlicht u.a. den Autofahrern, so lese ich im Internet, dass der Mensch sich auch anders fortbewegen kann als im Blechkokon, eigentlich sogar ganz ohne Schuhe. Heiliger Salamander, schön wär’s, murmele ich und frohlocke dabei ob des nahen Hauptbahnhofs.
Noch ein paar irre Blicke, linkisches Hinken über die Düssel, dann stehe ich mit mattem Wohlgefühl auf der Gustav-Adolf-Straße. Geschafft. 43 km in 9:03:49 Stunden. War schon mal zügiger unterwegs. Nein, mit Holzschuhen mache ich das nicht nochmal. Aber vielleicht mit Gummistiefeln? Skistiefeln? Man könnte eine Trilogie draus machen...
Einstweilen bin ich gespannt, wann ich wieder geschmeidig gehen kann. Bleibende Schäden, so vermute ich, werden jedoch nicht zurück bleiben.
„Well done! And now sit down and have a cup of tea"
P.S.: 24 h später. Nachdem ich noch gestern abend recht sicher war, linksseitig einen Ermüdungsbruch erlitten zu haben (Auftreten unmöglich, dabei keine sichtbaren Schäden), kann ich heute Entwarnung vermelden. Natürlich habe ich Spezialmuskelkater und ca. sechs marginale Hautreizungen, ansonsten: Alle Systeme intakt!